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Nahezu vier Jahre sind vergangen, seit die Republik Österreich der Europäischen Union beigetreten ist. Europa ist Alltag geworden. Nicht alle Hoffnungen, die mit dem EU-Beitritt verbunden worden
sind, haben sich ebenso glanzvoll erfüllt wie jene auf billiges Schlagobers und billige Ausreden, aber auch bei weitem nicht all jene Befürchtungen, die vor dem Beitritt geäußert worden sind, haben
sich bewahrheitet.
Schon dreieinhalb Jahre nach seinem Beitritt ist Österreich mit der Aufgabe, den Ratsvorsitz zu übernehmen, konfrontiert gewesen, und das zu Ende gehende Halbjahr ist · im Kräftehaushalt der
österreichischen Politik wie auch in der veröffentlichten Meinung · im Zeichen der EU-Präsidentschaft gestanden. Naturgemäß ist diese, der Struktur der Union als einer supranationalen Gemeinschaft,
deren Mirgliedstaaten auf Gemeinschaftsebene durch ihre Regierungen vertreten werden, entsprechend, primär eine Aufgabe, deren Erfüllung der österreichischen Bundesregierung zufiel, doch auch das
österreichische Parlament ist in vielfacher Hinsicht mitberührt · nicht nur, weil es seinen Arbeitsplan den Verpflichtungen der Präsidentschaft anpassen muß, sondern auch im Rahmen zahlreicher mehr
oder minder informeller bilateraler und multilateraler Kontakte, die im Verlauf dieses Halbjahrs wahrzunehmen gewesen sind, und zuletzt zweier "Großereignisse", die sich in Wien vollzogen haben:
Am 23. und 24. November hat in der Wiener Hofburg die XIX. Konferenz der Europaausschüsse der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Parlamente der
Beitrittswerberstaaten, im EU-Chinesisch kurz COSAC genannt, stattgefunden. Eine Woche später, am 1. Dezember, sind die Parlamentspräsidenten der EU-Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments zu
einem informellen Treffen im Parlamentsgebäude am Ring zusammengekommen.
Beide Konferenzen haben sich mit der Frage konfrontiert gesehen und die Frage diskutiert: Welche Rolle können die nationalen Parlamente in dem sich beschleunigenden und vertiefenden Prozeß der
europäischen Integration spielen? Welchen Beitrag können sie leisten zu einer Demokratisierung der EU, welcher so oft ein "Demokratiedefizit" nachgesagt wird, welchen Beitrag zu einer
institutionellen Reform, die im Hinblick auf die beabsichtigte Osterweiterung vordringlicher erscheint denn je?
Dahinter stehen jedoch weitere Fragen, denen sich der politische Diskurs zeitgerecht stellen muß, wenn die nationalen Parlamente nicht schleichend · gerade mit zunehmender Demokratisierung und
institutioneller Strukturverbesserung der EU · aus jenem Bereich der nationalen Verfassungsordnungen, den Walter Bagehot, der britische Verfassungstheoretiker des 19. Jahrhunderts, als "efficient
part of the constitution" bezeichnet hätte, in jenen Bereich, den er "dignified part of the constitution" genannt hätte, wandern sollen, also in den Bereich ehrwürdiger Institutionen, die zwar keine
Funktion mehr zu erfüllen haben, aber aus Respekt vor der Tradition oder aus mangelnder Konsequenz beibehalten werden.
Es handelt sich dabei um Fragen wie diese: Wenn, wie dies Jacques Delors, der frühere Präsident der Europäischen Kommission und mehr Visionär als sein Nachfolger in dieser Funktion, prophezeit hat,
zu Beginn des nächsten Jahrtausends tatsächlich 70 Prozent der Gesetzgebung europäische Gesetzgebung sein sollten, wie haben dann die nationalen Parlamente ihre Rolle zu definieren?
Welche Rolle sollen sie spielen zwischen europäischen Gesetzgebungsstrukturen, die dann vielleicht mehr demokratische Legitimation aufzuweisen haben als heute, und regionalen oder föderalen
Willensbildungsstrukturen, die noch "näher am Bürger" sind als die nationalen Parlamente und sich daher in zunehmenem Maße die Aufgabe zuschreiben mögen, direkt · ohne Mediatisierung durch die
nationale Ebene · gegenüber der europäischen Ebene die Bürgeranliegen zu artikulieren.
Zwischen einer in immer weitere Sachbereiche ausgreifenden Gesetzgebungskompetenz der Gemeinschaftsorgane und einem "Umsetzungs-" oder "Vollziehungsföderalismus", der das in der EU zunehmend
postulierte Prinzip der Subsidiarität so interpretieren will, daß in einem von der Gemeinschaft vorgegebenen rechtlichen Rahmen zumindest die Ausführung im Detail · auf generell-abstrakter wie
individuell-konkreter Ebene · der untersten regionalen Ebene überlassen bleiben soll?
Rolle der nationalen Parlamente
Die Frage nach der Rolle der nationalen Parlamente in einem sich weiter integrierenden Europa erscheint damit aufs engste verknüpft mit der Frage: Welche Rolle wird dem Staat im zukünftigen Europa
zufallen? Dem auf dem Konzept der Souveränität gebauten und auf dieses Konzept, wie es dem staatsphysikalischen Trägheitsgesetz entspricht, noch immer bauenden Staat, wie wir ihn kennen.
Einem Staat, dessen Selbstverständnis sich noch nicht allzu sehr von dem des Staates zu Beginn dieses Jahrhunderts unterscheidet, als die europäische Integration belächelte Vision schreibfreudiger
Utopisten gewesen ist, und nicht politische Realität.
Europäische Integration politische Realität
Daß die europäische Integration politische Realität geworden ist, ist nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen, daß sich das Konzept des souveränen Staates als ungeeignet erwiesen hat, eine
europäische Friedensordnung zu gewährleisten. Zwei Weltkriege, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts von Europa ihren Ausgang genommen haben, haben deutlich gemacht, daß supranationale
Strukturen notwendig sind, daß es nötig ist, den Staaten zumindest Teile ihrer Souveränität zu entziehen, um Mechanismen gewaltfreier Konfliktbewältigung zu schaffen.
Und was auf globaler Ebene bis heute nicht befriedigend gelungen ist · eben weil die Vereinten Nationen keine supranationale Organisation sind ·, das ist in jenem Teil Europas, der heute die
Europäische Union bildet, erfolgreich verwirklicht: die Ausschaltung struktureller wie aktueller Gewalt als Mittel zur Austragung von Konflikten.
Selbstverständnis und geschriebene Verfassungsordnung der europäischen Staaten haben diese fruchtbare teilweise Selbstentmündigung, der sie sich unterworfen haben, noch nicht dynamisch mitvollzogen.
Da wird auf die Rolle der Mitgliedstaaten als der "Herren der Verträge" verwiesen, da wird am Einstimmigkeitsprinzip im Rat in noch immer vielen Sachbereichen festgehalten, da wird hier und da sogar
der Eindruck vermittelt, als ob ein Austritt aus der Gemeinschaft ein einsetzbares politisches Mittel darstellte.
Wir sind dafür, weil wir dagegen sind
Was damit suggeriert wird, dieses "Wir sind dabei, aber doch nicht so ganz" oder im Extremfall "Wie sind dabei, weil wir drinnen besser dagegen sein können als draußen" (Kurzfassung: "Wir sind
dafür, weil wir dagegen sind"), ist nicht geeignet, die Identifikation der europäischen Bürgerinnen und Bürger mit Europa zu stärken; eher wird damit den allerorten noch immer anzutreffenden Ängsten
Vorschub geleistet.
Die Eigendynamik, welche die europäische Integration entwickelt hat und welche durch die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion eine irreversible Verstärkung erfahren wird, kann damit nicht
allzu sehr gedämpft werden. Rückzugsgefechte des alten Selbstverständnisses des souveränen Staates mögen allenfalls verhindern oder hoffentlich nur verzögern, daß alle politische Kreativität auf eine
demokratische und bürgernahe, aber auch effiziente Neugestaltung der politischen Strukturen Europas konzentriert wird, wie sie am Beginn des neuen Jahrtausends nötig wäre.
Zur Beantwortung der Frage, welche Rolle dem Einzelstaat und dem nationalen Parlament in einem solcherart politisch neustrukturierten Europa zukommen könnte, kann hier kein Beitrag geleistet werden.
Da jedoch in diesem wie in jedem Fall die Analyse des Ist-Zustandes die notwendige Voraussetzung für jedes Soll-Konzept ist, werden im folgenden die Auswirkungen des EU-Beitritts auf die Funktion des
österreichischen Parlaments skizziert, wie sie sich vier Jahre nach dem Beitritt darstellen · eine erste Zwischenbilanz, sozusagen.
Wenn das Bundes-Verfassungsgesetz in seinem Artikel 1 in Hans Kelsens klassischer Formulierung nach wie vor postuliert, das Recht der Republik Österreich gehe "vom Volke aus", dann gilt dies seit dem
1. Jänner 1995 nur noch für ein en Teil des in der Republik Österreich geltenden und anzuwendenden Rechts. Überall dort nämlich, wo nationales Recht in Widerspruch steht zu EU-Recht, wo also
österreichische Rechtsvorschriften, die nach dem in der Bundesverfassung grundgelegten repräsentativ-demokratischen Verfahrenzustandegekommen sind und in diesem Sinn "vom Volke" ausgehen,
gemeinschaftsrechtlichen Rechtsvorschriften widersprechen, sind seither die letzteren anzuwenden.
Änderung der Bundesverfassung gebilligt
Das in Österreich anzuwendende Recht geht daher in diesen Sachbereichen nur mehr insofern "vom Volke" aus, als das Volk in einer Volksabstimmung die mit dem EU-Beitritt verbundene Gesamtänderung
der Bundesverfassung und damit auch eben diesen Grundsatz des Vorrangs von Gemeinschaftsrecht vor nationalem Recht, der ebenso wie die diesbezüglich verbindliche und abschließende Gerichtsbarkeit
(durch den Europäischen Gerichtshof) eines der Wesen selemente der supranationalen Gemeinschaft darstellt, gebilligt hat.
Und der Umfang jener Sachbereiche, für welche dieser Grundsatz gilt, für welche also eine Rechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft nicht nur besteht, sondern auch wahrgenommen wird, nimmt immer mehr
zu. Längst schon umfaßter nicht mehrnur den Bereich der "vier Freiheiten", also des Wirtschaftsrechts, immer weiter reicht er hinein beispielsweise in Arbeits-, Gesundheits-, Verkehrs- oder
Umweltrecht. Mitte der 90er Jahre gingen Schätzungen davon aus, daß etwa 30 bis 40 Prozent der ursprünglich nationalen Gesetzgebung auf Gemeinschaftsebene verlagert seien. Exakte Zahlen gibt es
nicht, für ein "junges" Mitgliedsland wie Österreich umso weniger, als ein rechtsdogmatischer "Kassasturz" fehlt und selbst Gerichte und Verwaltungsbehörden in der Rechtsanwendung vielfach noch immer
nach der Methode des "trial and error" vorgehen.
Nun sind allerdings bei weitem nicht alle gemeinschaftsrechtlichen Rechtsvorschriften grundsätzlich unmittelbar anwendbar. Die Mehrzahl der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsvorschriftenbedarf der
einzelstaatlichen Umsetzung: Diese Methode der Erlassung von "Richtlinien" · wie diese Kategorie von Rechtsvorschriften nach dem EG-Vertrag genannt wird, hat schon immer dem erst im Vertrag von
Maastricht explizit verankerten Grundsatz der Subsidiaritätgedient; die Gemeinschaft gibt dementsprechend einen rechtlichen Rahmen vor, innerhalb dessen eine der jeweiligen nationalen Rechtsordnung
angepaßte Umsetzung erfolgt.
Kommission: Hüterin der Verträge
So weit Theorie und ursprüngliche Praxis. Seit einiger Zeit engen die Richtlinien freilich den inhaltlichen Gestaltungsspielraum der nationalen Rechtsetzungsorgane zumeist sehr stark ein, die
Kommission als "Hüterin der Verträge" äußert oft schon bei einzelnen terminologischen Abweichungen vom Wortlaut der Richtlinie Zweifel daran, ob diese vollständig und korrekt umgesetzt ist, und der
EuGH hat eine Rechtsprechung entwickelt, welche diese Praxis unterstützt. Der dem nationalen Parlament · wenn dieses nach der innerstaatlichen Verfassungsordnung zur Umsetzung berufen ist ·
verbleibende Spielraum, die Ziele der Richtlinie im Kontext der nationalen Rechtsordnung zu verwirklichen, wie dies die ursprüngliche Intention dieser Rechtsfigur gewesen ist, erscheint dann sehr
begrenzt.
Da eine Rückkehr zur ursprünglichen Rechtsetzungstechnik der "Rahmenrichtlinien" derzeit, allen sonntagspolitischen Beschwörungen der Subsidiarität zum Trotz, nicht absehbar ist, bedeutet dies einen
gravierenden Verlust der nationalen Parlamente an materieller Rechtsetzungskompetenz, einen wesentlich gravierenderen jedenfalls, als er sich aus einer Ausübung der gemeinschaftlichen
Rechtsetzungsbefugnisse in der Form von Rahmenrichtlinien ergeben würde.
Die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsvorschriften nun, gleich ob es sich etwa um direkt anwendbare Verordnungen oder um der Umsetzung bedürfende Richtlinienhandelt, kommen nach verschiedenen Verfahren
zustande · welches von ihnen jeweils anzuwenden ist, hängt im wesentlichen von der betroffenen Sachmaterie ab ·, die eines gemeinsam haben: daß die materielle Entscheidungskompetenz beim Rat liegt
und dem Europäischen Parlament nicht nur kein Initiativrecht zukommt, sondern vor allem nur unterschiedlich schwache Kompetenzen zur inhaltlichen Einflußnahme zustehen.
Im für das Europäische Parlament besten Fall, im Fall des durch den Vertrag von Maastricht neu geschaffenen Kodezisionsverfahrens, steht dem Parlament ein Vetorecht zu, was bedeutet, daß bei
Meinungsverschiedenheit zwischen Parlament und Rat ein Vermittlungsverfahren durchgeführt werden muß.
"Demokratiedefizit" der EU
Diese Tatsache der materiell nur schwach ausgebildeten parlamentarischen Dimension im europäischen Rechtsetzungsverfahren hat es üblich werden lassen, von einem "Demokratiedefizit" der EU zu
sprechen. Dies ist zwar insofern ungerecht, als ja auch die Regierungsvertreter, denen im Rat die gemeinschaftliche Willensbildungskompetenz primär zukommt, über eine indirekt demokratische
Legitimation in dem sie jeweils entsendenden Mitgliedstaat, dessen nationalem Parlament sie jeweils politisch verantwortlich sind, verfügen; dennoch erscheinen sie auf der europäischen Ebene in ihrer
Legitimation eben schon um eine Ebene mehr mediatisiert, und vor allem genügen die prozeduralen Randbedingungen der sich im Rat vollziehenden Willensbildungsvorgänge nicht jenen Grundsätzen der
Transparenz, die sich als Wesensmerkmal des demokratischen Parlamentarismus herausgebildet haben.
Überdies ist auf der europäischen Ebene von kritischen Beobachtern ein jeweils überproportionaler Einfluß technokratisch-bürokratischer und verbändepolitischer Momente auf die Willensbildung
konstatiert worden. Der Informationsvorsprung, über den die hochspezialisierte EU-Bürokratie zu den zu regelnden komplexen Materien verfügt, ebenso wie das mit großem Aufwand seitens verschiedener
Interessenvertretungen, aber auch Wirtschaftsunternehmen betriebene "Lobbying" führen zu einer oft weitgehenden inhaltlichen Vorprägung von Rechtsetzungsvorhaben.
Wollen die einzelstaatlichen Parlamente daher ihren materiellen Einfluß auf die Rechtsetzung in den der gemeinschaftlichen Rechtsetzungsbefugnis unterliegenden Sachbereichen nicht gänzlich einbüßen,
gilt es, lange bevor sie mit der Aufgabe der Umsetzung einer "fertigen" Richtlinie konfrontiert werden oder von der Beschlußfassung über eine direkt anwendbare Verordnung Kenntnis erhalten, auf der
Stufe der Teilhabe der einzelstaatlichen Organe am gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahren anzusetzen, also kurz um die Verhandlungs- und Abstimmungspositionen ihrer jeweiligen Regierungsvertreter
zu kontrollieren bzw. zu beeinflussen.
Dies setzt zunächst einmal Information darüber voraus, daß ein gemeinschaftlicher Rechtsakt vorbereitet wird. Schon die dem Vertrag von Maastricht angeschlossene Erklärung zur Rolle der
einzelstaatlichen Parlamente in der EU fordert die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, dafür Sorge zu tragen, daß die Parlamente rechtzeitig über Kommissionsvorschläge für Rechtsakte verfügen.
Unterrichtungsverpflichtung
In Österreich ist die Unterrichtungsverpflichtung der Bundesregierung gegenüber dem Nationalrat und dem Bundesrat durch die B-VG-Novelle 1994 auch in Art. 23e der Bundesverfassung verankert
worden. Nichts hingegen ist darüber ausgesagt, in welcher Form dieser Verpflichtung Genüge zu tun ist; die Regierungsstellen entledigen sich ihrer daher zumeist dadurch, daß sie alle einschlägigen
Dokumente unkommentiert an das Parlament weiterleiten, das damit vor der Schwierigkeit steht, aus dieser "Dokumentenflut" zunächst einmal das politisch relevante Material herauszufiltern. (In anderen
Mitgliedstaaten, wie etwa in Belgien oder Finnland, hat die Regierung Vorschläge bereits bei ihrer Zuleitung an das nationale Parlament zu kommentieren.)
Sisyphusarbeit
Welche Sisyphusarbeit die Filterung dieser "Dokumentenflut" darstellt, machen einige Zahlen deutlich: Im ersten Jahr der EU-Mitgliedschaft, 1995, sind allein 17.968 Dokumente unterschiedlichster
Art · von Kommissionsvorschlägen für Rechtsakte über Tagesordnungen für Sitzungen bis zu Berichten über Sitzungen · dem Parlament zugeleitet worden. Seit Beginn der XX. GP, also seit Anfang 1996,
waren es rund 58.000 Dokumente, was bedeutet, daß der Jahresdurchschnitt noch über dem Wert von 1995 liegt. Aber, wie schon Camus sagt: Man muß sich Sisyphus glücklich vorstellen...
Liegt die Information über ein Rechtsetzungsvorhaben einmal vor und ist dessen politische Relevanz festgestellt, geht es darum, das Verhalten der Regierungsvertreter zu diesem Vorhaben in den
Gemeinschaftsorganen, also insbesondere im Rat, zu beeinflussen. Da die Instrumente parlamentarischer Kontrolle der Vollziehung erst nachgängig wirksam werden können und die traditionellen Mittel
parlamentarischer Mitwirkung an der Vollziehung wie rechtlich unverbindliche Entschließungen für diesen spezifischen Zweck wenig geeignet erscheinen, stehen einzelnen Parlamenten wie dem deutschen
und dem dänischen dafür spezielle Instrumente zur Verfügung.
In Österreich sind die Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments an der Gestaltung der innerstaatlichen Willensbildung zu Vorhaben im Rahmen der EU besonders stark ausgeprägt. Gemäß den durch die B-VG-
Novelle 1994 in das Bundes-Verfassungsgesetz eingefügten Art. 23e und 23f sind in Angelegenheiten, die bundesgesetzlich zu regeln wären, die Mitglieder der Regierung an Stellungnahmen des
Nationalrates zu solchen Vorhaben · die grundsätzlich von dessen Hauptausschuß abzugeben sind · gebunden; ein Abweichen von einer solchen Stellungnahme ist nur nach neuerlicher Befassung des
Nationalrates und, wenn Bundesverfassungsrecht betroffen ist, nur dann zulässig, wenn der NR keinen Widerspruch erhebt. Schwächer ausgebildet ist das Stellungnahmerecht des Bundesrates.
Festlegung von Verhandlungspositionen
Bereits unmittelbar nach dem Beitritt zur EU begann der Nationalrat bzw. sein Hauptausschuß, von der Möglichkeit zur Festlegung von Verhandlungspositionen zu Vorhaben im Rahmen der EU intensiven
Gebrauch zu machen, was ihm seitens einzelner Regierungsmitglieder den Vorwurf zu weitgehender Einschränkung ihres Verhandlungsspielraums und mangelnder Flexibilität eintrug. So wurde von einem
Bundesminister beispielsweise kritisiert, daß er bei seinem Versuch einer neuerlichen Befassung des Nationalrates vor einem allfälligen Abweichen von einer Stellungnahme während einer nächtlichen
Verhandlungsrunde in Brüssel telephonisch im Wiener Parlament nur die Feuerwache erreicht hätte. (Da ihn dies nicht überrascht haben kann, kann diese Kritik nur dem Zweck der Untermauerung des
Arguments mangelnder Flexibilität gedient haben.)
War das erste Jahr der EU-Mitgliedschaft von besonders intensiver Beschäftigung des Hauptausschusses mit EU-Vorlagen geprägt, hat sich seither, wie Figur 1 zeigt, das Ausmaß dieser Beschäftigung auf
mittlerem Niveau eingependelt; in der Regel befaßt sich der Ausschuß einmal im Monat, die tagungsfreie Zeit ausgenommen, mit EU-Vorlagen.
Weitaus markanter ist der aus Figur 2 ersichtliche Rückgang der Zahl formeller Stellungnahmen zu Vorhaben im Rahmen der EU. Immer häufiger wird anstelle einer solchen formellen Stellungnahme mit
rechtlicher Bindungswirkung lediglich im Rahmen der Debatte im Hauptausschuß dem zuständigen Mitglied der Bundesregierung die jeweilige Haltung der Nationalratsfraktionen · bzw. der
Mehrheitsfraktionen · zu einem solchen Vorhaben in informeller Weise mit auf den Weg nach Brüssel gegeben, wo das betreffende Regierungsmitglied dann einen etwas größeren Verhandlungsspielraum hat
und dadurch in seiner gerade in der spezifischen Verhandlungskultur des Rates so wichtigen Kompromißfähigkeit nicht zu stark eingeschränkt ist. Der Bundesrat hat im übrigen von seinem
Stellungnahmerecht bisher keinen Gebrauch gemacht.
Mehr Fragen als Antworten
Die Auswirkungen des EU-Beitritts auf das österreichische Parlament sind damit natürlich nur ansatzweise und oberflächlich skizziert. In jedem Fall bleiben mehr Fragen als Antworten:
Wie kann sichergestellt werden, daß das Parlament die notwendigen Informationen über EU-Rechtsetzungsvorhaben nicht nur zeitgerecht und vollständig, sondern auch in einer Form erhält, die es in die
Lage versetzt, diese Informationen mit der ihm zur Verfügung stehenden Infrastruktur zu verarbeiten und zu bewerten; bzw. wie kann diese parlamentarische Informationsinfrastruktur im erforderlichen
Ausmaß verbessert werden?
Wie kann die Volksvertretung der Regierung in ihr wichtig erscheinenden Sachfragen jeweils ein klares Verhandlungsmandat erteilen, ohne daß dadurch die Verhandlungsposition in den
Gemeinschaftsorganen · etwa durch Offenlegung des Verhandlungsspielraums · geschwächt wird?
Wie kann ein demokratischer Mindeststandard · und dies bedeutet insbesondere: ein Mindeststandard an Transparenz · für das Verfahren der gemeinschaftlichen Willensbildung gefunden und festgelegt
werden?
Wie kann wieder ein materiell ausgewogenes Verhältnis zwischen grundsätzlichen gemeinschaftlichen Regelungen und nationaler Ausführungsgesetzgebung hergestellt und damit der viel beschworene Gedanke
der Subsidiarität verwirklicht werden? Wie kann aber auch sichergestellt werden, daß die nationalen Regierungen tatsächlich zu erfüllende Umsetzungsverpflichtungen nicht dazu nutzbar machen, um,
sozusagen "huckepack", andere Regelungsinhalte mit Umsetzungsmaßnahmen zu verknüpfen, in der Erwartung, daß ein an einem Informationsnachteil leidendes Parlament diese Inhalte en bloc mitübernimmt?
Welche Rolle können die bereits bestehenden interparlamentarischen Gremien wie COSAC und Parlamentspräsidentenkonferenz in der Stärkung der parlamentarisch-demokratischen Dimension der
Rechtsetzungsvorgänge in der EU spielen, und ist die Schaffung anderer interparlamentarischer Strukturen, wie sie angeregt worden ist, sinnvoll oder notwendig?
Fragen, von deren Beantwortung es nicht zuletzt abhängen wird, inwiefern der EU weiterhin ein "Demokratiedefizit" vorgeworfen werden kann, von deren Beantwortung daher auch die Akzeptanz der
supranationalen Gemeinschaft durch die Bürgerinnen und Bürger abhängen wird; Fragen somit, deren Beantwortung in den nächsten Jahren großes Augenmerk gelten sollte...Õ
Günther Schefbeck ist Leiter des Parlamentsarchivs
DEZEMBER 1998