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Paul Valéry - Verwalter der vagen Dinge

Von Rudolf Bretschneider

Reflexionen
Paul Valéry (1871-1945) auf seinen Gedankengängen zu folgen, erfordert Übung - doch es lohnt sicht.
© ullstein bild / adoc-photos

Zur Aktualität des Dichter-Denkers anlässlich seines 150. Geburtstages am 30. Oktober.


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"Dummheit ist nicht meine Stärke." Das ist der Eröffnungssatz für eine Folge von Skizzen, die der 23-jährige Paul Valéry mit "Der Abend des Monsieur Teste" beginnt; deren namengebende Figur wird auch in späteren Texten auftauchen und einen kleinen Zyklus zusammenhalten.

Teste, das ist der scheinbar teilnahmslose Beobachter, eine Art monsieur le vivisecteur, den nicht die fertige Theorie interessiert, sondern die Möglichkeiten, die sich daraus vielleicht ergeben. Was leicht ist, interessiert ihn nur am Rande. Er freut sich des Denkens, des Bewusstsein des Denkens und der Hoffnung, geistige Gesetze zu entdecken.

Bei der Abfassung seiner ersten "Teste-Stücke" hat Valéry bereits erfolgreich eine Lebensphase als Lyriker begonnen. Er hatte im Kreis seines verehrten Meisters Stéphane Mallarmé Anerkennung gefunden. Aber er begeistert sich auch für das Denken und den Stil von René Descartes und für Leonardo da Vinci, dessen schöpferischem Genie und Forschungsdrang er einen begeisterten Essay widmet.

Nach einer persönlichen Krise wendet sich Valéry für lange Zeit von der Lyrik ab. Er geht seiner Vorliebe für Mathematik nach und den Phänomenen des Bewusstseins; beschäftigt sich mit Physiologie und Psychologie, Medizin und Philosophie. Man hat den Eindruck, die Welten der Wissenschaft und des Denkens dienten ihm als Abwehrkräfte gegen die wahrgenommene Gefahr allzu übermächtiger Sensibilität.

Gedanken am Morgen

Allein, er will auch diese entwickeln; und das "Leben des Verstandes stellt ein unvergleichliches lyrisches Universum dar, ein umfassendes Drama, in dem weder Abenteuer noch Leidenschaft fehlt" (Descartes). In täglichen frühmorgendlichen Eintragungen in seine "Cahiers" notiert er Ideen, Überlegungen zu Theorien, Reflexionen oder oft auch nur Stichworte für den späteren Gebrauch. Diese Arbeit steht unter dem Leitsatz: "Die anderen machen Bücher, ich mache meinen Geist."

Diese Auswahl aus den "Denkheften" gibt es nur mehr antiquarisch.
© Die Andere Bibliothek

Größere Werke verfasst er nicht. Gelegentlich erscheinen Aufsätze oder Transkripte von Reden. Den Lebensunterhalt für die Familie bestreitet er aus einer Teilzeittätigkeit bei der Nachrichtenagentur Havas. In der französischen Kulturwelt erlangt er trotz seiner spärlichen Veröffentlichungen eine gewisse Berühmtheit. Im Ausland wissen nur Kenner um ihn.

Großen Erfolg hat er mit dem sehr langen Gedicht "Die junge Parze". Zur Herausgabe seiner frühen Gedichte und zur Wiederaufnahme seiner dichterischen Tätigkeit hatte ihn sein Jugendfreund André Gide gedrängt. Aber selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Rolle des Lyrikers in Frankreich eine besondere ist, bleibt es doch erstaunlich, dass wenige (noch dazu nicht gerade "leichte") Gedichte eine gewisse Legende begründen können.

Auch später verfasst Valéry außer dem Teste-Zyklus nichts Romanähnliches, nur ein paar "Dialoge" (etwa zu Architektur, Tanz, Medizin und "Die Fixe Idee") und Theaterfragmente ("Mein Faust" und das von Arthur Honegger vertonte Stück "Amphion").

Aber auch diese Werke hätten wohl nicht ausgereicht, aus Valéry jene Inkarnation französischen Geistes zu machen, als die er von vielen Menschen angesehen wurde. Er schreibt, meist auf Aufforderung, viele Essays, hält Reden über Personen und Werke, über Poetik und Geschichte. Er äußert sich zu Fragen der Geschichte und dem Thema des "europäischen Geistes". Vor der Philosophie hat er Scheu und dennoch setzt er sich mit ihrer Wirkung auseinander. Er behandelt die Schwierigkeit des religiösen Glaubens und unternimmt doch (vor allem in den "Cahiers") gedankliche Anstrengungen zum Entwurf eines ihm adäquaten Gottesbegriffs.

Man könnte Valéry mit dieser von ihm entworfenen sozialen Rolle beschreiben: "In jeder Gesellschaftsordnung tritt einer auf, der als Verwalter der vagen Dinge eingesetzt ist. Er destilliert sie, gliedert sie, versieht sie mit Methoden, Symbolen, Versmaßen, geistlichen Übungen."

Valéry hat sich nicht in die Öffentlichkeit gedrängt. Zu vielen Auftritten wurde er gerufen. Er nahm an Tagungen teil, reiste ab den Zwanzigerjahren zu Konferenzen nach Wien, Berlin, Madrid, London, Genf, Zürich. Aber die wachsende Berühmtheit, die er samt den Ehrungen durchaus genießt, scheint ihn wegen der damit verbundenen Verpflichtungen auch zu bedrücken.

Durch seine Begegnungen nicht nur mit Werken, sondern vor allem mit Menschen, die für ihn die Kultur Europas verkörpern, wird er, der glühende Verehrer der provençalischen Welt, geprägt durch Meer und Licht, zu einem Vertreter einer europäischen Idee. Für sich selbst notiert Valéry einmal: "Keine politische Farbe. Ich liebe nur weißes Licht"; und ein andermal: "Ego - rechts dem Instinkt nach - links dem Geist nach."

Zwei Verse aus "Naissance de Vénus".
© Kolossus / CC BY-SA 3.0 / https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0 / via Wikimedia Commons (Ausschnitt)

Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hat auch ihn geprägt. 1926 ist er bei einer Tagung des "Kulturbundes" in Wien. Ziel dieser Vereinigung, die Personen unterschiedlicher beruflicher und politischer Orientierung zusammenbringt, ist eine Annäherung der Völker Europas. Er trifft unter anderen Ernst Robert Curtius, der ihm im deutschsprachigen Raum zu einiger Reputation verholfen hat; Hugo von Hofmannsthal, der sich ihm als Übersetzer anbietet (Rainer Maria Rilke hatte schon einige Gedichte, darunter das berühmte "Friedhof am Meer" übertragen); er macht die Bekanntschaft des bereits als Staatstheoretiker bekannten Carl Schmitt.

In seiner Ansprache, für die ihn Hofmannsthal als "Dichter-Denker" vorstellt, sagt Valéry: "Es gilt zu versuchen, etwas im Zustand der Geister in Europa zu ändern. Europa hat sich nicht ohne einen gewissen Geist gemacht, der es ihm erlaubt hat, einen beispiellosen Grad der Zivilisation zu erreichen." In der gegenwärtigen Situation der Unsicherheit, des Zweifels und der inkohärenten Politik bedürfe es der Menschen des Geistes (hommes d’ésprit), um Europa zu dienen und bewusst zu machen, dass es etwas von Wert zu retten gebe.

Sein europäisches Engagement wird schon 1919 in dem zeitkritischen Essay "Die Krise des Geistes" sichtbar. Er beginnt mit dem Satz: "Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, dass wir sterblich sind." Der Glaube an eine europäische Kultur sei dahin, die sittlichen Ansprüche der Wissenschaft seien tödlich getroffen durch die Grausamkeit ihrer praktischen Anwendung. "Das Schwanken des Schiffes war zu stark, dass auch die am sichersten aufgehängten Laternen erloschen ... Nach der Verzweiflung die Suche."

"Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlands? Oder aber wird Europa weiter bleiben, was es scheinbar ist: der kostbarste Teil unserer Erde, die Krone unseres Planeten, das Gehirn eines umfangreichen Körpers?" Europäer nennt Valéry alle Völker, die in ihrer Geschichte folgende drei Einwirkungen erlitten haben: die römische, das Christentum und die Methode des Denkens, die wir Griechenland verdanken. Aber zu Europa gehören auch seine "inneren Geschenke": "Die Geister der großen europäischen Nationen sind gegenseitige Schuldner und Gläubiger."

Kultur anwenden

Aber damit das "Gerät der Kultur" zum Kapital wird, bedürfe es - so schreibt er 1939 - Menschen, die damit auch umgehen können. Es sei jedoch eine Krankheit der Kultur, ihren Reichtum der Hektik der Welt zu unterwerfen: Diese würde vorangetrieben durch übersteigerte Mittel der Kommunikation; Menschen mit Geschmack würden rar und zögen sich zurück. Valéry wäre erstaunt, würde er den "rasenden Stillstand" (Paul Virilio) von heute erleben. Er verstand Kultur nicht als Form der Unterhaltung, sondern als Hilfe zur Selbstkultivierung.

Aber erklären Valérys öffentliche Aktivitäten seinen Ruhm? Seine kleinen Gedankensammlungen aus den "Cahiers" sind sicher populär, eignen sich vorzüglich für Zitate, sind anregend. Hohes Ansehen begründen sie schwerlich. Wodurch entsteht der Nimbus, der ihn umgibt? Ist es seine Absenz von dem, was man heute Mainstream nennen würde? Der Ruf, schwer, aber intelligent zu sein? Ist es sein Charme, sein selbstverständlicher Umgang mit bedeutenden Geistern seiner Zeit? Seine Nicht-Eindeutigkeit? Seine spezielle Sprache, die manchmal an "wissenschaftliche Poesie" oder "dichterische Wissenschaft" denken lässt?

Welchen Rang er in den Augen mancher seiner politischen Zeitgenossen einnahm, zeigt die Überlegung Jean Moulins (Präsident des nationalen Rats der Résistance), Valéry als Symbol der nationalen Einheit und für den Glanz Frankreichs an die Staatsspitze zu bringen. Und auch ein Staatsbegräbnis in großem Stil (1945) war ein Zeichen für die Rolle, die man ihm zugewiesen hatte; ihm, der so gern mit sich allein oder mit einem geliebten Menschen war.

Valéry zu lesen ist anstrengend; die Gedichte sind oft nur schwer zugänglich - auch die von Rilke oder Celan übertragenen. Das fürs Theater Verfasste eignet sich nicht für Regietheater mit Aktion oder Lärmentfaltung. Die "Dialoge" verlangen ganze Aufmerksamkeit für das Wechselspiel der Gedanken und zumindest eine gewisse Vertrautheit mit Valérys Ideen. Die Sammlungen von Sätzen, Absätzen und Aphorismen scheinen leicht, vermögen aber auch zu verwirren und lassen manchmal nach dem Geisteszustand des Herrn fragen, der da spricht. Die Eintragungen in den Heften sind oft kryptisch und nur dem Schreiber vertraut, der die Fragen mit sich trägt, auf die er Antworten zu finden versucht.

Lohn der Übung

Was kann man sich also von aufmerksamem, langsamem Valéry-Lesen erwarten? Nicht wenig! Die Begegnung mit einer Person, die sich entschlossen geistige Ziele setzt, die unentwegt die eigenen Bewusstseinsprozesse erforscht, beobachtet und reflektiert ("Wie viele Herren es gibt, zu denen man im Laufe seines Lebens ,Ich‘ sagt"). Man kann die Spannung zwischen der kreativen Sprachformung und der klaren Analyse mitfühlen (na ja, nur bedingt).

Man erahnt, wohin die angestrebte Ausdehnung des "Möglichkeitssinns" (der bei Valéry nicht so heißt) führen kann. Man begreift (gelegentlich) die Verzweiflung und Resignation eines Strebenden, der zu deprimierenden Selbsteinsichten kommt.

Ich habe mich gefragt, weshalb ich "Valéry-Lesen" geübt habe (ja, man muss ein wenig üben, wie fast bei allem, das interessant ist) - und bin zu folgendem, vorläufigem Ergebnis gekommen:

Er ist um Wahrhaftigkeit bemüht, sich selbst gegenüber und beim Urteil über andere Menschen. Er will nicht vorschnell urteilen. Er strebt nach Klarheit im Ausdruck, nach Präzision und will dabei sprachliche Kreativität nicht verleugnen. Er versteht, elegant zu schreiben. Er hat wunderbare menschliche Schwächen. Er ist ein politischer Mensch, der nicht als politisches Vorbild gelten will. Er hat ein hohes Kulturverständnis, weit entfernt von anything goes oder stücke- oder musikzerstörender Exzentrik.

Und er versucht, Sprache zu komponieren, "als reines Werk der ewigen Bedingung wird Zeit zum Glanz und Traum zur Wissenschaft" ("nachkomponiert" von Rainer Maria Rilke).

Rudolf Bretschneider, geboren 1944, ist Sozialforscher. Er war von 1973 bis 2007 Geschäftsführer und anschließend Konsulent von GFK-Austria.