Abgeordnete in nationalen Parlamenten werden zu Grüßaugusten. Sie erfüllen, was Regierungschefs außerhalb des EU-Parlaments beschlossen haben.
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Dauernd lese ich was über "Wutbürger", die mit der Politik - sei es hier oder anderswo - nicht (mehr) einverstanden seien. Mag schon sein. Ich, als Politiker, gerate bald in den Zustand des "Wutparlamentariers", der sich fragt, was ihn vom Grüßaugust noch unterscheidet.
Die typische Art der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene in den letzten zwei oder drei Jahren schaut so aus: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy (Letzterer heißt seit Sonntag François Hollande) gehen am Strand spazieren und machen sich was aus; was sie sich ausmachen, liest man dann in der "Financial Times". Die anderen Mitglieder des Europäischen Rats sind ebenso frustriert wie unsereins, wochenlang - mitunter monatelang - verhandeln sie mit Merkozy über die finale Vereinbarung. "Die Union hat beschlossen . . .", heißt es dann in den Medien.
Diese sogenannte intergouvernmentale Methode der Entscheidungsfindung ist auf Dauer der Tod der parlamentarischen Demokratie. Das Europäische Parlament wird ausgeschaltet, die Europäische Kommission zu einem Hilfssheriff des Rates degradiert, und die nationalen Parlamente dürfen sich anhören, "auf europäischer Ebene" sei XYZ so beschlossen und müsse jetzt so umgesetzt werden. Ist sich noch jemand bewusst, dass Vereinbarungen im Rat, mögen sie auch einstimmig sein, nur bedeuten können, dass die Kanzler/Minister sich dafür verwenden wollen, dass ihre jeweiligen Parlamente die Vereinbarung akzeptieren? Da möchte man doch frei nach Marx & Engels rufen: Parlamentarier aller Länder, vereinigt euch!
Inhaltlich ist natürlich keineswegs alles Unfug, was da in Brüssel und in den Räten ausgekocht wird. Der ESM, sozusagen der Nukleus eines europäischen Währungsfonds, ist, wenn auch unvollkommen, ein großer Fortschritt, sofern die parlamentarischen Mitbestimmungsrechte entsprechend festgeschrieben werden. Der sogenannte Fiskalpakt hingegen, der derzeit ebenfalls als Regierungsvorlage im Parlament liegt, ist ökonomisch kontraproduktiv und demokratiepolitisch inakzeptabel. Kontraproduktiv, weil er auf viele Jahre auf "Austeritätspolitik" hinausläuft, d.h. die gegenwärtige Rezession noch verschärfen würde; derzeit ist schon die Hälfte der Euro-Länder mit einem Rückgang des Sozialprodukts konfrontiert. Sind sich Merkel und ihre Ratgeber bewusst, dass es einen Riesenunterschied macht, ob ein Land allein einen scharfen Konsolidierungskurs fährt, oder alle gleichzeitig, wie es der Fiskalpakt vorsieht? Ist ihnen klar, dass selbst bei einem Nulldefizit die Schuldenquote steigt, wenn das Sozialprodukt sinkt?! Und demokratiepolitisch bewirkt der Fiskalpakt eine Selbstkastration der nationalen Parlamente: Lesen Sie nur den Artikel 5 dieses Vertrags (Vetorechte von Kommission und Rat). Abgeordnete, wehrt euch!