Der Historiker Paul Nolte gilt als einer der Wortführer der neo-konservativen Intellektuellen in Deutschland. Im Interview verteidigt er die Demokratie gegen vorschnelle Untergangspropheten und plädiert für Optimismus im Angesicht der Krisen.
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"Wiener Zeitung": Die linksliberale Tageszeitung "taz" hat Sie vor etlichen Jahren einmal als "konservativen intellektuellen Jungstar" bezeichnet. Nun hat der Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise in bürgerlichen Feuilletonkreisen zu einer lebhaften Debatte darüber geführt, ob die Linke nicht doch Recht in ihren politischen Ansichten gehabt haben könnte. Hat die Finanzkrise auch Ihre weltanschaulichen Überzeugungen erschüttert?
Paul Nolte: Ich hoffe, dass meine weltanschaulichen Überzeugungen nicht so eng sind, dass sie bei jeder Kurve gleich aus der Bahn geworfen werden. Zu meiner intellektuellen Grundausstattung gehört eine gute Portion Optimismus. Ich weigere mich, jede neue Entwicklung und jeden Veränderungsprozess ausschließlich in den allerschwärzesten Farben zu malen. Mitunter wird mir dieser Optimismus von meinen Kritikern zum Vorwurf gemacht. Im Gegensatz zu diesen bin ich überzeugt, dass wir Entwicklungen, die schwerwiegende gesellschaftliche Verwerfungen nach sich ziehen, mit einer zuversichtlichen Herangehensweise besser begegnen können. Gerade in Deutschland verlaufen viele aktuelle Debatten in düsteren Farben, sogar Jürgen Habermas warnt etwa vor dem Hintergrund der Finanzkrise vor einem Abdriften zu einer bloßen "Fassadendemokratie". Mein Ziel ist es, dieser typisch deutschen Weltuntergangsstimmung entgegenzutreten und eine andere, optimistischere Perspektive anzubieten - gerade auch, was den Zustand unserer Parteiendemokratie angeht. Wir sind weit weg von den Zuständen in der späten Weimarer Republik, das muss man den Menschen auch deutlich sagen.
Das mag schon sein, allerdings zielt meine Frage auf die Verschiebungen in den Ansichten über die Rolle des Staates ab. Die Krise hat dazu geführt, dass - nach Jahren mit dem Ruf nach weniger Staat - jetzt die Schutz- und Regelungsfunktion des Staates für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft wieder stärker in den Fokus rückt, vor allem im Hinblick auf die Wirtschaft. Hier haben sich die Koordinaten doch deutlich nach links verschoben.Ja, da haben Sie Recht, es hat tatsächlich ein Pendelschwung zurück stattgefunden. In Deutschland etwa reden wir statt von Privatisierung wieder von Vergemeinschaftung, vor allem bei kommunalen Dienstleistungen. Allerdings gibt es dafür auch Grenzen: Das weitverbreitete Unbehagen an der Dominanz des Wirtschaftlichen, an der Globalisierung, führt nicht dazu, dass wir auf unseren Mobiltelefonen nur noch einen staatlichen Provider oder im TV nur noch zwei öffentlich-rechtliche Programme vorfinden wollen, die noch dazu kartellmäßig von Parteien, Kirchen und Gewerkschaften besetzt werden. Das Alltagsbewusstsein vieler Bürger ist also, was ihr Verhältnis zur Marktwirtschaft angeht, nicht ganz frei von Schizophrenien.
Was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Bruchstelle in unserer Gesellschaft, diejenige, von der sich alle weiteren politischen Streitfragen ableiten lassen?
Die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt zweifellos eine zentrale Bruchstelle, allerdings weniger in dem Sinne, dass sich 99 Prozent einer verschwindend kleinen Schicht von Superreichen gegenübersehen; der Bruch verläuft in unseren Breiten eher zwischen einer gut ausgebildeten, sozial aktiven, vernetzten Mittelschicht und einer von dieser sozial, materiell, politisch und kulturell abhängigen Unterklasse.
Global sehe ich die Umsetzung von Demokratie als die größte Herausforderung an. Ob China demokratisch wird oder nicht, wird uns jedenfalls massiver beeinflussen als viele andere Fragen. Das gilt auch für die islamischen Länder.
Wie kommt es eigentlich, dass sich ein Historiker in erster Linie mit den Problemen der Gegenwart auseinandersetzt?
Historiker sind, jedenfalls, so wie ich diese Rolle verstehe, nichts anderes als Experten für Zeitverläufe. Wir können nicht aus der Vergangenheit einfach in die Zukunft extrapolieren, aber man gewinnt als Historiker ein Gefühl dafür, wie die Dinge sich verändern, wie Neues sich entwickeln könnte, ohne dass das Alte notwendigerweise verschwindet. Ein Blick in die Vergangenheit lehrt zum Beispiel, dass die Phase großer sozialer und ethnischer Homogenität in Europa und Nordamerika, der heute so viele nachtrauern, eine relativ kurze Periode in der Geschichte war.
Staaten und Gesellschaften im 16. und 17. Jahrhundert waren sehr viel heterogener und vielfältiger als das Europa der Nationalstaaten, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelte. Wenn wir uns daher heute damit beschäftigen, wie wir mit dieser durch die Globalisierung entstandenen neuen Buntheit und Unübersichtlichkeit zurandekommen, kann das Wissen um diese Vergangenheit recht nützlich sein. Genau deshalb finde ich die Kombination aus Historiker und Zeitdiagnostiker eigentlich gar nicht so außergewöhnlich; in Deutschland hat das durchaus Tradition, vor allem nach 1945, weil sich diese Generation auf keinen Fall den Vorwurf machen wollte, sie habe zu den Vorgängen der Gegenwart geschwiegen.
Im Unterschied insbesondere zu den angelsächsischen Ländern drehen sich intellektuelle Debatten in Deutschland und Österreich fast immer um die Vergangenheit. Warum beschäftigen sich Intellektuelle so ungern mit der Zukunft?
Dieser Vorwurf gilt nicht nur für unsere beiden Länder. Seit den 70er Jahren haben fast alle westlichen Gesellschaften einer naiven Form des Fortschrittsglaubens, wie er noch in den beiden Jahrzehnten davor blühte, den Rücken zugekehrt. Der teils futuristische Zukunftsoptimismus dieser Zeit hatte ausgedient. Und wenn die Verunsicherung steigt, dann wendet sich ein Großteil der Menschen in modernen Gesellschaften auf der Suche nach Sicherheit und Gewissheiten wieder der Vergangenheit zu. Das gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für ganze Gruppen in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft. Egal, ob die nordamerikanischen Indianer, Schwule, Roma und Sinti oder sonstige Minderheiten: Sie alle rechtfertigen ihre Forderung, gehört zu werden, mit einem Blick auf ihre eigene Geschichte. In Deutschland und Österreich kommt zu dieser Grundkonstellation noch die besondere Geschichte des Nationalsozialismus hinzu.
In Ihren Büchern und Vorträgen fordern Sie, dass sich die Menschen wieder auf die - wie Sie es nennen - "riskante Moderne" einlassen sollen. Dabei plädieren Sie für ein neues Verhältnis zwischen Staat und Bürgern, für eine Verantwortungskultur, in der der Einzelne und die Gemeinschaft nicht von vorneherein alles dem Staat übertragen, sondern selbst Verantwortung übernehmen. Das klingt toll, hat allerdings vor allem für die junge Generation einen Haken: Sie sollen nicht nur jetzt die Pensionen der Älteren finanzieren, sondern auch noch selbst vorsorgen und die angehäuften Schuldenberge abtragen . . .
Die Probleme bestehen, das lässt sich nicht leugnen. Allerdings ist es besser, darüber offen zu diskutieren. Sich die Leistungsfähigkeit staatlicher Versorgung bewusst zu machen, kann auch als notwendiger Prozess der Selbstaufklärung interpretiert werden. Den Jungen muss gesagt werden: Hey Leute, lebt nicht so in den Tag hinein, es gibt auch eine Zukunft, also bereitet Euch auf diese vor! Das zwingt zu schmerzhaften politischen Debatten, wie wir sie derzeit über die künftig zu erwartende Altersarmut und mögliche Rezepte dagegen führen. Dieses Problem betrifft vor allem diejenigen, die nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, selbst für das Alter vorzusorgen. Es liegt in der Natur eines Pensionssystems mit Umlageverfahren, dass angesichts der demografischen Verschiebungen mit der staatlichen Rente nicht das Auslangen zu finden ist.
In der Demokratie entscheiden Mehrheiten über Minderheiten - und die Jungen und ihre Interessen werden zu einer strukturellen Minderheit.
Dieses Problem gibt es, aber es lässt sich nur mit demokratischen Mitteln lösen, indem offen und transparent darüber diskutiert wird. Dass dies möglich ist, haben mehrere europäische Länder bereits unter Beweis gestellt, etwa Schweden mit seiner Pensionsreform, und durchaus auch Deutschland mit den Hartz-Reformen. Auch die derzeit in Europa heiß debattierte Frage der Einführung einer Schuldenbremse muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Nur in einer Demokratie ist ein Diskurs samt anschließenden politischen Entscheidungen über die Frage, wie eine gerechte Gesellschaft im Jahr 2030 aussehen soll, möglich. In Nordkorea finden Sie weder das eine noch das andere.
Es gibt allerdings nicht nur das allseits gelobte skandinavische Modell oder die Sozialpartnerschaften in Deutschland und Österreich. In Italien und Griechenland scheiterten Generationen an gewählten Politikern daran, ihr Land zu reformieren - mit dem Ergebnis, dass zum Teil demokratisch nicht legitimierte Technokraten die schmerzhaften Maßnahmen umsetzen müssen. Und auch in Europa halten sich die Entscheidungsfindungsprozesse in der Krise nicht immer an das vorgeschriebene demokratische Prozedere.
Demokratie kann und darf sich nie mit formalen Argumenten zufrieden geben, aber ich warne doch davor, jetzt von der "bloß formalen bürgerlichen Demokratie" zu reden. Vor allem unter neo-marxistischen Linken ist das in Mode gekommen, und leider ist davor auch der von mir hochgeschätzte Jürgen Habermas nicht gefeit. Diese Kritik der 68er Generation wird jetzt von einigen linken Intellektuellen recycelt. Für mich bedeutet dieses Gerede von einer "nur formalen Demokratie" eine Geringschätzung der Grund- und Freiheitsrechte jedes Einzelnen. Ich plädiere hier für mehr Vorsicht bei der Wortwahl. Das ändert aber natürlich nichts daran, dass auch mir die Entwicklung der Demokratie in den südeuropäischen Ländern Sorgen bereitet. In Italien zeigt sich, in welch verheerendem Zustand Berlusconi sein Land hinterlassen hat.
Sie werben für ein Konzept für ein gutes, ein gelungenes Leben, in welchem Wohlstand eine weniger wichtige Rolle spielt. Was bedeutet es denn für Sie, ein "gutes Leben" zu führen?
Natürlich spielen Fragen der materiellen Sicherheit, des Einkommens auch in Zukunft eine tragende Rolle, aber wir sollten davon wegkommen, unsere Situation fast ausschließlich nach solchen Kriterien auszurichten. Fragen der Nachhaltigkeit, des persönlichen Glücks, Gesundheit, Freunde, Familie, müssen wieder miteinbezogen werden. Ich bin da aber selbst hin- und hergerissen. Es wird nie so sein, dass Fragen des materiellen Wohlstands und persönlicher Zufriedenheit ganz voneinander getrennt oder abgelöst werden können. So wie Diogenes das gemacht hat, der zum Glück in seiner Tonne nur brauchte, dass ihm kein Fremder die Sonne verdeckte, wird sich das heute nicht mehr organisieren lassen. Das wäre weder wünschenswert noch mehrheitsfähig.
Welche staatliche Ordnung wird es auf dem Weg zu einem solchen glücklichen Leben brauchen?
Auf jeden Fall einen aufmerksamen Staat, einen, der die richtigen Rahmenbedingungen für Wettbewerb setzt, aber nicht ohne Not versucht, alles selbst zu erledigen und für jede Dienstleistung ein staatliches Angebot schafft. Ein solcher Staat wird sich künftig aber nicht mehr national organisieren lassen, das muss europäisch und teils sogar darüber hinaus bewältigt werden.
Die Erfahrung lehrt, dass es uns sehr schwer fällt, staatliche Ordnung in ihrem Ausufern zu beschränken. Österreich hatte vor dem EU-Beitritt mit Gemeinden, Bezirksverwaltungen, Ländern und Bund vier Verwaltungsebenen. Mit dem EU-Beitritt kam einfach eine fünfte hinzu.
Zweifellos stimmt, dass staatliche wie politische Strukturen komplizierter werden, die verschiedenen Ebenen überlappen und überlagern sich. Staatliche Ebenen fallen nicht weg, sondern lagern sich sedimentartig übereinander ab, ältere werden allenfalls zusammengepresst und ausgedünnt.
Das eigentliche Problem ist, dass diese verschiedenen Ebenen von Staatlichkeit heute immer weniger kompatibel sind, während wir gleichzeitig noch keinen wirklichen Begriff von europäischer Staatlichkeit besitzen; und es ist, aus heutiger Sicht, auch noch durchaus offen, ob wir einen solchen künftig benutzen können. Darin liegt ein enormes Abstimmungsproblem, einfach weil es keine klare hierarchische Ordnung gibt, wie wir das vom gewachsenen Nationalstaat alter Prägung gewohnt waren.
Europäische Solidarität ist dank der Finanz- und Schuldenkrise mittlerweile zu einem wirkmächtigen Slogan geworden. 1989, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, war das noch ganz anders, obwohl die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Einbruchs sehr viel brutaler waren als heute. Was hat sich zwischen 1989 und 2012 in den Köpfen der Europäer verändert?
Der Unterschied liegt darin, dass die ehemaligen kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas zuerst die Krise durchlebten und Reformen umgesetzt und erst dann sich auf den Weg in die EU gemacht haben. Bei den Staaten Südeuropas war der Transformationsprozess ein völlig anderer, hier ging es zunächst einmal darum, Griechenland, Spanien und Portugal zu demokratisieren, sie von ihren reaktionären Diktaturen zu befreien, demgegenüber hatten wirtschaftliche Reformen keine Priorität, da ja das System durch europäische Subventionen stabilisiert wurde. So gesehen hat Europa seine Solidarität mit dem Süden bereits geleistet, jetzt geht es darum, die ökonomischen Veränderungen umzusetzen.
Welches Europa wird aus der Krise entstehen?
Ein gestärktes, daran besteht insofern kein Zweifel, weil wir an der Implementierung eines stärkeren Europas bereits arbeiten, in der Fiskalpolitik, bei der Bankenaufsicht, das wird auch vor den demokratischen Strukturen nicht Halt machen. Die Frage wird dann sein, was in diesem Zusammenhang ein stärkeres Europa bedeutet und wie die Bürger das empfinden. Wird das nur zu immer mehr bürokratischen Regelungen und Vorgaben aus Brüssel führen, die bisher schon von den Menschen skeptisch betrachtet wurden, oder werden die Strukturen der EU bürgernah und demokratisch umgebaut ? Die bereits laufende ökonomische Vertiefung der EU demokratisch nachzuvollziehen - das wird die große Herausforderung sein. Aber es wird kommen.
Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> Paul Nolte, geboren 1963 in Geldern, Nordrhein-Westfalen, lehrt als Professor für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der deutschen, amerikanischen und vergleichenden Politik- und Sozialgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts.
Nolte promovierte - nach Studien in Düsseldorf, Bielefeld und Baltimore/USA - 1993 und arbeitete als Assistent von Hans-Ulrich Wehler; 1999 habilitierte er sich für Neuere Geschichte in Bielefeld.
Mit Büchern wie "Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik" (2004) und "Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus" (2006) hat sich Nolte als neo-konservativer Vordenker in der Öffentlichkeit positioniert, der eine neue Wertedebatte anstoßen will. Sich selbst bezeichnet der jugendlich wirkende 49-Jährige als "neokonservativ mit Sympathie für schwarz-grüne Bündnisse".
TV-Talker Harald Schmidt verhalf Noltes Begriffsschöpfung "Unterschichtenfernsehen" zu massenmedialer Verbreitung. Weder verwandtschaftliche noch inhaltliche Bezugspunkte gibt es zwischen Nolte und seinem konservativen Namensvetter Ernst Nolte (geboren 1923), an dessen Thesen sich der deutsche Historikerstreit in den 1980er Jahren entzündete.
Paul Nolte ist geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft" und wirkt seit 2009 (ehrenamtlich) als Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin. Er ist mit der Historikerin Monika Wienfort verheiratet. Nolte war auf Einladung der Julius-Raab-Stiftung in Wien.