Der Schriftsteller und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer über den entscheidenden Umgang mit Sprache in seinen beiden Fachgebieten, über den konstruktiven Umgang mit Aggressionen - und darüber, wie die Realität die Fiktion übertrifft.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Nach Ansicht von Marcel Reich-Ranicki sind sowohl Literaten als auch Mediziner Fachleute für das menschliche Elend. Demzufolge sei es nahe liegend, dass es zwischen diesen beiden Berufsgruppen erstaunlich viele Berührungspunkte gibt. Welches Interesse war bei Ihnen zuerst da: jenes für die Literatur oder jenes für die Medizin?
Paulus Hochgatterer: Eindeutig jenes für die Literatur. In der Selbsterforschung, die man als Kinderpsychiater natürlich gern in die eigene Kindheit hinein betreibt, stößt man in Hinblick auf die Literatur klarerweise zuallererst auf die eigene Lektüreerfahrung und auf die Geschichten, die einem von den Eltern vorgelesen wurden. Gleichzeitig spielte in unserer Familie das Erzählen der eigenen Geschichten eine große Rolle. Das war in meiner Kindheit etwas, das ich in der Erinnerung sehr mit Lust verbinde. Die Geschichten aus dem Leben meiner Eltern erzählt zu bekommen, war mindestens ebenso wertvoll, wie wenn ich Märchen aus Grimms Märchenbüchern vorgelesen bekam.
Ist diese Lust an realen Geschichten auch mit Ihrem Schreiben verbunden?
Es ist insofern mit meinem Schreiben verbunden, als ich - wie jeder, der schreibt- auch über mich selbst schreibe und dies nicht als unlauter empfinde, sondern als etwas, das Wert hat.
Als Leser hat man schon allein deswegen eine Nähe zu Ihnen als Autor, weil die Protagonisten in Ihren Büchern oft Psychiater sind.
Zu Recht! Mit Psychiatern kenne ich mich einigermaßen aus. Warum sollte ich also nicht über Psychiater schreiben?
Lesen Ihre Ärzte-Kollegen Ihre Bücher?
Ja, inzwischen geben sie es auch zu. Und mein Eindruck ist, dass sie den meisten gefallen.
Die Kollegenschaft bzw. der Spitalsbetrieb kommt in Ihren Romanen ja nicht immer gut weg.
Die Medizin hält das schon aus, und die Psychiatrie hält das, glaube ich, erst recht aus, wenn man sich ein bisschen lustig macht über sie.
Inwiefern unterscheidet sich der diagnostische Blick beim Schreiben von jenem in Ihrer Arbeit als Kinderpsychiater?
So unterschiedlich ist das gar nicht. Sowohl beim Schreiben als auch in der Psychiatrie kommt es sehr auf phänomenologische Dinge an. Es dreht sich somit um die Frage: Wie stellen sich Menschen oder Dinge dar? Was sieht man an der Oberfläche? Das ist für beide Bereiche wichtig. Und das wirklich Entscheidende sind dann jene Dinge, die zwischen den Zeilen oder zwischen den Worten stehen.
Der Umgang mit Sprache ist also da wie dort ganz entscheidend.
Genau. Diesbezüglich gibt es zwischen Psychiatrie und Schreiben viele Parallelen.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Speziell in der Kinderpsychiatrie, also im Umgang mit traumatisierten, das heißt mit misshandelten oder missbrauchten Kindern, sind jene Botschaften am wichtigsten, die zwischen den Worten herauszulesen sind. Traumatisierte Kinder erzählen fast nie explizit, was ihnen widerfahren ist. Und daher ist es die Aufgabe oder die Kunst des Behandlers, zu hören, was diese Kinder zwischen den Worten sagen, die sie tatsächlich aussprechen. Und für das Beschreiben derartiger Phänomene gilt im Grunde genau das Gleiche: Das Explizite ist das eine - und das, was der Leser zwischen den Worten spürt oder was durch das Explizite in ihm hervorgerufen wird, das ist das eigentlich Wichtige.
Was fällt Ihnen leichter: das Schreiben oder das Heraushören von Botschaften?
Manchmal das eine, manchmal das andere.
Anton Tschechow zählte ebenfalls zum Kreis jener Persönlichkeiten mit der Doppelbegabung Literatur und Medizin. Von ihm stammt der Satz: "Die Medizin ist meine gesetzliche Ehefrau, die Literatur meine Geliebte". In welcher Beziehung stehen Sie zu diesen beiden Berufen?
Wenn man den Formalisierungsgrad der Erwerbstätigkeit als Kriterium nimmt, dann ist es sicher so, dass die Medizin, also die Psychiatrie meine Ehefrau und die Literatur meine Geliebte ist. Aber als jemand, der nun fast 25 Jahre verheiratet ist, muss ich sagen, es spricht ja auch nichts dagegen, dass die Ehefrau trotz langjähriger Beziehung die Geliebte bleibt. Ich habe jedenfalls zu beiden Bereichen eine hochlibidinöse Beziehung, sowohl zur Literatur als auch zur Psychiatrie.
Obwohl, wie ich vermute, die Arbeit mit traumatisierten Kindern auch belastend ist?
Das ist die eine Seite. Aber die Arbeit mit Kindern ist einfach für all jene gesund, die es mit Lust tun. Rein statistisch weiß man, dass jene Menschen, die mit Kindern arbeiten, deutlich die höchste Lebenserwartung haben.
Die einzige Ausnahme in dieser Statistik sind die Klosterschwestern, die durchschnittlich überhaupt am längsten leben. Aber sonst: Kindergärtnerinnen, Grundschullehrer - all das sind Menschen mit hoher Lebenserwartung.
Und wie sieht es mit der statistischen Lebenserwartung von Kinderpsychiatern aus?
Das ist so eine kleine Gruppe, die wurde bis jetzt nicht erfasst.
Anfang der 1990er Jahre betreuten Sie Maria K., die von Ihrer Adoptivmutter regelmäßig in eine sargähnliche Holzkiste gesperrt wurde. Dieser Fall ging damals wochenlang durch die Medien. Haben Sie noch Kontakt zu dieser Frau?
Ich hatte einige Zeit noch losen Kontakt zu ihr, heute allerdings nicht mehr. Sie hat ihr Leben in die Hand genommen, denke ich.
Ihr letztes Buch, "Das Matratzenhaus", handelt vom Thema Kindesmissbrauch. Wie darf man sich die Herangehensweise an ein derartiges Werk vorstellen, wenn berufliche Realität und literarische Fiktion doch ziemlich nahe beieinander liegen?
Ich habe gelernt, mit der Trennung dieser beiden Welten zurechtzukommen. Die Trennung ist in Wahrheit eine minimale, die auf formale Notwendigkeiten beschränkt ist. Diese ergeben sich natürlich aus dem Diskretionsgebot den realen Kindern gegenüber, mit denen ich zu tun habe. Es geht nicht, dass Kinder, die in meinen Büchern vorkommen, identifizierbar sind. Das muss selbstverständlich getrennt werden. Aber ansonsten sind dies notwendigerweise zwei Welten, die sehr viel miteinander zu tun haben.
In Opfersituationen ist es ganz selten, dass ein Racheakt gegenüber dem Peiniger gesetzt wird. Im "Matratzenhaus" zeichnen Sie die Figur eines misshandelten Mädchens, das sehr wohl zu einer Vergeltungstat in der Lage ist. Spielte hier ein utopischer Wunsch mit?
Ja, das ist ein Wunsch, der ganz viel von einer Utopie hat, weil es Tatsache ist, dass sich missbrauchte Kinder nicht rächen. Einerseits ist es utopisch, andererseits etwas, das ich mir in diesem Buch einfach gestatte. Gerade als Behandler solcher Kinder darf man gelegentlich Fantasien von Vergeltung und Rache haben.
Was ist die Ursache, dass misshandelte Kinder auch im Erwachsenenalter keine Vergeltungstaten gegenüber Ihren Peinigern setzen?
Der Primäraffekt in diesen Missbrauchsituationen ist die Angst. Und der primäre Schutzmechanismus, der diesen Kindern das Überleben sichert, ist - so schwierig das auch zu verstehen ist - die Identifikation. Die Kinder überleben, weil sie sich teilweise mit ihrem Misshandler identifizieren. Das gewährleistet auch, dass es oft Kaskaden von Missbrauch in Familien gibt.
Sind Schadensersatzforderungen überhaupt eine Form von Genugtuung oder nur ein Tropfen auf den heißen Stein?
Das Symbolische an diesen Akten der materiellen Vergeltung ist immer noch das Wichtigere. Materielles lässt die Wunden nicht heilen, die diesen Kindern zugefügt wurden.
Umgekehrt gefragt: Wie geht man als Kinderpsychiater mit dem Thema Wut um? Sie haben ja sicherlich auch mit Tätern zu tun.
Da Kinderpsychiatrie ohne Arbeit mit den Angehörigen nicht möglich ist, haben wir notwendigerweise auch mit den Tätern zu tun. Und da muss man eben schauen, wie man mit den unangenehmen eigenen Gefühlen zurechtkommt. Das ist manchmal nicht so einfach.
Sowohl das Schreiben als auch Ihre Arbeit als Psychiater sind sehr kopflastige Tätigkeiten.
Das stimmt. Wenn mir etwas wirklich Lust bereitet, dann ist es, meinen Kopf anzustrengen. Und wenn es für mich eine echte Horrorvorstellung gibt, was mein Altern betrifft, dann ist es, dement zu werden. Die Fähigkeit zu verlieren, zu denken, zu reflektieren, mich mit Dingen kritisch auseinander zu setzen, das wäre wirklich schlimm. Mich lustvoll cerebral zu betätigen, ist sehr zentral für mich.
Sie sind Primarius am Landesklinikum Tulln für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wann finden Sie da überhaupt Zeit zum Schreiben?
Das frage ich mich manchmal auch. Ich bin leider von Natur aus kein ausgesprochener Nachtmensch, aber manchmal geht es nicht anders. Oder ich schreibe in der Zeit, die andere Freizeit nennen.
Ihre letzten beiden Krimis sind in einer fiktiven Kleinstadt namens Furth am See angesiedelt. Warum nicht in einer Großstadt?
Weil ich glaube, dass überschaubare menschliche Biotope bestimmte Dinge leichter illustrierbar machen. Man kann, meiner Meinung nach, in einer Gemeinschaft von wenigen Menschen bestimmte Dinge besser zeigen als in einer Großstadt.
Das heißt aber nicht, dass in einer Großstadt weniger schreckliche Dinge hinter verschlossenen Türen passieren als in einer Kleinstadt?
Das heißt es gar nicht. Es war vermutlich auch eine Entscheidung, die aus meinem persönlichen Bezug zu dieser Form von Zusammenleben herrührt. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und kenne dieses seltsame Wechselspiel aus Nähe und Distanz. Die Leute kennen einander, tun aber trotzdem so, als wäre es nicht so. Das ist das Seltsame an Kleinstädten.
Nun wohnen Sie in Wien?
Ja, meine Frau ist Wienerin und ich schätze es sehr, in Wien zu leben und nicht alle Menschen zu kennen.
In Ihrem Roman "Eine kurze Geschichte von Fliegenfischen" geben Ihre Protagonisten in inneren Selbstgesprächen zum Teil sehr kühne Gedanken preis. Diese Imaginationen führen wie ein roter Faden durch das Buch. Und im "Matratzenhaus" fällt der Satz: "Nichts ist psychohygienisch so sinnvoll wie eine ordentlich aggressive Phantasie."
Ja, das ist ganz wichtig und auch ein zentrales Thema in der Psychotherapie und Psychiatrie. Aber man muss Imagination und Realität auseinander halten. Das wird oft verwechselt. Aggressive Phantasien sind in der Entwicklung von Kindern, aber auch im späteren Leben etwas Notwendiges. Es ist nicht so, dass aggressive Phantasien notwendigerweise aggressive Handlungen auslösen. Im Gegenteil, das Umgekehrte ist die Regel. Aggressive Phantasien machen eine Handlung unnötig.
Was läuft im Kopf eines Menschen falsch, wenn aggressive Phantasien doch ausgelebt werden? Was macht den kriminellen Menschen aus?
Das sind in der Regel Menschen, die mit den Verletzungen in ihrer eigenen Geschichte nicht zurechtkommen. Und der Motor zur Tat sind die Gefühle, die ihnen früher nicht möglich waren, und die haben oft sehr viel mit Aggression zu tun.
Wer katholisch erzogen wurde, ist meistens mit dem Satz aufgewachsen, dass auch Gedanken sündig sein können.
Die katholische Gedankensünde hat in der Psychiatrie nichts verloren. Das verträgt sich nicht.
Sie ermutigen in Ihrer Arbeit also zur gedachten Wut-Phantasie?
Ja.
Nach dem Amoklauf auf der Insel Utoya haben norwegische Handelsketten brutale Computerspiele aus ihrem Sortiment genommen. Erachten Sie eine derartige Maßnahme als sinnvoll?
Das spiegelt dieses seltsame Bedürfnis nach einfachen Lösungen. Man glaubt, indem man das Übel auf irgendetwas Einfaches projiziert, es auf diesem Weg lösen zu können.
Eine derartige Maßnahme bringt Ihrer Ansicht nach also gar nichts?
Nein, das bringt gar nichts. Aggression ist ein Phänomen, das uns allen zueigen ist. Der Mensch ist ein aggressives Wesen. Und daher ist es ein ganz wichtiges Entwicklungspensum, mit dieser Aggression umgehen zu lernen. Sie zu verdrängen, sie zu verleugnen und in irgendwelche Verbotskataloge zu verbannen, bringt aus psychiatrischer Sicht gar nichts - außer Schwierigkeiten. Im Gegenteil: Man sollte den Menschen, und schon den Kindern, einen konstruktiven Umgang mit Aggression ermöglichen.
Gibt es eine Art Vorsorgemedizin in psychischer oder psychiatrischer Sicht?
Den Gedanken der Prävention hat es immer gegeben. In machen Schulen gibt es auch schon sogenannte institutionalisierte Konfliktcoaches, also Streitschlichter. Konkret sind das Schüler, die ein eigenes kleines Curriculum durchlaufen und in Schulen an jenen Stellen eingesetzt werden, an denen Konfliktherde sichtbar werden. Aber nicht - und das finde ich das Sinnvolle -, um diese Konflikte sofort einzudämmen und auszulöschen, sondern um das konstruktive Austragen dieser Konflikte zu ermöglichen. Das ist wirklich präventiv.
Ziel dieser Maßnahme ist es also, schon im Jugendalter eine Streitkultur zu lernen.
Genau, eine Streitkultur, die auf schwerere und nachhaltige Verletzung verzichtet.
In welchem Alter sollte man Ihrer Meinung nach beginnen, einen konstruktiven Umgang mit dem eigenen Aggressionspoten-zial zu erlernen?
Alle Menschen, die Kinder haben, wissen, dass die Aggression irgendwann im dritten Lebensjahr einsetzt. Wenn der Maxi oder die Marie im Supermarkt brüllen und gegen das Regal treten, weil sie die Zuckerl nicht bekommen, die sie gerne hätten. Da beginnt es.
Wäre in diesem Alter schon erkennbar, dass ein Kind einen derartigen Wahnsinn in sich trägt, wie es offensichtlich bei Anders Breivik der Fall ist?
Ich würde warnen, aus diesen schrecklichen Geschichten allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich weiß von Breivik zu wenig, um auch nur annähernd erklären zu können, warum dieser Mensch so geworden ist, warum er zu so einer Tat imstande war.
Henning Mankell hat in einem "Spiegel"-Interview gemeint, hätte er sich für ein Buch eine Szenerie ausgedacht, wie sie in Norwegen passierte, hätten dies die Leser für völlig unglaubwürdig gehalten. Glauben Sie ebenfalls, dass man dem Leser so einen Plot nicht zumuten kann?
Nein, dem Leser kann man alles zumuten, das ist ja das Nette am Produzieren von Literatur. Aber ich habe ebenfalls oft den Gedanken: ,Das nimmt mir der Leser nicht ab, das wird als verstiegen und unglaubwürdig gelesen. Ich halte es durchaus für möglich, dass vor Kampusch und Fritzl Kollegen daran gedacht haben, derartige Kellergeschichten zu schreiben. Aber gemacht hat es - meines Wissens nach - keiner. Da war die Realität einfach viel fürchterlicher als die Fiktion.
Zur Person
Paulus Hochgatterer, geboren 1961 in Amstetten, lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Seit 2007 steht er der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tulln/NÖ als Primar vor.
Im Verlag Deuticke sind bisher folgende Bücher von ihm erschienen: "Über die Chirurgie" (Roman, 1993, Neuauflage 2005), "Die Nystenische Regel" (Erzählungen, 1995), "Wildwasser" (Erzählung, 1997), "Caretta caretta" (Roman, 1999), "Über Raben" (Roman, 2002), "Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen" (Erzählung, 2003), "Die Süße des Lebens" (Roman, 2006) und "Das Matratzenhaus" (Roman, 2010).
Paulus Hochgatterer hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Literaturpreis der Europäischen Union 2009 und den Österreichischen Kunstpreis 2010.
Christine Dobretsberger, 1968 in Wien geboren, ist freie Journalistin und Autorin. Zuletzt sind von ihr die Bücher "Polizisten weinen nicht" und "Geschichten, die die Schule schreibt" (beide im Molden Verlag) erschienen.