Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller geboren, dessen Gedichte ohne den Holocaust kaum zu verstehen sind. Annäherung an ein Leben und Werk voller Gegensätze.
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Der Cimetière parisien de Thiais ist eine von drei Pariser Begräbnisstätten, die extra muros liegen, außerhalb der Stadtgrenze. Touristen verirren sich eher selten hierher in die südlichen Vororte, nicht weit vom Flughafen Orly entfernt. Kein Wunder, denn anders als die Friedhöfe der französischen Hauptstadt - Père La-chaise, Montmartre oder Montparnasse - gilt der 1929 eröffnete Cimetière vor den Toren als letzte Ruhestätte der "pauvres et indigents", der Armen und Bedürftigen, und ist nicht gerade üppig mit berühmten Toten gesegnet.
Der Schauspieler Bertrand Blier, die legendäre Muse Kiki de Montparnasse oder der russische Schriftsteller Jewgeni Samjatin sind vermutlich noch am bekanntesten. Für Besucher aus Österreich jedoch müsste der Friedhof in der Rangliste Pariser Sehenswürdigkeiten weit oben stehen. Denn wie der Orientierungsplan am Haupteingang verrät, liegt hier nicht nur Joseph Roth begraben, sondern auch "Paul Antschel dit Paul Celan, poète autrichien".
Celan selbst hat in seinem späteren Leben zwar davon gesprochen, von allen nationalen Zuschreibungen sei ihm die als österreichischer Schriftsteller die liebste. Aber korrekt ist diese Etikettierung nicht. Als der Dichter am 23. November 1920 in Czernowitz in der Bukowina zur Welt kam, durchwehte diese Stadt zwar noch der Vielvölkerhauch der Habsburgermonarchie, aber völkerrechtlich gehörte sie jetzt zu Rumänien.
Mördersprache
Aus dem Familiennamen Antschel wurde rumänisch Ancel und daraus dann später der Name Celan. Und dass aus Paul Antschel einmal einer der berühmtesten deutschsprachigen Dichter werden sollte, war keineswegs ausgemacht. Als Bub lernte er Hebräisch, Rumänisch und Deutsch, wobei Letzteres tatsächlich im Wortsinne die Muttersprache für ihn war. Denn während der strenggläubige Vater Leo stark der jüdischen Tradition verhaftet war, sorgte die Mutter Friederike dafür, dass ihr Sohn schon früh mit deutscher Kultur und Dichtung in Berührung kam. Doch bald wurde das Deutsche für Celan zur Mördersprache. Die Eltern wurden 1942, als deutsche Truppen die (seit 1940 von der Sowjetunion okkupierte) Bukowina besetzten, deportiert und kamen im SS-Lager Michailowka um: Der Vater starb vermutlich an Typhus, die Mutter wurde erschossen.
Dass das Deutsche danach allen Anfechtungen zum Trotz Celans Dichtersprache wurde und blieb, macht seine Verse umso eindrücklicher. Zumal Celan nur etwas mehr als ein halbes Jahr seines nicht ganz fünfzigjährigen Lebens im deutschsprachigen Raum lebte - und das ausgerechnet in Wien, wo er aus Bukarest kommend Ende 1947 eintraf.
Im Sommer 1948 zog er dann weiter nach Paris, ohne der Donaumetropole viele Tränen nachzuweinen: Man sei zwar sehr nett zu ihm, "aber mit Literatur, besonders mit Poesie, läßt sich hier in Wien nicht viel anfangen".
Frankreich wurde für Celan zur zweiten Heimat: Er heiratete Gisèle Lestrange, wurde französischer Staatsbürger, übersetzte aus dem Französischen, kaufte sich ein Haus in der Normandie. Als er 1952 an der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee teilnahm, hielt ihn Toni Richter, die Ehefrau von Gruppenprimus Hans Werner Richter, zunächst sogar für einen Franzosen und lobte ihn für sein "perfektes Deutsch".
Nein, Celan war wohl tatsächlich ein Schriftsteller, der sich mit keinem Nationalattribut etikettieren, sondern allein über die Sprache definieren lässt: ein Dichter deutscher Sprache. Schon 1946, Jahre vor seinem ersten Gedichtband "Mohn und Gedächtnis" (1952), hatte er in einem Brief erklärt: "Ich will Ihnen sagen, wie schwer es ist als Jude Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben. Wenn meine Gedichte erscheinen, kommen sie wohl auch nach Deutschland und (...) die Hand, die mein Buch aufschlägt, hat vielleicht die Hand dessen gedrückt, der der Mörder meiner Mutter war (...) Aber mein Schicksal ist dieses: deutsche Gedichte schreiben zu müssen."
Feierlicher Ernst
Die deutsche Sprache war für ihn tatsächlich so etwas wie Heimat, ein Zuhause. Ausgerechnet Martin Heidegger, den Celan als Denker überaus schätzte, hat diese existenzielle Bindung an die Sprache zutreffend so formuliert: "Die Sprache ist der Bezirk (templum), d.h. das Haus des Seins." Ausgerechnet der begeisterte Nationalsozialist und Antisemit, der vermutlich mehr als nur eine Mörderhand gedrückt hat. Es gehört zu den vielen Widersprüchen Celans, dass er im Juli 1967, als er in Freiburg vor über 1.000 Zuhörern las, zusammen mit dem Philosophen dessen berühmte Hütte im Schwarzwald aufsuchte in der "Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes / Wort im Herzen". Ein Wort, das der in dieser Hinsicht schrecklich kleingeistige Heidegger nicht wagte.
Die gebürtige Linzerin Brigitta Eisenreich, eine der vielen Frauen, mit denen Celan eine Liebesbeziehung unterhielt (die bekannteste ist natürlich jene mit Ingeborg Bachmann), beschrieb diese Ambivalenz so: "Es ging eine Strahlkraft von ihm aus, die schwer zu beschreiben ist: Celan war offen und verschlossen in einem, gleichzeitig hellhörig und erbarmungslos, wissend und dennoch verloren, frei und getrieben wie sonst niemand. Im Spannungsfeld der Gegensätze lag wohl das Geheimnis seines Wesens, das ihn so anziehend machte; von dem auch seine Dichtung lebte."
Auf Fotos umgibt Celan stets eine Aura des feierlichen Ernsts, eine Mischung aus düsterer Schwermut und außerweltlicher Heiligkeit. Dabei konnte er auch ganz anders sein, wie Friedrich Dürrenmatt zu berichten wusste:
"Wir spielten stundenlang Tischtennis, er war von einer ungeheuren, bärenstarken Vitalität, er spielte meine Frau, meinen Sohn und mich in Grund und Boden. Dann trank er zu einer Hammelkeule eine Flasche Mirabelle, einen starken Schnaps, seine Frau und wir tranken Bordeaux, er trank eine zweite Flasche Mirabelle, Bordeaux dazwischen (.. .). Er dichtete in das bauchige Glas hinein, dunkle, improvisierte Strophen, er begann zu tanzen, sang rumänische Volkslieder, kommunistische Gesänge, ein wilder, gesunder, übermütiger Bursche."
Dieses Spannungsfeld betraf freilich nicht nur Celans Wesen, sondern auch die Wahrnehmung von außen. So gilt er noch immer vielen als "tragischer" Dichter, als Vertreter einer "absoluten", "hermetischen" Dichtung, der sich ganz der "hohen" Gattung der Lyrik verschrieben hatte. Natürlich sind seine Gedichte - vor allem die späten in "Fadensonnen" (1968) und "Lichtzwang" (1970) - kryptisch und schwer zu verstehen. Doch die Versuche, diese Verse in einem wie auch immer gearteten metaphysischen Bereich der "reinen" Poesie zu verorten, dienten immer auch der Gewissensberuhigung. Man wollte nicht danach fragen, was diese Verse mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Celan selbst war in dieser Frage glasklar: "Ich habe nie eine Zeile gedichtet, die nichts mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte."
Die Bildelemente seiner Gedichte haben fast alle eine historische Entsprechung. "Über Krakau / bist du gekommen, am Anhalter / Bahnhof / floß deinen Blicken ein Rauch zu, / der war schon von morgen". Hinter diesem Gedicht aus dem Jahr 1962 steht eine ganz reale Lebenserfahrung: Am 9. oder 10. November 1938 kam Celan auf dem Weg nach Frankreich, wo er in Tours ein Medizinstudium aufnahm, durch Berlin, wo gerade Pogromstimmung gegen die Juden herrschte. Der Rauch von morgen, der kam aus den Verbrennungsöfen von Auschwitz.
In einem Brief an seinen Lektor bei Suhrkamp, Klaus Reichert, verwahrt er sich 1967 gegen all die Wendungen im Werbetext für ein Buch ("Artistik", "Weg nach Innen"), die seine Gedichte von der Wirklichkeit und der Gegenwart wegrücken wollen: ",Diese Gedichte sind für die Toten geschrieben‘: mein guter Klaus Reichert, das sind sie weiss Gott nicht! (Und wer wollte das auch von seinen Gedichten behaupten?) Sie sind für die Lebenden geschrieben, allerdings für diejenigen, die der Toten eingedenk bleiben (wollen)." Schon die "Todesfuge" war solch eine Totenklage für die Überlebenden gewesen. Oder wie Durs Grünbein es mit Blick auf Celans Dichtung insgesamt formuliert: "ein Zuruf an die Lebenden im Namen der Ermordeten und Verstoßenen."
Insofern war es natürlich nicht "barbarisch", wie Adorno meinte, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Im Gegenteil, Celans "Todesfuge" (1944/45 entstanden) wurde - neben "O die Schornsteine" von Nelly Sachs ("Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch / Durch die Luft") - zu dem Text, der die Schrecken des Holocaust erstmals in Verse fasste. Es ist nach Hermann Hesses "Stufen" das meistübersetzte deutschsprachige Gedicht, war schon bald, wie Celan selbst sagte, "lesebuchreif gedroschen", und es steht wie kein anderes Poem Celans für das "Ineinander von Erfolg und Anfechtung, Anerkennung und Verleumdung" (Th. Sparr) bei diesem Dichter.
Celan las es 1952 vor der Gruppe 47 und erntete ob seiner eigenwilligen Vortragsweise Gelächter und böse Bemerkungen (der habe ja wie Goebbels gelesen, spottete Hans Werner Richter), bekam zugleich aber nach der Tagung seinen ersten Verlagsvertrag, sein Entrée in den deutschen Literaturbetrieb. Und 1960 brach die schon länger schwelende Goll-Affäre los - Claire Goll, die Witwe des Dichters Yvan Goll, warf ihm vor, die "Todesfuge" von ihrem Mann plagiiert zu haben -, die Celan ob der haltlosen Anschuldigungen seelisch ziemlich aus der Bahn warf.
Im gleichen Jahr bekam er aber auch den Büchnerpreis, die höchste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum. Celan war zeitweise eine Art Star des Literaturbetriebs, ja er war richtiggehend hip, seinen Gedichtbänden wurde "entgegengefiebert wie dem Release neuer Alben von Pink Floyd", wie sich der Schriftsteller Gerhard Falkner erinnert. Andererseits war er immer auch ein Außenseiter, der auf die einschlägigen Grüppchen und Zirkel keine Lust hatte. Gegensätze, Widersprüche also auch hier.
"Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein ‚20. Jänner‘ eingeschrieben ist?", fragt Celan in seiner Dankesrede zum Büchnerpreis. Für ihn gilt das mit Sicherheit. Der 20. Jänner war nicht nur der Tag, an dem Büchners Lenz ins Gebirg’ ging, sondern auch das Datum der Wannseekonferenz 1942, auf der der schon begonnene Völkermord an den Juden im Detail ins Werk gesetzt wurde. Ohne den Holocaust ist Celans Werk tatsächlich nicht zu verstehen. "Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu?", heißt es weiter.
Er selbst hat sich dem 20. April 1970 zugeschrieben. In den Jahren zuvor waren seine psychischen Probleme, die seine engste Vertraute der letzten Jahre, Ilana Shmueli, als ein "Kranken an der Wirklichkeit" bezeichnet hat, immer schlimmer geworden. Neben einem Selbstmordversuch hatte er auch versucht, seine Frau zu ermorden, er hatte Monate in Kliniken verbracht und seine Gedichte waren immer fragmentarischer, fragiler, schweigsamer geworden.
Am Ende ließ sich die Wirklichkeit nicht mehr in Sprache, in Poesie verwandeln, oder genauer: Die einzige Heimat, die Celan wohl je besessen hat, die Sprache, bot keinen festen Grund mehr. "Du warst mein Tod: dich konnte ich halten, / während mir alles entfiel." Am 20. April 1970 setzte er, der ein guter Schwimmer gewesen sein soll, seinem Leben in der Seine ein Ende. In seiner Wohnung fand man eine Hölderlin-Biografie, aufgeschlagen auf einer Seite, auf der ein Satz von Clemens Brentano zitiert wird: "Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens."
Am Tag, als Celan auf dem kargen Vorortfriedhof Thiais bestattet wurde, am 12. Mai, starb in Stockholm Nelly Sachs, die andere große Dichterin der Shoa (mit der zusammen er fast den Literaturnobelpreis bekommen hätte, aber eben nur fast ...). Es war einer der traurigsten Tage der Literaturgeschichte.
Celan 100. Geburtstag / Bibliographie
* Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. von Barbara Wiedemann. Suhrkamp, Berlin 2020. 1262 S., € 35,-
* Paul Celan: "etwas ganz und gar Persönliches". Briefe 1934-1970. Hg. und komm. von Barbara Wiedemann. Suhrkamp, Berlin 2020. 1286 S., € 80,20
* Helmut Böttiger: Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist. Galiani, Berlin 2020. 200 S., € 20,60
* Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Wallstein, Göttingen 2020. 400 S., € 26,80
* Michael Eskin: "Schwerer werden – Leichter sein." Gespräche um Paul Celan. Mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner. Wallstein, Göttingen 2020. 176 S., € 22,70
* Hans-Peter Kunisch: Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung. Dtv, München 2020, 350 S., € 24,70
* Klaus Reichert: Paul Celan. Erinnerungen und Briefe. Suhrkamp, Berlin 2020. 297 S., € 28,80
* Petro Rychlo (Hg.): Mit den Augen von Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan. Suhrkamp, Berlin 2020. 470 S., € 28,80
* Thomas Sparr: Todesfuge. Biographie eines Gedichts. DVA, München 2020. 333 S., € 22,70
Andreas Wirthensohn, geboren 1967, lebt als freier Lektor, Übersetzer und Literaturkritiker in München.