Der Theologe Paul Michael Zulehner spricht über die menschliche Sehnsucht nach Sinn und Tiefe, über die "Verbuntung" der Religion und über die Möglichkeiten der Katholiken, modern und gläubig zugleich zu sein.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung: " Herr Prof. Zulehner, wandelt sich die Rolle der Religion in Krisenzeiten? Paul Michael Zulehner: Grundsätzlich sagt man: Not lehrt beten; aber Not lehrt genauso fluchen. Was da jetzt auf uns zukommt, ist hochambivalent. Menschen mit finanziellen Engpässen in ihrem familialen Haushalt könnten sich fragen: Warum erspare ich mir nicht die Kirchensteuer? Es könnte also finanziell motivierte Kirchenaustritte geben, die mit der Glaubenssubstanz nicht sehr viel zu tun haben. Die Kirche müsste sich überlegen, ob sie nicht genauer abstimmen und niemanden finanziell überfordern sollte, was rein theoretisch beim Kirchenbeitragssystem in Österreich möglich ist.
Andererseits erleben wir seit geraumer Zeit eine Art Megatrend hin zu einer sehr bunten Spiritualität, die nicht unter dem Dach der Kirche stattfindet, aber auch nicht in der Szene der zugespitzten Säkularität. Es handelt sich dabei um Leute, die von jeder der beiden Seiten flüchten.
Ist das die sogenannte "Patchwork-Religion"?
Lieber als vom Fleckerlteppich-Gläubigen spreche ich vom Religions-Komponisten, der sich aus unterschiedlichen Musikstilen etwas zusammenfügt. Was viele suchen, ist Heilung, Ruhe, das Aufspüren Gottes in der eigenen Seelen-Wohnung. Es gibt sicher eine sehr mystische Grundstimmung in dieser Spiritualität, die nicht primär auf Dogmen aus ist, sondern vielmehr auf das Erleben. Dazu kommt dann noch vieles aus den mystischen Weisheiten der Sufis und aus den asiatischen Religionen, auf dieser Ebene ist alles hoch kompatibel. Solche Leute haben nicht jene Probleme, die mancher Theologe meint, haben zu müssen.
Und dieses Komponieren verstärkt sich also jetzt, weil die Menschen Halt suchen?
Vielleicht nicht so sehr Halt suchen, sondern - in einem sehr spannenden Wortsinn - Heilung. Sie sagen: Etwas an der Art, wie wir zu leben gelernt haben, ist zu banal, zu stressig, zu oberflächlich. Es treibt uns dauernd an die Peripherie unseres eigenen Lebensrades. Da wäre es gut, den Weg in die eigene Tiefe zu gehen, auch in eine erfüllte Stille. Diese Leute suchen die Reise zu sich selber und hoffen, dass etwas von dem Krankmachenden in der Gesellschaft in den Hintergrund tritt. Dass die Angst der modernen Menschen, die sie paradoxerweise um sich selber haben und die durch die derzeitigen Entwicklungen noch verschärft wird, gemildert und verkleinert wird. Da ruht ein großes Potential mystisch geprägter, moderner Spiritualität.
In unserer Gesellschaft haben allerdings schon vor der Krise die krank machenden Angstzustände zugenommen.
Gerade reiche, materiell gesättigte Gesellschaften tendieren dazu, den Menschen krank zu machen. Die moderne Kultur wird nicht mehr von ihren Stärken her beschrieben - nämlich, dass sie eine Wirtschafts-, Konsum-, Erlebnis-, Wissens-Gesellschaft ist. Inmitten all dieser positiven Reichtümer der Kultur wächst die Zahl derer, die Angst haben. Auch die Zahl der Kinder, die in die Grundschule ein therapiebedürftiges Niveau diffuser Ängste mitbringen. Die Schlüsselfrage heißt: Was macht den Menschen heute Angst? Die Religionen sind gefordert, ihr Heilungspotential zu erkunden. Das liegt nicht in der Dogmatik und den Katechismen, sondern eher in einer heilenden Kultur, in heilenden Ritualen, in "healing services", also darin, dass man tief in das heilende Energiefeld Gottes eintaucht. Wenn man Gott zum Felsen seines eigenen instabilen Lebens macht, wird die Daseinsangst, die jeder in sich trägt und die von der modernen, nicht mehr religiös bearbeiteten Kultur offensichtlich geschürt wird, gezähmt und gedämpft. Das wäre ein wichtiger Beitrag der Religion für die Lebenskultur unter modernen Bedingungen.
Gibt es solche "healing services" - heilende Gottesdienste - bei uns?
Ja, vor allem im freikirchlichen Bereich. Zu diesem Thema gibt es auch riesige Kongresse.
Davon haben die Menschen freilich wenig...
Doch - wenn man nämlich ins Internet geht. Das Internet ist heute einer der wichtigen Orte für moderne Religiosität und für die gesamte Gottesthematik, für spirituelle Aufbrüche - man findet dort sofort in eigener Reichweite "healing services". Auch in Wien. Es gibt außerdem kirchliche Bewegungen wie die charismatische, die das im Programm haben. Viele Pfarrgemeinden probieren heute, ob sie über das Juwel der Salbung kranker Menschen aus der Tradition heraus diese heilende Dimension des kirchlichen Tuns bespielen können. Und sie machen Krankengottesdienste in völlig neuer Weise - weil auch die Seele beschädigt sein kann.
Es stünde der Kirche gut an, in der Nachfolge des Heilands ein Heil-Land zu werden. Ich bin sehr angetan, dass Benedikt XVI. in seiner Enzyklika "Gott ist die Liebe" genau auf diese therapeutische Seite des Evangeliums hinweist und sich von düsterem Moralismus zurückzieht. Wenn der Papst dieser Tendenz treu bleibt, ist er ein hoch moderner Zeitgenosse, der bei vielen spirituell Suchenden ins Schwarze trifft.
Ist die österreichische katholische Kirche von ihren inneren Zwistigkeiten geheilt? Eben erst gab es Aufregung über das angeblich sündhafte Verhalten der Bischöfe in Fragen der Empfängnisverhütung. Mir wäre es lieb, könnten wir die vergangenen Dinge abhaken, die alle mit einer Angst besetzten Moral zu tun hatten. Es gibt Leute, die durchaus respektvoll auf "Humanae vitae" hingehört haben. Unsere Katholiken sind diesbezüglich sehr gut. Aus aktuellen Studien ersehen wir, dass unsere Sonntagskirchgänger eine durchschnittliche Kinderzahl von 2,66 haben. Kardinal Schönborn müsste es eigentlich ein Wort der Dankbarkeit an die Katholiken abringen, dass sie weit über den Durchschnitt der Bevölkerung hinaus zu unserem Kinderbestand aktiv beitragen. Wenn sie danach trachten, dass die Zahl ihrer Kinder nicht mehr steigt, was sie im Sinne einer verantwortlichen Elternschaft ja unbedingt selber entscheiden müssen, dann kann man nicht behaupten, dass sie Nein zum Kind sagen. Zudem sind heute die Frauen schon aus ökologischen Gründen kaum noch pillenwütig. Grundsätzlich gilt: Die Menschen sind nicht so schlecht, wie wir Katholiken sie manchmal gerne hätten!
Im übrigen sollte ja auch einmal die ganze Welt gesehen werden. Auf Erden gibt es zu viele Kinder, die aus Hunger oder Krankheit sterben. Wenn ein Kontinent weniger Kinder hat, macht er eben Platz für so viele arme, hungernde Kinder. Man könnte ja auch sagen, das ist eine wunderbare Form der Entwicklungszusammenarbeit: Wir, die wir für Kinder weder Kraft noch Energie übrig haben, öffnen unseren Lebensraum und heißen alle anderen willkommen. Das wäre ein Denken, das der katholischen Weltkirche wohl anstünde - sie hat ja die ganze Welt vor Augen und nicht nur ihren Heimatbereich - solch eingeschränkte Sichtweise kann man getrost rechten Populisten überlassen. Die Welt stirbt nicht aus, sie hat genug Kinder.
Zu Beginn der Krise hieß es: Sie wurde ausgelöst durch abscheuliche Gier. Doch jetzt will man die Gier der Menschen erregen, um das Weihnachtsgeschäft anzukurbeln: möglichst viel soll gekauft werden. Ist das nicht paradox?
Bei der frei gelassenen Gier auf den Finanzmärkten ging es nicht ums Wirtschaftswachstum oder Überleben der Welt, sondern einfach um risikoreiche, fast spielcasinoartige Vermehrung von Kapital, das an sich etwas Totes ist und wofür zu kämpfen sich gar nicht lohnt, weil es nicht zu den eigentlichen Werten des Lebens gehört. Wenn ich auf der einen Seite die Gier habe und auf der anderen Seite die liebende Hingabe, wird kein Mensch sagen: der Königsweg ist die Gier. Sondern jeder wird sagen: das ist die Liebe. Eine Kultur ist gut beraten, sicherzustellen, dass die breite Bevölkerung nicht Opfer solch krankhafter Gier wird.
Allerdings scheint das ein Teufelskreis zu sein: Wenn wir nicht genug kaufen, dann sind die Arbeitsplätze nicht mehr sicher. Und damit die Familieneinkommen bedroht. Derart kapitalistisch argumentiert heute selbst die Gewerkschaft und fordert, dass wir die Kaufkraft der Leute stärken müssen. Denn die Gewerkschaft weiß genau, dass dieses kapitalistische Moment in unserem System unverzichtbar ist.
Und aus dieser Logik gibt es kein Entkommen?
Vielleicht ist heute jemand gerade dann sozial, wenn er sich eben jetzt ein neues Auto kauft, und damit der Autoindustrie hilft. Und somit ist die Frage, was eigentlich Solidarität sei, eine Frage zunehmender analytischer Intelligenz und nicht nur dummer Gier. Man muss abwägen: Wenn wir alle in einen Kaufstreik träten, und die Kirche es erreichen würde, dass alle so bedürfnislos lebten wie Franz von Assisi, wäre dies der Kollaps des gesamten wirtschaftlichen Systems mit fürchterlicher Not und Verelendung. Man muss also froh sein, dass die Kirche in Fragen der Armut nicht allzu erfolgreich ist.
Gegen den weihnachtlichen Kaufwahn wird aber oft von den Kanzeln herab gewettert?
Was ich für sinnlos halte. Natürlich kaufen die Leute und wollen Freude machen, wollen sich auch selbst etwas gönnen. Kaufen ist ja eine lustvolle Aktivität, sozial- und tiefenpsychologisch gesehen. In gesamtgesellschaftlicher, wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht muss man heute freilich ein bisschen genauer hinschauen, bevor man als Amtsträger der Kirche in einer Materialismuskritik das alles verteufelt. Denn dabei geht es eigentlich nicht um den Materialismus, sondern um die Grundlagen familiären Lebens und darum, ob Männer und Frauen ausreichendes Einkommen durch Arbeit bekommen. Wer das System völlig verändern will, muss über Nacht ein Grundeinkommen für alle schaffen. Dann könnte man vielleicht freier über eine Wirtschaftspolitik reden, die Arbeitsplätze nicht durch den Konsum am Leben erhält, sondern auch in Kauf nimmt, dass Arbeitsplätze vernichtet werden.
Es gibt kein ideales System, kein System, das nicht auch düstere und folgenschwere Nebenwirkungen hat. In dieser Zwickmühle stecken wir alle - sowohl die Sozialdemokraten als auch die Liberalen und die Christlichsozialen -, und wir stehen gebannt vor der Logik des Systems. Nichtsdestoweniger müssten wir sagen: Gut, es gibt immer Leute, die in diesem System verlieren, ihnen müssen wir möglichst viel Flankenschutz geben, weil das System als solches nicht über Nacht veränderbar ist. Wir müssen lernen, die Übel, die wir verursachen, kleiner zu machen, wo immer wir können. Das nenne ich eine Ethik des dynamischen Kompromisses. Sie ist unverzichtbar. Und als Verantwortlicher muss ich damit leben können, immer eine schmutzige Weste zu haben.
Das ist eine Einsicht, die den meisten fehlt...
Eine Einsicht, die uns demütig macht. Wer in dieser Situation sagt: Ich trage keine Schuld, ist der eigentliche Sünder.
Die Frage der Integration wird durch die Gleichsetzung Islam = Terror zusätzlich aufgeladen. Ist der interreligiöse Dialog der Kirchen eine taugliche Antwort darauf?
Mit Sicherheit gibt es keine Alternative für die wachsende weltanschauliche Verbuntung - umso mehr, als die Weltbevölkerung desto mobiler wird, je mehr wir die Grenzen öffnen, je mehr wir neben wirtschaftlich begründeter auch die durch Armut und Umweltbeschädigung verursachte Migration akzeptieren müssen. Das wird zu-, nicht abnehmen. Gerade in Europa, wo viele atheisierende Menschen leben, was ja auch eine Art Konfession ist.
Kann man den Atheismus eine Konfession nennen?
Es ist genau so anstrengend, Gott weg zu glauben, wie ihn her zu glauben. Der Atheismus ist ein klassisches Glaubenssystem mit enormer Energie, die aufgebracht werden muss, um Gott weg zu glauben.
Wir müssen also leben lernen mit dieser Verbuntung. Wo die Buntheit herrscht, kann man voneinander lernen und aus den gemeinsamen Reichtümern neue Reichtümer erwirtschaften. Ein klassisches Beispiel stammt für mich aus der Habsburger Monarchie: Nachdem sich die Küchen aller k.u.k. Länder in Wien versammelt hatten, entwickelte sich die Wiener Küche. Das ist eine unglaubliche Kreation aus vielen schöpferischen Teilküchen.
So ähnlich beschaffen ist übrigens auch die Position des Vatikans bei der Begegnung der Kulturen. Wenn Kulturen in einem Raum zusammenkommen, eröffnet sich die Chance, dass sie miteinander eine weitere kulturelle Entwicklung auf einer dritten Ebene beginnen. Darum sind Systeme absurd, wo gefordert wird: Jeder, der zu uns kommt, muss unsere Kultur annehmen. Ebenso absurd ist zu sagen: Wir machen die Kultur der anderen mit. Auch das Nur-Nebeneinander ist absurd. Hier bestünde die Chance, etwas Neues zu entwickeln. Die Alternative wäre der Clash of civilizations, also kriegerische Polarisierungen statt Kreativität.
Kreative Integration klingt schön. Aber sie entwickelt sich offensichtlich nicht so leicht. Wer müsste also etwas tun?
Auf der Ebene der Religionsführer entwickelt sich bereits ein vernünftiger Dialog. Bischöfe beteiligen sich nicht mehr an Anti-Minarett-Kampagnen. Sie sehen es als ihr Geschäft an, die abrahamitischen Religionen in einen plausiblen Dialog zu bringen, um so einen Beitrag zum Zusammenleben der Menschheit zu leisten.
Was es dann aber braucht, ist eine Art großer Grass-root -Ökumene. So wie die Pfarre "Königin des Friedens" im 10. Bezirk mit der Anatol-Moschee regelmäßig Kontakt pflegt und gemeinsam Feste feiert. So ein Networking ist die beste Basis dafür, auch längerfristig, dass man besser miteinander reden kann. Ein Zustand, den es in Bosnien-Herzegowina vor dem Krieg gegeben hat.
Und der von einem Tag auf den anderen nicht mehr funktioniert hat.
Wegen der ethnischen Zuspitzungen. Aber schuld waren jene, die die Probleme zugespitzt haben. Der Frieden hat es immer schwerer als der Krieg.
Was sind eigentlich die ominösen christlichen Wurzeln Europas?
Das lernt man zu verstehen, wenn man in Asien ist. Dort zählen die Person wie die Individualität eigentlich nichts. In Europa hat dies mit dem Christentum zu tun. Es begründet etwas Bleibendes, worauf sich die Unantastbarkeit und die Würde des Menschen stützen: das ist ein Kulturgut der europäischen Geschichte. Die europäische Geschichte ist christlich, aber auch jüdisch und hellenistisch. Diese großen Ströme, die sich verbunden haben, schufen eine Erfolgsgeschichte. Dazu gehört das Bildungssystem, die gewaltigen Erfolge im sozio-ökonomischen wie auch im sozialstaatlichen Bereich. Das ist natürlich nicht nur im Christentum möglich, aber der Nährboden für eine solche elaborierte Menschlichkeit, persönlich wie sozial, hat faktisch konkrete christliche Vorgeschichten. Unser Bildungssystem gäbe es nicht ohne Benedikt von Nursia, unser Krankensystem gäbe es nicht ohne die Hospize des Mittelalters. Ich als Christ bin froh, dieser Tradition anzugehören.
Zur Person
Paul Michael Zulehner, geboren 1939, ist als Pastoraltheologe durch seine brillanten Kommentare bei der TV-Übertragung des Österreich-Besuchs Papst Benedikts XVI. im Vorjahr bei weiten Kreisen der Bevölkerung in Erinnerung geblieben. Manchen Katholiken gaben seine stets fundierten, offenen Aussagen in den Jahren der umstrittenen Kirchenführer Groer und Krenn die Hoffnung, dass die Amtskirche wieder aus der Krise finden würde. Zulehner war und ist seiner Kirche vielleicht unbequem, aber immer unverzichtbar. Nach dem Studium der Theologie und Philosophie (Promotion 1961) in Innsbruck, wurde er 1964 in Wien zum Priester geweiht, erwarb ein zweites Doktorat (Theologie) und habilitierte sich 1974. 1984 wurde er als Professor für Pastoraltheologie an die Universität Wien berufen, wirkte auch als Dekan und emeritierte im September 2008. Derzeit lehrt er Pastoraltheologie in China.
Zulehner, ein brillanter Redner und Österreichs international angesehenster Theologe, hat als Religionssoziologe die Veränderungen in der Gesellschaft oft sehr früh aufgespürt und untersucht (z.B. den "neuen Mann").
Die aktuellsten seiner zahlreichen Bücher sind "GottesSehnsucht. Spirituelle Suche in säkularen Kulturen" (Schwabenverlag 2008), "Werden, was ich bin. Ein spirituelles Lesebuch" (Schwabenverlag 2008) und "Ein neues Pfingsten. Ermutigung zu einem Weg der Hoffnung" (Ostfildern 2008).
Ruth Pauli lebt in Wien und ist als Autorin von Sachbüchern und als freie Journalistin für Printmedien tätig.