Wien und Berlin sollten jenseits der zelebrierten Migrationsfrage breiten Konsens suchen.
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Wenn am Mittwoch Außenminister Alexander Schallenberg zum eintägigen Arbeitsbesuch nach Berlin aufbricht, wäre dies bis vor wenigen Jahren noch unter der Rubrik Höflichkeitsbesuch unter guten Nachbarn samt netter Fotogelegenheit für den österreichischen Part abgehandelt worden. Unterschiedliche Interessen und Perspektiven hat es zwar auch schon früher gegeben, schlussendlich aber war man sich im überdimensionierten Regierungsviertel der ehemaligen k.k. Haupt- und Residenzstadt Wien einig, dass diese es nicht wert sind, dass man auch noch laut über sie spricht. Zu überzeugend waren die Vorteile, im Windschatten des großen Nachbarn mitzufahren.
Heute hat sich an der Interessensgemeinschaft wenig geändert; dafür sorgen neben der gemeinsamen Geschichte und Sprache, die so sehr trennen wie verbinden, vor allem die Verflechtungen der beiden Volkswirtschaften.
Dass mitunter trotzdem ein Blatt Löschpapier und mehr zwischen Berlin und Wien passt, machen viele an den Veränderungen fest, die seit 2017 in Österreich stattgefunden haben: Der Aufstieg eines jungen Staatssekretärs zum selbstbewussten Bundeskanzler, der früher als die meisten anderen Zentrumspolitiker erkannte, dass sich der Zeitgeist in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen weitergedreht hat, und ohne große Emotion einfach mit der verfemten FPÖ koalierte.
Allerdings hat die Fixierung auf Einzelne - und manchmal auf deren Karikatur - selten zum besseren Verständnis der Wirklichkeit geführt. Das gilt schon für die Innenpolitik und noch viel mehr für Außen- und Sicherheitspolitik, wo die Anzahl der Akteure und Kräfte meist schon den durchschnittlich interessierten Bürger überfordern.
Tatsächlich leiht Sebastian Kurz der Debatte zwischen Berlin und Wien vor allem eine taugliche Projektionsfläche, anschluss- wie ablehnungsfähig auf beiden Seiten der Grenze. Doch wie gesagt: Diese Fixierung - in Verbindung mit dem vor allem medial zelebrierten Dissens in der Migrationsfrage - reduziert die Komplexität und Vielfalt der Gemeinsamkeiten wie der Unterschiede.
Tatsächlich sind beide Staaten gut beraten, dem anderen genau zuzuhören - und möglichst viele Felder für ein abgestimmtes Vorgehen zu bestimmen. Im Rahmen der EU und außerhalb ist längst kein Staat mehr groß genug, seine Ziele im Alleingang zu erreichen. Jeder benötigt Verbündete. Sogar Berlin. Österreich ist deshalb für viele Akteure ein interessanter Partner. Womöglich mit Türkis-Grün noch mehr als vorher. Und mit der Unterstützung Berlins lässt sich mehr umsetzen als dagegen.