Zum Hauptinhalt springen

Paul Lendvai

Von Michael Schmölzer

Reflexionen
Paul Lendvai
© Robert Newald

Der Journalist und Osteuropa-Experte Paul Lendvai erinnert sich an die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes 1956 und erzählt von den Verwundungen, die das Ereignis bis heute hinterlassen hat.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 18 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wiener Zeitung:Sie schreiben in Ihrem Buch "Der Ungarn-Aufstand 1956" sehr offen, dass Sie den Beginn des Volksaufstandes am 23. Oktober eigentlich verschlafen haben. Das Erwachen, spätestens am 4. November, war dann aber ein sehr blutiges. Sie waren damals in Budapest: Wie haben Sie persönlich jenen Tag erlebt, als die russischen Panzer die Revolution der Ungarn niederwalzten?Paul Lendvai: Wir wohnten neben der Kiliankaserne, der früheren Maria-Theresienkaserne, in der Nähe der Einfahrtstraße, wo die sowjetischen Panzer entlang kamen. Ich war also mitten im Geschehen. Am 3. November sah alles ruhig und normal aus, wir dachten, die Sowjets akzeptieren die Dinge. In der Nacht auf den 4. November, so um halb vier Uhr morgens, griffen die Russen an. Wir mussten in den Keller, es war alles viel schlimmer als in den ersten Tagen, denn jetzt sind sie nicht mit 6000, sondern mit 60.000 Mann gekommen. Panzer, Minenwerfer, alles was Sie sich vorstellen können. Unser Haus erhielt einen Volltreffer, wir sind auf allen Vieren durch das Kellersystem in ein anderes Haus gekrochen, dort waren wir während der ganz schlimmen Zeit. Dann sind wir zurückgekehrt, langsam versuchte ich hinaufzukommen, zu unserer Wohnung - und da sah ich, dass die Wohnung völlig zerstört war. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld im Zweiten Weltkrieg. Während die Russen in der ersten Phase des Aufstandes noch ein bisschen aufgepasst haben, haben sie in der zweiten sofort, wenn irgendwo ein Schuss gefallen ist, das ganze Haus zerstört. Meine Eltern zogen zur Schwester meines Vaters, und ich wohnte bei einem Freund, einem Schauspieler. Wir hatten de facto alles verloren.

Damals ging es darum, Ungarn aus der Sowjet-Umklammerung herauszulösen. Die Jugoslawen unter Tito hatten das zuvor ganz gut bewältigt, eine eigenständigen Weg zum Sozialismus gefunden. Kam die Revolution in Ungarn Ihrer Ansicht nach zu spät? Hätte eine beherztere ungarische Führung das tragische Schicksal abwenden können? Hätte es eine Chance auf Erfolg gegeben?

Was Ungarn betrifft, gab es diese Chance nicht. Die Jugoslawen hatten andere Voraussetzungen: Erstens haben sie sich 1945 selber befreit, zweitens waren dort keine sowjetischen Truppen stationiert, und drittens hatten sie mit Tito eine überragende, im Osten wie im Westen anerkannte Führerfigur. Ungarn war ein besetztes Land, Ungarn war der letzte Verbündete Nazi-Deutschlands, Ungarn hatte eine pro-sowjetische Führung unter Mátyás Rákosi, dem Musterschüler Stalins. Für Ungarn gab es weder vorher noch im Oktober und November 1956 eine Chance zum erfolgreichen Widerstand.

In Ungarn findet man heute eine Reihe von Gruppen, die das Ereignis "1956" für sich beanspruchen. Da gibt es den Ungarischen Verband der Aufständischen, den Weltverband der Ungarischen Freiheitskämpfer, den Weltverband der authentischen Ungarischen Freiheitskämpfer, die Partei der Sechsundfünfziger etc. Weshalb befehdet man sich eigentlich?

Das ist ein bisschen so wie mit den Partisanen in Jugoslawien. Da gab es Mitte der 60er Jahre mehr Partisanen als am Höhepunkt des Krieges. Das heißt, es gibt viele, die sich selbst zu Freiheitskämpfern ernennen. Außerdem gibt es wie in allen Organisationen Gruppen- und Grabenkämpfe. Darunter sind rechts Gerichtete, sehr rechts Gerichtete und Verbitterte.

Vergleichen wir es mit dem Jahr 1934 in Österreich. Die beiden großen politischen Lager haben bis heute verschiedene Auffassungen von der Bewertung des Bürgerkrieges und der handelnden Personen. In welchen Punkten differiert die Sichtweise auf das Jahr 1956 in Ungarn?

Da gibt es natürlich eine gewisse Polarisierung in der Gesellschaft. Es gibt eine Gruppe, die in den Jahren nach 1956 alle Konzessionen an das Regime verwarfen. Durch die lange Phase der Kooptation gab es andererseits in allen Lagern Leute, die mitgemacht haben, also Mitläufer.

Kooptation, damit meinen Sie die Phase des Kadar-Regimes zwischen 1956 und 1989, die Zeit des Gulaschkommunismus?

Ja, genau. Es gab nicht nur Helden oder Verräter. Die größte Gruppe bestand - wie immer bei großen Zeitenwenden - aus Mitläufern. Aus denen, die zwar schon gerne Freiheit gehabt hätten, aber doch auch irgendwie leben mussten. Da kam es zu tiefen Verwundungen, zu Brüchen. Ein Teil der Gesellschaft hat nach 1956 seinen Frieden mit dem System gemacht.

Man konnte sich ja arrangieren, wenn man drei Grundregeln beachtet hat: 1956 war keine Revolution sondern eine Konterrevolution, von außen gesteuert; das Machtmonopol der Partei und die Vorherrschaft der Russen sind tabu. Wenn man bereit war, das zu akzeptieren, dann konnte man im Rahmen dessen, was möglich war, besser leben als in den anderen kommunistischen Ländern.

Ich habe den Eindruck, dass die Aufarbeitung der damaligen Ereignisse in Ungarn heute nicht stattfindet. Etwa an den Schulen: Es gibt Untersuchungen, wonach die meisten ungarischen Jugendlichen mit dem Jahr 1956 nichts anzufangen wissen!

Das liegt einerseits an den 33 Jahren unter Kadar, einem gesamtnationalen Verdrängungsprozess, wie ein Psychiater geschrieben hat. Dann kamen die 16 Jahre seit der Wende 1989. Es war ein bisschen wie in Österreich nach 1945: Die Lehrer sind diesen Fragen zum Teil ausgewichen, haben es vermieden, sie zu behandeln. Zum Teil waren sie selber Mitläufer, es gab nicht genug Bücher, und vor allem fehlte die Ausgewogenheit. Die fehlt bis heute. Die einen sagen: Dann kamen die Kommunisten und es gab 33 Jahre Diktatur. Andere Leute behaupten, dass diese Jahre gar nicht so schlecht waren. Laut Umfragen gilt Kadar merkwürdiger Weise als eine der größten ungarischen Persönlichkeiten.

Weil er den Ungarn Gulasch gebracht hat?

Vergessen Sie nicht: Jene Ungarn, die bereit waren, die genannten drei Grundregeln zu akzeptieren, und die nicht aus Familien kamen, wo die engsten Verwandten verurteilt worden waren, durften ins Ausland reisen. Alle drei Jahre in den Westen, und wenn sie Geld hatten, öfter. Außerdem konnten sie natürlich immer in den Osten ans Meer fahren. Es war ein bescheidener Wohlstand, eine gewisse Gleichheit. Das Kadar-Regime hat gelernt, wie weit man gehen, wie weit man die Leute reizen und unterdrücken kann. Im Vergleich zu anderen Bruderländern lebten die Ungarn besser, freier als etwa die Polen, Bulgaren oder Tschechen.

Bleiben wir bei der Vergangenheitsbewältigung. Nach dem Volksaufstand wurden über 200 Menschen hingerichtet. Wo es Opfer gibt, gibt es auch Täter. Wie wird mit diesen heute umgegangen?

Nach der Wende 1989 gab es keine Prozesse gegen die Täter. Viele von ihnen sind bereits tot, viele wurden durch die allgemeine Trägheit geschützt. Es ist merkwürdig: Im ersten freien Parlament saßen 50 ehemalige Parteimitglieder. Als ein Widerstandskämpfer den damaligen Premier Antal darauf aufmerksam gemacht hat, hat der gemeint: Wenn er die 50 oder auch nur 30 rausschmeißt, verliert er im Parlament seine Mehrheit. In der ungarischen Politik haben viele Dreck am Stecken. Man konnte nicht die ganze Elite austauschen.

Man deckt sich also gegenseitig?

Das ist leider in allen politischen Lagern so. Alle, die fähig und intelligent sind, und die 1989 älter als 30 oder 35 waren, waren bis auf ganz wenige Ausnahmen in die KP involviert. Die ungarische KP hat bis zum Umbruch 1989 während der vorangegangenen Jahrzehnte insgesamt rund zwei Millionen Mitglieder gehabt. Etwa jeder dritte Erwachsene war irgendwann für kürzere oder längere Zeit Parteimitglied.

Am 23. Oktober wird der 50. Jahrestag des Volksaufstandes in Ungarn in irgendeiner Form begangen werden müssen. Glauben Sie, dass sich die verfeindeten politischen Lager zu einer gemeinsamen Feier durchringen werden?

Es schaut leider schlecht aus. Es wird zur Errichtung von zwei seperaten Denkmälern kommen. Das ist tragisch. Aber das haben wir unter anderen Verhältnissen auch in Polen gesehen. Walesa hat bei der Wahl weniger als ein Prozent der Stimmen bekommen.

Bei den jüngsten Protestaktionen gegen den sozialistischen Premier Ferenc Gyurcsány haben die Demonstranten unübersehbar Anleihen bei der 56er-Revolte genommen. Etwa mit der ungarischen Fahne, in die ein Loch geschnitten ist, obwohl sich längst kein KP-Emblem mehr auf ihr befindet. Damals wurde die Stalin-Statue gestürzt, heute zieht man zum Russendenkmal, um es zu beschädigen. Versucht die politische Rechte, das Jahr 1956 für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?

Ich betrachte es als Blasphemie, wenn man diese Ereignisse vergleicht. 1956 war eine Diktatur mit einem eigenen Apparat, der Staatssicherheit, und es gab eine Fremdherrschaft, die Sowjets. Jetzt ist Ungarn eine freie Demokratie, mit freien Wahlen. Ungarn ist Mitglied der EU, Mitglied der Nato. Ein solcher Vergleich ist, wie Bruno Kreisky gesagt hätte, barock. Diese Parallele zum Jahr 1956 haben auch nicht führende Konservative gezogen, sondern nicht ganz gebildete Demonstranten und ein paar extreme Journalisten. Man hat aber den Eindruck, dass jetzt vernünftige konservative Politiker das Heft in die Hand nehmen. Man muss sich klar von solchen Dingen distanzieren. Diese Extremisten, die zuletzt das Fernsehgebäude in Budapest angegriffen haben, trugen Fahnen, die die Pfeilkreuzler, die ungarischen Nazis, 1944 verwendet haben. Die Demonstrationen wurden dadurch diskreditiert. Für das Land ist das schrecklich.

Man rätselt, wer hinter den Gewalttätigkeiten der letzten Wochen steht. Ist es vielleicht gar der konservative Fidesz-Oppositionschef Viktor Orbán selbst?

Da muss man vorsichtig sein. Es gibt viele Hinweise, dass Leute seiner politischen Partei bei den Demonstrationen geredet haben, aber nicht Orbán selbst. Unter anderem haben aber auch zwei ehemalige Spitzenkommunisten Reden gehalten. Der eine war Imre Pozsgay, der bei der Wende 1989 eine positive Rolle gespielt hat, er war Politbüromitglied und Kulturminister. Der andere war Botschafter in Moskau und Sekretär des ZK. Natürlich ist Orbán die Unterstützung der Straße willkommen. Diese Protestaufmärsche sind allerdings Besorgnis erregend, denn eine demokratisch gewählte Regierung kann man nicht auf der Straße abwählen.

Orbán hat auch versucht, die letzten Kommunalwahlen zu einem Referendum über die Regierung umzudefinieren . . .

Jetzt gibt es in zehn Städten einen Fidesz-Bürgermeister statt eines sozialistischen. In Budapest ist immerhin der liberale Bürgermeister wiedergewählt worden. Ja, Oppositionschef Viktor Orbán wollte daraus eine Volksabstimmung machen, er wollte, und will noch immer, eine Art Expertenregierung installieren. Aber wir sind ja nicht im Irak oder in Post-Putsch-Griechenland. Wenn die Regierung nicht gut ist, wird sie schon abgewählt werden. Aber man kann nicht alle fünf Monate eine Wahl abhalten. Das ist ein gefährliches Spiel.

Das linke und das rechte politische Lager trennt in Ungarn offenbar ein ganz tiefer Graben. Woher kommt dieser Hass?

Das geht zurück bis ins Jahr 1920, und der Graben liegt zwischen den national Gesinnten und den demokratisch und human Gesinnten. Man hat mich einmal in Ungarn gebeten, ich solle eine Diskussion zwischen Gyurcsány und Orbán moderieren, aber die beiden waren nicht einmal bereit, miteinander zu reden. In Österreich sitzt sogar der Strache mit dem Gusenbauer an einem Tisch. In Ungarn sieht man einander als Feinde - und nicht als Gegner.

Ist vielleicht das magyarische Temperament Schuld an dieser Misere?

Nein, es ist die nicht aufgearbeitete Vergangenheit. Ungarn war der große Verlierer des Ersten Weltkrieges, hat zwei Drittel des Landes und viele Bewohner an umliegende Staaten verloren. Das erschwert die Demokratie. Jeder Gaukler oder jede Partei, die sagten, wir holen eure Brüder zurück, konnte gewinnen. Deshalb kam es auch zu dem Bündnis mit Nazi-Deutschland. Ungarn hatte nach dem Wiener Schiedsspruch 1942 fünf Millionen Menschen mehr. Das hat tiefe Spuren hinterlassen.

Ist die nationalen Frage tatsächlich so maßgeblich für die innenpolitische Spaltung?

Ja, und zwar in dem Sinn, dass für die einen Demokratie, Reformen, EU, Wirtschaftsreform und Marktwirtschaft im Vordergrund stehen, während die anderen versuchen, politische Unterstützung mit Hilfe der im Ausland lebenden Ungarn zu erhalten. Das trifft zwar nicht auf alle Konservative zu, aber auf Orbán und Fidesz.

Kommen wir zu den anderen ex-kommunistischen Staaten in Mittel-Osteuropa. In der Slowakei haben wir mit Premier Fico jemanden, der sich Sozialdemokrat nennt, aber nach westeuropäischen Maßstäben keiner ist, da er mit der extremen Rechten koaliert. Tschechien ist durch ein Patt im Parlament gelähmt, und in Polen sitzt mit Andrzej Lepper eine dubiose Figur in der Regierung: Man hat also das Gefühl, dass in es in diesen Ländern mit dem demokratischen Anstand nicht weit her ist.

Das hat mit dem Fehlen einer politischen Kultur zu tun. In Ungarn etwa haben viele Politiker die Einstellung, die eigentlich eine kommunistische ist: Es gibt nur eine, nämlich meine Wahrheit. Und der ungarische Staatspräsident hat de facto gefordert, dass der Premier zurücktreten solle. Ein Präsident aber muss vermitteln, wie es etwa in Österreich üblich ist. Heinz Fischer spielt ja auch eine ausgleichende Rolle.

Die Demokratien in Mittel- und Osteuropa sind - ohne damit westlich-überheblich wirken zu wollen - offenbar doch noch relativ unreif?

Diese Länder haben ja - bis auf Böhmen - in der Zwischenkriegszeit keine demokratischen Traditionen gehabt. Das heißt, es gibt zum Beispiel in Ungarn keine konservative Partei westlichen Zuschnitts, also keine CDU oder ÖVP. Die Konservativen setzen auf die nationale Karte, und auf die katholische Kirche: All das, was in Österreich vor 60 Jahren üblich war, kommt jetzt in diesen Ländern, vor allem in Ungarn, an die Oberfläche. Auch der Versuch, die Kirche zu politisieren.

Zur Person:Paul Lendvai wurde am 24. August 1929 in Budapest geboren. Er ist ungarisch-österreichischer Fernsehjournalist und Moderator und gilt als einer der profundesten Kenner Ost- und Südosteuropas.

Als Sohn jüdischer Eltern wurde er 1944 gemeinsam mit seinem Vater Andor verschleppt. Während der berüchtigten Todesmärsche wurden die beiden voneinander getrennt und von einem Ort zum anderen gehetzt. Vater und Sohn hatten unglaubliches Glück, beiden gelang die Flucht. Andor Lendvai konnte einen Schweizer Schutzpass organisieren, wodurch das Überleben der Familie gesichert war.

Nach Kriegsende kehrte Paul Lendvai nach Budapest zurück, wo er Rechtswissenschaften studierte und für sozialdemokratische Zeitungen schrieb. Als Mitglied der Sozialdemokratie kam Lendvai auf die Liste der "politisch Unzuverlässigen". 1953 wurde er verhaftet und für acht Monate interniert, danach hatte er drei Jahre lang Berufsverbot. Im Zuge des Ungarn-Aufstandes, den er in Budapest miterlebte, floh er 1957 nach Wien.

1959 erhielt Lendvai die österreichische Staatsbürgerschaft, von 1960 bis 1987 war er als Korrespondent für die Londoner "Financial Times" tätig. Er gründete die Zeitschrift "Europäische Rundschau" und wurde 1982 Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF, später Intendant von Radio Österreich International.

Als überzeugter Mitteleuropäer versuchte er sowohl anlässlich der Waldheim-Affäre als auch der EU-Sanktionen durch Vorträge und Artikel seine neue Heimat Österreich ins richtige Licht zu rücken und gegen Pauschalurteile anzukämpfen.

Für seine publizistischen Leistungen, darunter elf Sachbücher, die zum Teil auch auf Englisch, Französisch und Ungarisch erschienen sind, wurden Paul Lendvai zahlreiche Preise verliehen. Zuletzt veröffentlichte er "Der Ungarn-Aufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen", erschienen bei C. Bertelsmann.