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Gedankenlesen müsste man können: Am Dienstag schüttelte in Minsk Putin mit unverbindlichem Lächeln die Hand seines versteinert blickenden ukrainischen Kontrahenten Poroschenko. Am Donnerstag überschlugen sich die Berichte über eine russische Invasion der Ostukraine. Moskau dementiert, doch der Eindruck liegt auf der Hand: Putin spielt Katz und Maus - mit der Ukraine wie mit Europa.
Zu einer anderen Zeit, unter anderen Umständen würde sich Europa wohl entschlossener entgegenstellen. Nicht hier und heute. Der Konflikt um die Ukraine kommt für Berlin, Paris, London, Rom, Wien etc. zur Unzeit - und Putin nutzt dies eiskalt aus. Europa hat längst vergessen, wie mit solcher Kaltschnäuzigkeit umzugehen ist.
Die EU kämpft angesichts der Langzeitkrise um ihre Legitimation bei den eigenen Bürgern - und die meisten Regierungschefs um ihr politisches Überleben. Dazu braucht es mehr Wachstum und Arbeitsplätze. Ein konsequenter Konfrontationskurs mit Russland ist dafür pures Gift.
Hinzu kommt, dass, abgesehen von den unmittelbaren Nachbarn Russlands, die Mehrheit der EU-Bürger den Siegeszug radikaler Islamisten - und deren Verbindungen zu ihren eigenen Ländern - weitaus bedrohlicher empfinden für ihr subjektives Sicherheitsgefühl. Das ist, obschon emotional verständlich, höchstwahrscheinlich eine Fehleinschätzung, und dennoch ein Faktor, der die Politik mitbestimmt. Nichts beschreibt den Zustand der Union treffender als die Seelenruhe, mit der sich unsere Eliten inmitten einer blutigen Konfrontation vor der eigenen Haustür der Suche nach einer vor allem gendergerechten Führungsriege widmen.
Realismus ist auch in Bezug auf die USA gefordert: Die Zeiten, in denen Washington für Europa die Kohlen aus dem Feuer geholt hat, sind vorbei. Entweder wir sorgen selbst für Sicherheit und Stabilität an unseren Peripherien, oder wir werden uns mit jenen Verhältnissen arrangieren müssen, die andere dort für uns schaffen.
Auch wenn viele darauf hoffen: Der Konflikt in der Ukraine wird nicht einfach so wieder aus den Schlagzeilen verschwinden. Und falls doch, dann nur, weil Russland sich genommen hat, was es wollte. Moskau mag langfristig mehr auf Europa angewiesen sein als umgekehrt; das Problem ist, dass Merkel, Hollande, Renzi und Faymann kurzfristig Wachstum und Jobs dringender benötigen als Putin. Pech für die Ukraine.