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Per Dammbruch zum Schlussstrich?

Von Christian Ortner

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Christian Ortner.

In der Grass-Debatte geht es nicht um ein schlechtes Gedicht eines präsenilen Poeten, sondern um Deutschlands Verantwortung für den Holocaust.


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Die Fakten sind ja von eher überschaubarer Bedeutung: Ein leicht undichter deutscher Dichter veröffentlicht ein schlechtes Gedicht, das nicht viel mehr sichtbar macht als des Dichters Mangel an nahostpolitischem Sachverstand - und die intellektuelle Klasse des deutschen Sprachraums kriegt sich nicht und nicht ein vor Meinungsabsonderungszwang. Die Welt hat schon viele noch schlechtere Texte bekannter Dichter viel gelassener ertragen, etwa Peter Handkes peinliche Adoration des Jugo-Schlächters Slobodan Milosevic - warum also nun die nicht enden wollende öffentliche Erregung um Günter Grass und seinen albernen, gegen Israel gerichteten Text? Indem er Israel dummdreist und entgegen allen Fakten zur Hauptbedrohung des Weltfriedens hochjazzt, spricht Grass vermutlich eine Befindlichkeit an, die zwar nicht den deutschen Eliten, aber sehr wohl der Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu eigen ist. Deutschlands bisherige aus der Verantwortung für den Holocaust gespeiste nahezu bedingungslose Solidarität mit Israel - wie sie etwa Angela Merkel 2008 in einer Rede vor der Knesset ausdrücklich anerkannt hat - hat für die Mehrheit der Deutschen eigentlich keine Daseinsberechtigung (mehr). Die Mehrheit der Deutschen sehnt sich vielmehr nach dem berühmten Schlussstrich, der ihr Land fast 70 Jahre nach dem Holocaust von allen weiteren Verpflichtungen Israel gegenüber entbinden soll. Der linke Journalist Jakob Augstein hat das jüngst etwas schwülstig auf den Punkt geraunt: "Es muss uns endlich einer aus dem Schatten der Worte Merkels holen, die sie 2008 in Jerusalem gesprochen hat." In Israel ist die Botschaft, die Grass aussendet, denn auch viel besser verstanden worden als in Deutschland. "Immer wieder wollten deutsche Intellektuelle den Schlussstrich ziehen, wurden aber wie Martin Walser von den Meinungsmachern abgelehnt. Jetzt ist es anders. Durch das Loch, das Grass gebohrt hat, bricht zusehends der Damm", diagnostiziert etwa der bekannte israelische Publizist Yoav Sapir. Und behauptet, der Schlussstrich sei bereits in Sichtweite: "Das antizipierte Ende von Deutschlands historischer Verantwortung für das jüdische Volk und den jüdischen Staat geht allmählich in Erfüllung. Deutschland wird früher als erwartet kein Freund Israels mehr sein." Man muss kein besonders heftiger Philosemit oder Israel-Groupie sein, um diesen Gedanken erschreckend zu finden, wenn nicht gar monströs. Er entspricht aber der historischen Logik, wonach selbst die allergrößten Gräueltaten irgendwann an Wirkungsmächtigkeit verlieren. Und entspricht der gleichen historischen Logik, dass Deutschlands nationales Interesse sich immer weniger aus seiner Verantwortung für Weltkrieg und Holocaust heraus definieren lässt (dass das Land die mit Abstand wirtschaftlich mächtigste Macht Europas geworden ist, verschafft diesem Prozess zusätzliches Tempo). Liest man Grass’ Pamphlet in diesem Kontext, wird die allgemeine Erregung durchaus verständlich. Denn die Frage, ob der berühmt-berüchtigte Schlussstrich gezogen werden soll oder nicht, hat eine andere Relevanz als die poetische Restpotenz des undichten Dichters.

ortner@wienerzeitung.at