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Permanente Rebellion

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen

Der italienische Philosoph und Aktivist Antonio Negri, der demnächst seinen 80. Geburtstag begeht, gehört zu den einflussreichsten Denkern der antikapitalistischen Linken.


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Wie kaum ein anderer Intellektueller verkörpert Antonio Negri die personale Einheit von brillantem Theoretiker und engagiertem Revolutionär, der sich für eine gerechte Gesellschaft einsetzt. Seit den späten 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts protestiert er in seinen Schriften und politischen Aktionen gegen das herrschende kapitalistische System, das für ihn ein Unrechtsregime darstellt.

In einem langen Gespräch in seiner Wohnung in Venedig schildert der auch mit achtzig Jahren kämpferische Intellektuelle seinen Werdegang, seine politischen und philosophischen Konzeptionen. Sein Credo lautet: "Bei meinen theoretischen Arbeiten war es mir stets sehr wichtig, Theorien zu entwerfen, die Klassenkämpfe unterstützen und voran treiben. Jede Theorie muss konkret auf Klassenkämpfe, also auf die Kämpfe der Armen gegen die Reichen, bezogen sein". Gegen die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen einer vernetzten Elite von Finanzkapital und Politik ruft Negri zu radikalem Widerstand auf. Er ist von der Empörung der Benachteiligten, der sozial Exkludierten getragen. Negri spricht vom "Furor der Empörung", der sich bei den Kundgebungen der Globalisierungsgegner manifestierte.

Theorie und Praxis

Geboren wurde Antonio Negri am 1. August 1933 in Padua. Das Leben in der Lombardei, von dem Negri heute noch schwärmerisch spricht, war damals noch vom Gemeinschaftsgeist geprägt. Er studierte Philosophie und Politikwissenschaften in Neapel, Paris, Freiburg, Hannover und Frankfurt und schloss sein Studium mit einer Arbeit über Wilhelm Dilthey ab. Später übernahm er die Professur für Rechtsphilosophie an der Universität Padua.

In diesen Jahren begann auch Negris politisches Engagement. Mit Gesinnungsfreunden begann er Basiskomitees zu gründen - mit dem Ziel, Studenten und Arbeiter von Padua und Venedig zu aktivieren. 1967 begründete Ne-gri die Gruppe Potere Oparaio - unter anderen mit dem Philosophen Massimo Cacciari, der später als Bürgermeister von Venedig fungierte.

Negri beschreibt die damals herrschende Atmosphäre so: "In den verschiedenen Stadtteilen von Norditalien wurden soziale Zentren geschaffen. Wir organisierten regelmäßig Demonstrationen, deren Teilnehmer weniger aus dem studentischen Milieu kamen, sondern aus der Arbeiterklasse. Dies ist also ein wesentlicher Unterschied zu der Bewegung, die während dieser Zeit in Deutschland aktiv war. Die Bewegung in Italien wurde hauptsächlich vom Proletariat getragen, das sich auf internationale sozialistische und kommunistische Traditionen stützte."

Die Revolte der 1968er-Bewegung erfolgte in karnevalesker Form. In den Großstädten wie Mailand existierten "befreite Stadtteile", in denen sich die Bewohner selbst organisierten; sie bestimmten die Mieten und die Preise für die öffentlichen Transportmittel. In zahlreichen lautstarken Demonstrationen, die öfter zu Happenings gerieten, artikulierten sie ihre Anliegen. Zahlreiche Künstler unterstützten sie, wie Negri, auch heute noch darüber amüsiert, berichtet:

"Das war also eine ganz wunderbare Zeit, in der die Bewegung sehr stark war. Es lohnt sich, Dokumentationen darüber anzusehen und die Theaterstücke, die der Schriftsteller Dario Fo über diese Zeit geschrieben hat, zu lesen. Wir haben auch mit Komponisten wie Luigi Nono zusammengearbeitet - beispielsweise bei der Blockade der Biennale im Jahr 1968. Außerdem mit dem Maler Emilio Vedova und den Musikern Bruno Maderna und Luciano Berio, die mit den Kämpfern sympathisierten".

In den 70er Jahren radikalisierte sich die Protestbewegung, die mittlerweile stark angewachsen war. Mit der aufkeimenden 1977er-Bewegung, die mit allen traditionellen Vorstellungen der Arbeiterbewegung brach, entwarf Ne-gri das Konzept des "gesellschaftlichen Arbeiters". Die Fabrik wurde nicht mehr als der zentrale Ort der Produktion und des Kampfes angesehen, sondern vielmehr die ganze Gesellschaft.

Die politischen Parteien reagierten auf die wachsende Selbstbestimmung mit einer scharfen Repression. Zahlreiche Mitglieder der radikalen Gruppierungen von "Autonomia Oparaio" oder die Gruppe um die Zeitschrift "Lotta Continua" erhielten hohe Gefängnisstrafen.

Im Gefängnis

Auch Negri war davon betroffen. Er wurde am 7. April 1979 mit anderen Intellektuellen verhaftet. Gerade ihm wurde vorgeworfen, der intellektuelle Stratege der bewaffneten Formation "Rote Brigaden" zu sein, die den Politiker Aldo Moro entführt und ermordet hatte. Negris Hinweis, dass er die Aktionen der "Roten Brigaden" verurteile und von ihnen dafür mit der Ermordung bedroht wurde, fand in der politisch aufgeheizten, teilweise hysterischen Stimmung, die von den herrschenden Parteien geschürt wurde, nicht die geringste Beachtung.

Negri verbrachte mehrere Jahre in Untersuchungshaft. Die Wahl zum Abgeordneten für die Radikale Partei verschaffte ihm 1983 kurzfristig Freiheit; sie wurde einige Monate später aufgehoben. Um der drohenden Verhaftung zu entgehen, floh Negri auf einem Boot nach Frankreich, wo er von Intellektuellen wie Gilles Deleuze und Félix Guattari unterstützt wurde.

In Paris besuchte ihn der US-amerikanische Literaturwissenschafter Michael Hardt, der Negris Schriften übersetzen wollte. Aus der Begegnung ergab sich eine enge Zusammenarbeit, die sich in Büchern wie "Empire", "Multitude", "Common Wealth" und "Demokratie!" äußerte. Diese Zusammenarbeit setzte sich nach der Rückkehr Negris nach Italien 1997 fort. Negris Hoffnung auf Haftverschonung, die sich aufgrund der dubiosen Beweislage ergab, erwies sich als Illusion. Er musste noch mehrere Jahre im Gefängnis verbringen; erst 2003 wurde er entlassen. Diese Jahre haben ihn psychisch nicht gebrochen; er habe niemals seine Würde verloren, bekennt Negri im Gespräch. Er setzte sein radikales Denken und Handeln weiter fort, allerdings bezogen auf die enormen politischen und sozialen Veränderungen der Globalisierung.

Diese Veränderungen wurden in dem von Hardt und Negri verfassten Buch "Empire. Die neue Weltordnung" beschrieben. Das im Jahr 2000 publizierte Werk wurde als "Kommunistisches Manifest des 21. Jahrhunderts" bezeichnet. Darin postulieren Hardt und Negri ein "Empire", eine universelle Weltordnung, die keine Zentralmacht aufweist. Diese Macht kennt kein Außen mehr, sie ist vielmehr im Empire als Macht präsent, die vehement in das Leben jedes Einzelnen eingreift. Negri und Hardt sprechen von "Biomacht" und nehmen dabei den griechischen Begriff Bios auf, der das Leben in der Gesamtheit bezeichnet. Die Biomacht ist eine neue Form der Machttechnik, der Biopolitik.

"Biopolitik meint ein nicht zu entwirrendes Geflecht von Macht und Leben. Diese Macht, die sich in das Leben selbst einschreibt, hat der französische Philosoph Michel Foucault bereits eindrucksvoll in seinen Büchern beschrieben. Die Biopolitik hat das Ziel, die biologischen Prozesse der Bevölkerung wie Sexualität, Geburten- und Sterblichkeitsrate, Gesundheit, Wohnverhältnisse etc zu regulieren und nach ökonomischen Richtlinien zu organisieren. Das Kapitalverhältnis selbst ist in den gesellschaftlichen Bereich vorgedrungen, in das Leben eines jeden einzelnen Menschen".

Gegen die Biomacht des "Empire" setzen Negri/Hardt ihre Hoffnungen auf eine internationale, vielschichtige Bewegung, die sie "Multitude" nennen. Es ist dies ein schillernder Begriff, der am Besten mit "Menge", oder "Vielfalt von Subjekten" übersetzt werden kann. Die "Multitude" gründet sich einerseits auf dem Widerstand der Individuen, die vom "Empire" kontrolliert und diszipliniert werden; andererseits auf die Empörung der sozial Degradierten, die als Opfer des Finanzmarkt-Kapitalismus ihre existenziellen Grundbedürfnisse kaum mehr befriedigen können.

Gemeinsame Revolte

In der Revolte gegen die prekären Lebensverhältnisse liegt der Konsens der sozialen Bewegungen. Sie verbindet Studenten, Sozialhilfeempfänger und sogenannte freie Kultur- und Medienschaffende.

Eine "Demokratie der Multitude" bedarf mehrerer Voraussetzungen: das garantierte Grundeinkommen für alle, das eine menschenwürdige Existenz ermöglicht; den Zugang zu einer umfassenden Bildung, die den Menschen befähigt, sich grundlegend zu informieren, und die globale Staatsbürgerschaft, die die Möglichkeit bietet, sich gleichberechtigt an der Regierung der globalen Gesellschaft zu beteiligen.

Nötig wäre überdies eine "offene Informations- und Kulturinfrastruktur", die einen freien Zugang zu Computernetzwerken, Codes sowie kulturellen und wissenschaftlichen Werken sichert. Diese Voraussetzungen sollen eine neue gesellschaftliche Qualität schaffen, in welcher Freude, Glück und vor allem die Liebe einen zentralen Stellenwert haben.

Hier bezieht sich Negri auf den Philosophen Baruch Spinoza (1632-1677), dem er während seines Gefängnisaufenthalts die Studie "Spinoza. Die wilde Anomalie" widmete: "Spinoza legt nichts Erotisches oder Mystisches in den Begriff der Liebe. Liebe ist vielmehr die höchste Form des Begehrens. Es handelt sich aber sehr wohl um eine materialistische Form der Liebe: Liebe für Reichtum, Liebe für die Frauen, die Männer usw.; Das heißt also Liebe, verstanden als Reproduktionskraft der Lebewesen. Es ist dies eine ungeheure Kraft, die man als Kraft des Seins bezeichnen kann."

Die Bücher von Michael Hardt und Antonio Negri sind auf Deutsch im Campus Verlag, Frankfurt am Main, erschienen. "Empire. Die neue Weltordnung" und "Common Wealth. Das Ende des Eigentums" wurden von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn übersetzt, "Demokratie! Wofür wir kämpfen" von Jürgen Neubauer.Nikolaus Halmer, geboren 1958, Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaft.