Für Ökonom Knell ist Umlageverfahren in Österreich kein Auslaufmodell.
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"Wiener Zeitung": Viele junge Menschen, die im ersten Viertel ihres Erwerbslebens stehen oder sogar noch davor, haben sehr wenig Vertrauen in die staatliche Pension. Sind die Sorgen berechtigt?Markus Knell: Ich verstehe zwar das Misstrauen, aber ich halte es für unberechtigt. Denn selbst im extremsten Fall, wenn es gar keine Reformschritte mehr geben sollte, wird es für die jetzt besorgten Jugendlichen eine Pension geben, und die könnte sogar für manchen überraschend gut ausfallen.
Woher kommt dann das Misstrauen?
Wir haben ein Stakkato an Reformen, alle paar Jahre, und die kommen mit entsprechend großen Diskussionen, die dann auch politisch entsprechend ausgeschlachtet werden. Dadurch entsteht ein Gefühl, dass das alles zum Scheitern verurteilt ist. Dazu kommt ein Alarmismus, den manche Leute an den Tag legen. Der Hauptpunkt ist: Wenn wir älter werden, werden wir eben auch ein bisschen länger arbeiten müssen.
Sie sprechen das demografische Problem an. Und es klingt logisch: Die Menschen werden älter, es gibt mehr Pensionisten, weniger Erwerbstätige, das kann sich also nicht ausgehen. Wo ist da der Denkfehler?
Da muss man in die Mechanik von Pensionssystemen und konkret vom Umlageverfahren hineingehen. Die Demografie hat zwei Seiten: Erstens kommen schwächere Geburtenjahrgänge nach und zweitens gibt es eine steigende Lebenserwartung. Wenn wir die historische Entwicklung fortschreiben, kommen pro Kalenderjahr zwei bis drei Monate Lebenserwartung dazu. Es ist also logisch, dass man fragt: Wie geht sich das aus? Im Prinzip gibt es drei Parameter, an denen man dann drehen kann: Beitragssätze, Pensionskürzen oder längeres Arbeiten.
Ist das demografische Problem nicht einfach mit dem Wirtschaftswachstum aufzufangen?
Das ist ein Argument, das mich stört. Die Logik dahinter ist: Wenn die Wirtschaft mit fünf Prozent wächst, verdoppeln sich die Einkommen in 14 Jahren, also müsste man den Menschen in 14 Jahren nur so viel wegnehmen, dass sie genau gleichgestellt sind wie die jetzigen Arbeitnehmer. Das bedeutet jedoch, dass sie viel höhere Beiträge bezahlen. Und was dabei auch übersehen wird: Das Pensionssystem ist relativ definiert zum Erwerbseinkommen. Wenn das Einkommen stark wächst, dann wachsen die Pensionen mit.
Also doch das Drehen an den drei Stellschrauben, Beitragssätze, Pensionskürzen und Arbeitszeit.
Ja, wobei wir bei den Beitragssätzen schon am oberen Limit sind. Pensionskürzungen sind auch unpopulär und könnten in Richtung Armutsgefährdung gehen. Da bleibt also der logische Ausweg des längeren Arbeitens, so könnte man das System laufenlassen.
Was genau bedeutet "länger arbeiten"?
Die entscheidende Frage ist, wie hoch die gesunde Lebenserwartung ist. Bis jetzt hat die gesunde Lebenserwartung im selben Ausmaß zugenommen wie die allgemeine Lebenserwartung. Wenn ich am Ende fünf Jahre gewinne, sind es keine fünf Jahre im Siechtum, sondern fünf gesunde Jahre. Wenn wir also 40 Jahre arbeiten und 20 Jahre in Pension sind, haben wir ein Verhältnis von 2:1. Wenn jetzt drei Jahre Lebenserwartung dazukommen, muss man das im selben Verhältnis aufteilen. Zwei Jahre Arbeit, ein Jahr Pension.
Im Zusammenhang mit dem Demografieproblem gibt es auch immer wieder Diskussionen über das in Österreich verwendete Umlageverfahren. Bietet ein kapitalgedecktes Verfahren bessere Lösungen?
Das ist die Gretchenfrage bei Pensionsexperten: Wie hältst du es mit dem kapitalgedeckten Verfahren? In den 1990er-Jahren bis zur Krise waren manche Kreise der Meinung, man müsse auf ein kapitalgedecktes Verfahren umsteigen, weil das Umlageverfahren nicht mehr länger haltbar ist. Argumentiert wird da vor allem mit der höheren Rendite.
Beim Umlageverfahren ist die interne Rendite so hoch wie das Wirtschaftswachstum: Wenn die Lebenserwartung und die Geburtsjahrgänge konstant bleiben, steigen die Einzahlungen genau mit dem Lohnwachstum an. Wenn die Geburtenjahrgänge nun stärker werden, dann würde das Beitragsvolumen mit der Summe aus Lohnwachstum und der Wachstumsrate der Geburtenjahrgänge steigen.
Und das kapitalgedeckte Verfahren?
Das bietet Renditen, je nachdem, wo man veranlagt. Wenn man in Aktien veranlagt und es geht gut, hat man hohe Renditen, aber wenn es schlecht geht, hat man schlechte. Ein zweites Argument ist, dass man das Portfolio besser diversifizieren kann. Wenn ich in Österreich im Umlageverfahren bin, hängt meine Pension davon ab, wie die wirtschaftliche Situation in Österreich ist. Bei einem kapitalgedeckten Verfahren kann ich meine Anlagen über die ganze Welt streuen.
Wer entscheidet bei einem kapitalgedeckten Verfahren, wo investiert wird? Überfordert das die Menschen nicht?
Das ist ein guter Punkt. In manchen Systemen wie in den USA entscheiden das die Versicherten selbst. In Schweden ist das zwar auch so, allerdings ist dort nur ein ganz kleiner Teil der Pensionen kapitalgedeckt. Die Versicherten können dort zwischen 600 Anlagemöglichkeiten auswählen, oder sie lassen den Staat das für sie machen. Und interessanterweise überlassen das mittlerweile 80 Prozent dem Staat. Es überfordert ja schon viele Menschen, den Handyanbieter zu wählen.
Es gibt ja auch hierzulande ein Kapitalstockverfahren, nämlich bei der privaten Vorsorge. Vor rund zehn Jahren wurde die so heftig beworben und von der Politik propagiert, dass es viele junge Menschen als notwendig erachteten, private Vorsorgen abzuschließen. Nicht wenige haben schlechte Erfahrungen damit gemacht, haben in der Krise Geld verloren oder mussten große Abschläge hinnehmen, wenn sie später nur noch etwas niedrigere Beiträge einbezahlen konnten. Wie konnte die Notwendigkeit privater Vorsorge derart Common Sense werden?
Das ist ein heikles Terrain, aber natürlich hat die Finanzindustrie damit ein gutes Geschäft gemacht. Die Rede war damals oft von der Pensionslücke, und letztlich war es eine große PR-Aktion, die sehr erfolgreich war. Ich kenne selbst auch Fälle, bei denen Menschen nicht gewusst haben, welches Produkt sie gekauft haben. Das hieß dann "Zukunftsvorsorge". Aber was steckt dahinter? Ein Aktienfonds, eine Lebensversicherung?
Und das zeigt ja auch, wie wenig ausgeprägt das Wissen und das Interesse an diesen Dingen war. Und es hat auch niemand nach den Gebührenstrukturen gefragt. In Schweden hat man sehr darauf geachtet, dass die staatlichen Gebühren in der Gegend von 0,15 Prozent sind. In Österreich schätze ich, dass in der Regel ein Einser vor dem Komma steht. Das klingt zwar nicht so schlimm, aber das kumuliert sich. Wenn man über 40 Jahre Anspardauer ein Prozent Gebühr mehr hat, ist die Pension um 20 Prozent geringer.
Die Arbeitswelt hat sich mittlerweile sehr stark verändert, es gibt mehr Selbstständigkeit, prekäres Arbeiten, viel Teilzeit. Liegt es mittlerweile vor allem an solchen Dienstverhältnissen, wenn die Pension dann gering ausfällt?
Stimmt, das Pensionsthema kann man nicht unabhängig vom Arbeitsmarkt behandeln. Viele stellen sich auch die Frage, ob es überhaupt die Arbeitgeber gibt, bei denen man bis 65 arbeiten kann. Beim Berufseinstieg und einer späteren Pensionierung gibt es Probleme, aber die kann man lösen. Ein ganz wichtiger Punkt beim Pensionssystem ist, dass es verständlich und transparent ist. Was man vom kapitalgedeckten Verfahren lernen kann, ist die Kontomitteilung, und die kann man beim Umlageverfahren auch machen. Wir haben in Österreich ja auch ein virtuelles Pensionskonto. Das ist ein großer Schritt gewesen, und damit könnte man auch der Unsicherheit in der Bevölkerung entgegenwirken.
Sollte es ein klar definiertes primäres Ziel des Staates für Pensionen geben? Also etwa den Schutz vor Altersarmut oder den Erhalt des Lebensstandards?
Das finde ich absolut sinnvoll. Jedes Umlageverfahren ist nach so einer Zielgröße ausgestaltet. Wir haben die Formel 45-65-80. Nach 45 Beitragsjahren, im Alter von 65, soll man 80 Prozent des durchschnittlichen Gehalts bekommen. Und wenn die Lebenserwartung steigt, dann müsste man diese Formel anpassen. Und wenn man vorher geht, passt man eben die 80 Prozent an. Allerdings ist das auch keine Lösung für die prekären Dienstverhältnisse, da habe ich auch keine maßgeschneiderte Lösung, aber man könnte schon Möglichkeiten finden, dass man gewisse Jobs unterstützt. Wobei man schon fragen muss: Soll man jeden prekären Job unterstützen?
Der Sozialbericht 2012 hat offenbart, dass die Sozialquote insgesamt trotz jahrelanger Alterung der Gesellschaft durch diverse Maßnahmen kaum zugenommen hat. Allerdings wird immer mehr Geld in Pensionszahlungen gesteckt. Ist das sinnvoll?
Wenn die Gesellschaft will, dass wir 50 Prozent für Pensionen ausgeben, ist das ja auch in Ordnung. Die Frage ist: Entspricht das wirklich dem Willen der Bevölkerung oder ist das ein Prozess der in Gang gesetzt wurde und schwer gestoppt werden kann? Seit geraumer Zeit passen wir die Pensionen maximal mit der Inflationsrate an, manchmal darunter. Dafür kann man auch gute Gründe finden, nur passiert das in Österreich als eine Art verdeckte Kosteneinsparung, die nicht so ganz durchschaut wird.
Wenn immer mehr Geld in die Pensionen und die Betreuung von alten Menschen fließt, bleibt dann weniger für gesellschaftliche Investitionen wie etwa Bildung?
Klar ist nur, dass die Quote der über 65-Jährigen steigen wird, ob die Pensionsquote steigen wird, ist nicht so klar, denn das hängt davon ab, wann die Leute in Pension gehen. Wenn wir es aber nicht schaffen, das Antrittsalter über 59 Jahre hinaus zu verlängern, dann halte ich das jedenfalls für eine bedenkliche Entwicklung. Dann wird das ganze Framing einer Gesellschaft extrem auf jene gerichtet, die nicht im Erwerbsleben stehen und die ganz andere Interessen haben. Dann sehe ich schon die Gefahr, dass Gelder von Zukunftssektoren wie Bildung und Forschung abgezogen werden.
Beim tatsächlichen Pensionsantrittsalter nimmt Österreich im europäischen Vergleich einen der unteren Plätze ein. Inwieweit hängt das auch mit dem Arbeitsmarkt und den nach wie vor recht steilen Gehaltskurven in Österreich zusammen?
Man müsste sich das genau anschauen. Wir haben bei den Angestellten ziemlich stark steigende Lohnkurven und ein Senioritätsprinzip, da sind wir in Europa fast Spitzenreiter. Meine Lesart war aber schon, dass versucht wird, das abzuflachen. Aber es geht ziemlich schleppend. Und das ist natürlich ein großes Hindernis, länger zu arbeiten. Wenn einer mit 60 in der teuersten Gehaltsstufe noch ein Jahr dranhängt, ist das für den Arbeitsgeber nicht sehr attraktiv.
Sind wir deshalb das Land der Golden Handshakes geworden?
Genau aus diesem Grund. Es gibt jetzt so eine Art von Trinität von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und dem Staat, und alle drei sind an einem möglichst frühen Pensionsantritt interessiert. Die Arbeitnehmer, weil sie schon den Ruhestand herbeisehnen, die Arbeitgeber sind froh, dass sie die teuren Angestellten los werden, und der Staat denkt sich, wenn er hier Arbeitsplätze freischaufelt, kann er für die Jugendlichen mehr Arbeitsplätze schaffen. Auch wenn das ein Irrtum ist.
Wie kommt man da heraus?
In dem man Anreize setzt. Bei den Arbeitnehmern sind das korrekt berechnete Abschläge, wenn man früher in Pension geht. Heute ist man teilweise blöd, wenn man länger als bis zum Mindestalter arbeitet, weil man kaum mehr Pension bekommt, wenn man später geht. Man müsste hier mit Sozialpartnern Konzepte entwickeln. Wenn es nicht gelingt, das Senioritätsprinzip abzuflachen, müsste man versuchen, mit staatlichen Unterstützungsmaßnahmen vorzugehen, dass man etwa für diese Arbeitnehmer die Arbeitgeberbeiträge senkt.
Wichtig wäre, dass man weiß, wo man hin möchte. In 20, 30 Jahren sollte man das Gefühl haben, man ist in einem Pensionssystem und in einem Arbeitsmarkt, der da immer dranhängt, und dieses System ist demografieresistent. Ich würde sogar meinen, man könnte so eine Art von ASVG-Patriotismus entwickeln, oder APG (Allgemeines Pensionsgesetz)-Patriotismus wie es jetzt heißen müsste, man könnte denken: Wir haben ein gutes System aufgestellt, das eigentlich ganz okay funktioniert und dadurch könnte letztlich auch die Verunsicherung abnehmen.
Zur Person
Markus Knell ist Mitarbeiter der Abteilung für volkswirtschaftliche Studien der Oesterreichischen Nationalbank. Zuvor war er Universitätsassistent an der Universität Zürich sowie an der Universität Wien. Knell studierte Philosophie, Soziologie und Ökonomie an der Universität Wien, der University of California und der Uni Zürich.
Im Vorjahr gewann Knell mit einem Text über das Umlageverfahren zur Finanzierung der Sozialversicherung den mit 100.000 Euro dotierte Hannes-Androsch-Preis. Die in dem Interview getätigten Aussagen spiegeln seine eigene Meinung wieder.