Zum Hauptinhalt springen

Peak Wohlstand

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Mehr Wohlstand ist das stille Versprechen der EU. Kommt diese Entwicklung jetzt an ein Ende?


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wir haben als Europäer den Höhepunkt der Wohlstandskurve überschritten." Diese Aussage stammt vom deutschen Politologen Herfried Münkler, der einen guten Ruf als Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen genießt und in Graz bei einer Veranstaltung von "Geist und Gegenwart" über die Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine diskutierte.

Münklers Satz kommt recht unscheinbar daher - er trägt aber eine Botschaft von ungeheurer Wucht in sich, auf die wir, sollte sie denn tatsächlich zutreffen, als Gesellschaft in keiner Weise vorbereitet sind. Mehr noch: Ungeachtet aller rhetorischer Betonung der Europäischen Union als Friedensordnung, fußt ihr Erfolg zum Großteil wohl auf ihrem Versprechen eines immer größeren Wohlstands für alle Mitglieder. Wenn es künftig nicht mehr um das Verteilen eines ständig wachsenden Kuchens, sondern um die Konflikte angesichts eines schrumpfenden Kuchens geht, wird sich, so ist zu befürchten, auch die innere Dynamik der EU grundlegend verändern.

Auf dem Konzept von Wachstum beruht die ökonomische Logik der Marktwirtschaft; dieses bildet das finanzielle Fundament der sozialen Sicherungssysteme, von der Gesundheit über die Pensionen bis hin zur sozialen Umverteilung. Regelmäßig wiederkehrende Rezessionen, also vorübergehende Wachstumseinbrüche, sind fester Bestandteil dieses Systems, sorgen jedoch, weil sie Veränderungen und Innovationen beschleunigen, verlässlich für neue wirtschaftliche Dynamik.

Münklers Dystopie sieht den Wohlstandsverlust nicht mehr als eine kurzfristige Unterbrechung, sondern als ein mittelfristiges Dauerszenario. Die Vorstellung vom freiwilligen Verzicht taucht in der Moderne zwar immer wieder als romantische Alternative zum vermeintlichen Hamsterrad der kapitalistischen Produktions- und Konsumlogik auf; in der Realität war dieser Verzicht jedoch stets ein Refugium einiger weniger und deshalb untauglich als Basis für das Zusammenleben. Dabei sind Reallohnverluste für breite Schichten längst ein fixer Bestandteil der wirtschaftlichen Entwicklung. Doch diese Entwicklung stand im Schatten einer allgemeinen Wachstumsgeschichte, die sich an Kennzahlen wie BIP, Exporten und Investitionen orientierte.

Mit dem schon als Folge der Pandemie begonnenen Rückbau der Globalisierung, dem Misstrauen gegenüber China und jetzt der Isolation Russlands ist es schwer vorstellbar, wie auch ein vereinigter Westen diesen Verlust an wirtschaftlicher Dynamik dauerhaft zu kompensieren vermag. Zu befürchten ist, dass die Politik selbst keine Antwort auf die Folgen ihres Tuns weiß.