Die Corona-Krise macht den Systemfehler im heimischen Pensionsmodell sichtbar. Wäre es gerechter, allen Österreichern ab 60 Jahren einen Fixbetrag zu zahlen? Wie Altersarmut verhindert werden könnte.
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Eine gute Pension gehört jenen, die was können, die was leisten, die sich anstrengen. Sie werden ohne Geldsorgen ihren Lebensabend verbringen. So lautet der Grundsatz, der dem heimischen Pensionssystem zugrunde liegt: Jeder ist seines eigenen Pensionsglücks Schmied. Doch dieser Grundsatz hatte immer schon einen Systemfehler. Die Corona-Krise legt ihn nun schonungslos offen.
Durch das Virus wurden über Nacht mehr als 600.000 Menschen arbeitslos, landeten mehr als 1,1 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Keiner weiß, wann und ob diese 1,7 Millionen Menschen je wieder so viel verdienen werden wie vor der Krise. Doch eines ist klar: Je länger es dauert, desto weniger zahlen sie in die Pensionskassa ein, desto niedriger wird ihre Pension sein. Vielen von ihnen droht Altersarmut. Egal, ob sie was können, was geleistet und sich angestrengt haben oder nicht.
Die Corona-Krise legt offen, was Betroffene schon lange wissen. Plötzliche Brüche im Erwerbsleben können jederzeit auftreten, Können und Fleiß sind keine Absicherung. Die Pension ebenso wenig.
Hat jemand mit einer guten Pension also einfach nur Glück gehabt? Werden jene, die Pech hatten, am Ende ihres Lebens auch noch dafür bestraft? Ist unser derzeitiges Pensionssystem überhaupt gerecht?
Fest steht, dass die Hälfte der Österreicher mit Abschlägen in Pension geht. Ein Drittel von ihnen geht in Frühpension, die Übrigen erhalten eine Invaliditätspension. Es handelt sich um Menschen, die in ihren 50ern aus dem Erwerbsleben fallen, weil sie körperlich nicht mehr mithalten können, die durch Schicksalsschläge gebeutelt wurden, die beiseitegeschoben wurden, weil Lebenserfahrung auf dem Arbeitsmarkt an Wert verloren hat. Ihnen bleibt häufig nur die Mindestpension.
Wie das Pensionssystem krisenfest werden könnte
Ist das moralisch vertretbar in einem der reichsten Länder der Welt? Wäre es nicht gerechter, jedem Österreicher ab dem Alter von 60 Jahren den gleichen Fixbetrag zu überweisen, egal ob er im Leben Glück oder Pech hatte? Wie hoch könnte dieser Betrag sein, wenn dasselbe Geld zu Verfügung stehen würde wie derzeit für die Pensionen?
Klaus Prettner, Ökonom für Wachstum und Verteilung, hat das Gedankenexperiment exklusiv für die "Wiener Zeitung" in Zahlen gegossen:
Mehr als ein Viertel (rund 53 Milliarden Euro) der gesamten Staatsausgaben (192 Milliarden Euro) entfällt auf Pensionen - Hinterbliebenen (Witwen, Waisen usw.) werden 5,3 Milliarden Euro gezahlt, sie sind hier nicht enthalten. Würde der Staat stattdessen allen Österreichern ab 60 Jahren 14-mal im Jahr einen Nettofixbetrag überweisen, würde jeder Österreicher 1500 Euro bekommen, berechnet der Ökonom. Würde man diesen Fixbetrag von 1500 Euro erst ab einem Alter von 65 überweisen, würden die Staatsausgaben auf 41,3 Milliarden Euro schrumpfen.
Es gibt keine Erfahrungen für die Auszahlung eines Fixbetrags für alle Bürger ab einem gewissen Alter. Dafür große Erwartungen an ein Pensionssystem, das krisenfest sein sollte.
Betroffen von Altersarmut sind vor allem Frauen. "Ab 45 hat man es schwer am Arbeitsmarkt, ab 50 kann man es vergessen", sagt die 58-jährige Karin Fandler (ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt, Anm.), die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält.
Dabei begann ihre Berufskarriere vielversprechend. Die Tochter eines Textilwarenhändlers besuchte die Handelsschule, ging in die Lehre und absolvierte an der Wiener Wirtschaftsuniversität die Ausbildung zum akademisch geprüften Werbekaufmann - ein Titel, der für Mann und Frau vergeben wurde. "Vor allem meine Lehre bei der Sporthandelskette Schuhski war toll. Ich lernte, alles zu verkaufen, von der Badehose bis zum Ski. Das gefiel mir", sagt sie.
Doch dann wurde Karin Fandler innerhalb von zwei Jahren zweimal Mutter. Für sie und ihren Mann war klar, dass sie die Kinderbetreuung und den Haushalt übernimmt und er mit seiner Arbeit das Geld verdient.
So war das damals. Und auch heute noch arbeiten 74,3 Prozent der Mütter mit Kindern unter 15 Jahren in Teilzeit, bei Vätern mit Kindern unter 15 Jahren arbeiten nur 5,6 Prozent in Teilzeit.
Das Familienglück zerbricht
Das Familienglück zerbricht sechs Jahre später. Ihr Mann lässt sich scheiden, Karin Fandler bleibt auf einem Schuldenberg sitzen, sie hatte als Bürge unterschrieben. "Ich war blauäugig", sagt sie heute. "Ich dachte nicht an die Möglichkeit einer Scheidung."
Von nun an musste sie neben der Kinderbetreuung auch noch einer Arbeit nachgehen, mit der sie Geld verdient. Fandler lernte das Leben von seiner harten Seite kennen. Sie bewirbt sich bei zahlreichen Unternehmen. Ohne Erfolg. "Mein Selbstvertrauen war am Boden", erinnert sie sich.
Doch die zweifache Mutter krempelt ihre Ärmel hoch und schlägt sich als Selbständige durch. "Ich habe Kapperl aus Stoffresten genäht und auf Märkten verkauft", erzählt sie. Bei jedem Wetter. 15 Jahre lang. "Ich kam durch und konnte sogar einen Teil meiner Schulden zurückzahlen."
Dann der nächste Bruch. Modeketten sprießen plötzlich aus dem Boden, sie verkaufen Massenware zum Billigpreis. Fandler ist nicht mehr konkurrenzfähig, die Kunden wenden sich ab. Ihre beiden Kinder befinden sich mitten in einer nervenaufreibenden Pubertät, in dieser Zeit stirbt auch ihre Mutter. "Ich fiel in ein Loch", erzählt sie. Fandler schleppt sich von Bewerbungsgespräch zu Bewerbungsgespräch. Ohne Erfolg.
Doch erneut richtet sie sich auf. Fandler macht eine Ausbildung zur Kräuter- und Waldpädagogin. Und trifft einen Nerv. "Blumen, Pflanzen und Kräuter waren schon immer meine Leidenschaft", sagt sie. Sie gibt Kurse, die gut gebucht werden, heiratet ein zweites Mal.
"Sie sind über 50 - was glauben Sie?"
Zehn Jahre lang lebt sie von ihren Vorträgen, dann begibt sie sich wieder auf Jobsuche. "Ich hatte jahrelange Erfahrung und wollte in den Verkauf und in die Beratung von Drogerien", erzählt sie. "Angeboten wurde mir aber nur die Regalbetreuung, weit weg von den Kunden. Die blieben nur den Jungen vorbehalten." Sie sucht Hilfe beim AMS: "Sie sind über 50 - was glauben Sie?", hört sie dort. "Es ist beinhart", sagt Fandler.
Sie hält weiterhin ihre Vorträge und wechselt einmal mehr die Berufssparte. Die "Vollpension", ein Café, in dem Senioren Kuchen backen, sucht Mitarbeiter. Fandler bewirbt sich und wird genommen. "Was für ein schönes Gefühl", sagt sie und strahlt. Sie ist zwar nur geringfügig angestellt, verdient rund 400 Euro und steht zwei Tage die Woche für fünf Stunden in der Backstube. Wichtiger ist aber die Wertschätzung, die ihr entgegengebracht wird. "Hier wird uns Älteren vermittelt, dass wir Teil des Ganzen sind", frohlockt Fandler.
Doch das Coronavirus hat auch die "Vollpension" stillgelegt. Um das Café am Leben zu erhalten, versucht Geschäftsführerin Hannah Lux, per Crowdfunding Geld zu sammeln. "95 Prozent der Senioren arbeiten bei uns geringfügig als Zuverdienst zur niedrigen Pension, um Altersarmut zu entgehen", sagt die Geschäftsführerin. "Kurzarbeit und AMS greifen bei ihnen leider nicht. Wir brauchen daher Unterstützung, damit unsere Senioren nicht in gröbere finanzielle Schwierigkeiten kommen."
Sporthandel, Kindererziehung, Mode, Kräutervorträge, Gastronomie: Karin Fandler arbeitete ihr ganzes Leben lang in verschiedenen Berufssparten. Doch wenn sie in ein paar Jahren in Pension geht, wird sie nicht einmal die Mindestpension erhalten. Sie ist verheiratet, ihr stehen deshalb nur zirka 450 Euro im Monat zu. Sie ist damit abhängig von ihrem Mann.
Würde sie einen Fixbetrag von 1500 Euro im Monat bekommen, könnte sie unabhängig mit ihrem Mann zusammenleben.
Die Pension errechnet sich aus dem Lebenseinkommen
Seit 2005 regelt das Allgemeine Pensionsgesetz (APG) das Pensionssystem für alle Österreicher. Die Pension wird seither nicht mehr über die besten 15 Jahre berechnet, sondern schrittweise bis zum gesamten Lebenseinkommen. Es werden also auch Erwerbsjahre gemessen, in denen es nicht so gut läuft.
Derzeit sind 206.000 Menschen über 65 von Einkommensarmut betroffen. 53.000 können kaum ihre Miete bezahlen, ihre Wohnung nicht angemessen heizen, keine unerwarteten Ausgaben finanzieren.
Die positive Nachricht: Die Altersarmut der über 65-Jährigen sinkt, sagt Martin Schenk von der Armutskonferenz, ein Netzwerk sozialer Hilfsorganisationen. "Denn viele Menschen aus den wirtschaftlich guten Jahren der 70er, 80er und 90er Jahre sind in Pension gegangen." Jahrzehnte mit einem hohen Grad an Vollbeschäftigung.
Die schlechte Nachricht: Seit den 2000er Jahren hat sich der Arbeitsmarkt stark verändert. Laut Statistik Austria sind heute knapp 1,2 Millionen Menschen in Österreich atypisch beschäftigt. Tendenz steigend. Sie arbeiten in befristeten Jobs oder auf Werkvertragsbasis, als Leiharbeiter, neue Selbständige, in Branchen, die schlecht bezahlt werden.
"Diese neuen Entwicklungen dürfen nicht übersehen werden", sagt Schenk. "Wird nichts unternommen, werden sie sich später in schlechten Pensionen und Altersarmut niederschlagen."
Doch auch mit einem angestellten Vollzeitjob gibt es keine Sicherheit, wie Karl Frank erleben musste. Der heute 66-Jährige befindet sich mittlerweile in Pension. In seinem Erwerbsleben musste er viele Niederlagen hinnehmen, bis er schließlich nicht mehr konnte. Seinen letzten bezahlten Job hatte er vor 15 Jahren.
Frank ging auf die Handelsakademie in Hollabrunn und absolvierte eine kaufmännische Ausbildung. Er findet schnell einen Job und arbeitet 20 Jahre lang in einer Firma, die Edelstahl vertreibt. "Ich hatte eine gute Position im Exportbereich", erzählt er. Neben seinem Job führt er einen Fußballverein in der 5. Liga. "Ich bin Kicker mit Leidenschaft", sagt er stolz. Sein Leben dreht sich um seinen Job und seinen Verein. Tag für Tag, Jahr um Jahr.
Doch plötzlich sperrt die Firma zu, 1500 Arbeiter werden gekündigt. Er ist einer von ihnen. "Ich war 40 Jahre alt, war es gewohnt, jeden Tag arbeiten zu gehen", sagt er. "Mein Leben hatte eine Struktur, ich verdiente mein eigenes Geld, war nicht auf Hilfe angewiesen. Das war mit einem Mal alles weg."
"Mit jeder Kündigung sank mein Selbstbewusstsein"
Er bewirbt sich bei mehreren Unternehmen und findet einen Job als Lagerleiter im Laborhandel. "Ein super Job." Doch auch dort wird sein Job "abgebaut", wie ihm gesagt wird. Frank ist wieder arbeitslos. "Ich war nicht mehr der Jüngste und stand unter Druck." Er arbeitet noch in weiteren fünf Jobs, in allen wird er gekündigt. "Mit jeder Kündigung sank mein Selbstbewusstsein, bis ich nicht mehr mithalten konnte."
Frank hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ohne Job dastand. "Ich habe nicht gleich etwas bekommen und mich selbst unter Druck gesetzt. Ich hatte Angst, als Tachinierer hingestellt zu werden." Zur Angst kommen Panikattacken und Depression. Frank sucht immer einfachere Tätigkeiten, in der Hoffnung auf bessere Chancen. Immer öfter ist er überqualifiziert. "Ich war hoffnungslos unterfordert." In seinem letzten Job arbeitet er als Taxifahrer. Da war er 50.
Mit Hinweis auf sein Alter wird jede Bewerbung abgelehnt. "Wir haben einen Altersrassismus. Wir schieben alte Menschen einfach beiseite." Frank wird psychisch krank, muss Notstandshilfe beantragen. 12 Mal im Jahr werden ihm rund 900 Euro überwiesen. Auf den Sozialämtern ist er den Launen seiner Betreuer ausgeliefert. Auf dem Arbeitsmarkt kommt er nicht mehr unter.
85 Prozent der österreichischen Pensionisten erhalten eine sogenannte ASVG-Pension. Die Höhe ihrer Pension liegt bei durchschnittlich 1212 Euro pro Monat (Männer 1453, Frauen: 957 Euro). 14-mal im Jahr. Rechnet man Pensionsleistungen für Hinterbliebene und Invaliditätspensionen hinzu, sinkt der Durchschnittswert auf 1116 Euro. (Männer: 1369 Euro, Frauen: 899 Euro). Alle Werte sind netto, sie gelten für Dezember 2018.
Mit einem Fixbetrag von 1500 Euro netto würde der Durchschnittswert steigen. Vor allem Frauen würden profitieren.
Firmenpension und private Pensionsversicherung
Neben den ASVG-Pensionen kennt das österreichische Pensionssystem noch Renten der Unfallversicherung (3 Prozent der Pensionisten) und Beamtenpensionen (12 Prozent). 2017 erhielten Beamte in Pension durchschnittlich 2454 Euro netto monatlich. Für viele von ihnen wäre ein Fixbetrag von 1500 Euro ein herber Einschnitt.
Doch es gibt für sie, wie für alle anderen, die gut verdienen, eine Möglichkeit, eine Pension über den Fixbetrag hinaus zu bekommen.
Um die Lücke zwischen hohem Gehalt im Erwerbsleben und Fixbetrag zu schließen, sollen Firmenpensionen - die 2. Säule des Pensionssystems - gestärkt werden. Das fordert Michaela Plank, Leiterin des Bereichs Pensionskassen beim Beratungsunternehmen Mercer Austria.
Derzeit beziehen knapp 25 Prozent aller Arbeitnehmer zusätzlich zur staatlichen Pension eine Firmenpension. Das sei viel zu wenig, kritisiert sie. Österreich liege damit weit hinter dem EU-Schnitt zurück.
"Zudem kann ein Arbeitnehmer nur in derselben Höhe einzahlen wie der Arbeitgeber, allerdings erst nach Steuern", erklärt Plank. "Er sollte jedoch so viel einzahlen dürfen, wie er für richtig hält, und das vor Steuern." Weiters benötigte es eine Rechtsgrundlage zur Umwandlung von Gehaltsbestandteilen bzw. Boni in die Pensionskasse. Aktuell können nur 300 Euro steuerfrei umgewandelt werden. "Das ist für die Zukunftsvorsorge zu wenig", sagt Plank.
Den Anreiz für Unternehmen, eine Firmenpension zu zahlen, sieht Plank in der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Betriebspensionen kosten weniger als etwa eine Gehaltserhöhung mit vergleichbaren Wert. Das liegt daran, dass Arbeitgeber Pensionskassenbeiträge als Betriebsausgabe steuerlich geltend machen können und keine Lohnnebenkosten anfallen.
Neben den Betriebspensionen gibt es eine weitere Möglichkeit für eine höhere Pension. Bereits heute kann jeder in eine private Pensionsversicherung so viel einzahlen, wie er möchte.
Mit dem Fixbetrag von 1500 Euro pro Monat plus Firmenpension oder/und privater Pensionsversicherung werden auch in diesem Modell jene mehr Pension erhalten, die in ihrem Erwerbsleben mehr verdient haben. Wer jedoch wenig verdient, ist am Ende abgesichert.
Und wer sich fit genug fühlt und einen Job hat, kann weiterarbeiten. So lange er will.