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Lange haben die Tibeter die täglichen Schikanen der chinesischen Verwaltungsbehörden still hingenommen. Doch damit ist es vorerst vorbei: Fünf Monate vor den Olympischen Sommerspielen, die Peking in den Mittelpunkt internationaler Aufmerksamkeit rücken werden, ist das Volk auf die Barrikaden gestiegen, um auf sein Schicksal aufmerksam zu machen.
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Dies ist zwar gelungen, doch der Preis ist hoch: Die tibetische Exilregierung sprach schon jetzt von hunderten Toten im Zuge der Niederschlagung des Aufstandes. Und das dürfte nur der Anfang gewesen sein: Die chinesische Führung rief mittlerweile einen "Volkskrieg gegen die Separatisten" aus, was auf einen bevorstehenden massiven Gegenschlag hinweist. Den Verantwortlichen für den Aufstand hat Peking bereits ausgemacht: Den Dalai Lama und die "scheußliche Fratze" seiner Clique, die unter dem Deckmantel der Religion gewaltsam die Abspaltung Tibets betrieben.
Dabei weiß Peking sehr genau, dass der seit 1959 im indischen Exil lebende Dalai Lama, das geistliche und weltliche Oberhaupt der Tibeter, seit Jahrzehnten den gewaltfreien Widerstand gegen die Unterdrückung predigt. Auch hat er Chinas Souveränitätsanspruch gegenüber Tibet längst akzeptiert und dies auch dutzende Male öffentlich bekundet. Was er fordert, ist die Einhaltung der von Peking nach dem Einmarsch von 1950 zugesicherten Autonomierechte für das tibetische Volk. Doch davon will die Führung im Reich der Mitte nichts wissen. Im Gegenteil: Seit der blutigen Niederschlagung des Aufstandes von 1959 trieb es die systematische Zerstörung der tibetischen Kultur und Religion weiter voran.
Das geistige Leben in den wenigen Klöstern, die nach dem großen Vernichtungsfeldzug der 60er Jahre wieder aufgebaut werden durften, ist der totalen Kontrolle der lokalen KP-Behörden unterworfen. Die Weitergabe der Lehre des Lamaismus, der tibetischen Lesart des Buddhismus, ist kaum mehr möglich. Dalai-Lama-Bilder sind strengstens verboten. Auch kritische Äußerungen über die Besatzung oder das Aufhängen der tibetischen Flagge werden rigoros geahndet. Durch die gezielte Massenansiedlung von Chinesen aus umliegenden Provinzen sind die 4,5 Millionen Tibeter mittlerweile zu einer Minderheit im eigenen Land geworden. Besonders dramatisch ist es in der Hauptstadt Lhasa, wo auf einen Tibeter bereits drei Chinesen kommen.
Es ist vor allem die junge Generation, die angesichts der ausweglosen Situation das vom Dalai Lama hochgehaltene Prinzip der Gewaltlosigkeit für gescheitert betrachtet und sich der 58-jährigen Bevormundung durch Peking nunmehr mit Gewalt entledigen will. Sollte China auch weiterhin jegliche Verhandlungen mit dem Dalai Lama verweigern, könnte die jüngste Revolte nur der Auftakt eines blutigen Kampfes gewesen sein.