Zum Hauptinhalt springen

Pessoa und de Camões: Poetische Kinder Lissabons

Von Martin Zinggl

Reflexionen
An vielen Stellen in der Stadt präsent: Pessoa-Figur vor einem Café in Lissabon.
© Ana Brigida

Auf den Spuren der beiden Autoren durch Portugals Hauptstadt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Zum Duell der Poesie treffen sich die Herren Pessoa und Camões nicht, so viel vorweg. Nicht nur, weil beide bereits unter portugiesischer Erde liegen, ironischerweise gar unter dem gleichen Dach, nämlich jenem des Hieronymitenklosters im Lissabonner Stadtteil Belém. Es wäre auch zu Lebzeiten zu keinem Dichterwettstreit gekommen. Fernando Pessoa (1888-1935), Lissabons bekanntester Literat, wurde rund dreihundert Jahre nach dem Ableben von Lissabons größtem Stadtpoeten, Luís de Camões (1524/25-1580), geboren. Der literarische Schatten beider Männer liegt über der Hauptstadt - in einem ungleichen Verhältnis, das sich vor allem im Stadtbild zeigt.

Mindestens fünfmal so oft blickt der nachdenkliche Pessoa von Souvenirs, Broschüren und Wandbildern, vielleicht sogar fünfzigmal so häufig - wer zählt schon nach? Und Pessoa selbst würde sich vermutlich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, wofür sein Antlitz herhalten muss, das so zum literarischen Gesicht Lissabons für die Außenwelt wurde: Kaffeetassen, Socken und Pappfiguren. Eine Kommerzialisierung zum Verzweifeln, eine Barbarei.

Casa Fernando Pessoa

Seine Präsenz ist allgegenwärtig. Ihm zu Ehren gibt es ein Mu-seum, das Casa Fernando Pessoa. Dort verbrachte er die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens, bevor er 1935 einer Leberzirrhose erlag. Ein Hotel trägt seinen Namen, ebenso zwei Gästehäuser, ja, sogar eine der Fähren, die täglich den Tejo überqueren. Und vor dem Café A Brasileira in der Rua Garrett liest er stolz, in Bronze gegossen, Zeitung - sehr zum Vergnügen der Passanten und Besucher, die sich mit dem Stadtdichter ablichten lassen. Noch kurioser würdigt ihn das Café Martinho da Arcada, gelegen unter den Arkaden der Prachtbauten am Praça do Comércio. Dort wird Pessoas Stammplatz bis heute frei gehalten, als ob der Dichter jederzeit vorbeikäme, um sein altbewährtes Gläschen Absinth zu kippen.

Luís de Camões hingegen hat einen eigenen Platz samt Statue in Lissabon erhalten, von dessen Sockel er - Ironie oder Zufall - auf das Café A Brasileira und somit auf seinen Kontrahenten Fernando Pessoa herabblickt. Zudem wurde eine Schule nach Camões benannt, ein Theater, eine Straße, ein Sprachinstitut, eine Konzerthalle, mehrere Restaurants und Pensionen. Camões sieht der Reisende selten, sofern er das Gesicht des Einäugigen überhaupt erkennt.

Interessanter Vergleich am Rande: Nach Portugals einzigem Literaturnobelpreisträger, José Saramago, wurde nur eine unbedeutende Straße in einem Lissabonner Außenbezirk benannt, dennoch krönt der Name des 2010 verstorbenen Autors das Gebäude mit der spektakulärsten Außenfassade der Stadt. Die Fundação José Saramago, eine Stiftung zu Ehren des Literaten, befindet sich in der Innenstadt im sogenannten Casa dos Bicos, dem Haus der Stacheln, deren facettierte Spitzsteine auf den ersten Blick eher davon abhalten, das Gebäude betreten zu wollen - dabei lohnt sich ein Besuch darin allemal, will man das umfangreiche Gesamtwerk Saramagos begutachten.

Zurück zu den Platzhirschen: Vergessen wir für einen Augenblick die Popularität der Dichter und sehen uns die beiden Herren etwas näher an. Die Frage, wer besser war, stellt sich nicht, denn einem Fußballfan mit Vernunft käme es ebenso wenig in den Sinn, Cristiano Ronaldos Qualitäten mit jenen von Portugals Legende Eusébio zu vergleichen. Zumal dreihundert Jahre zwischen Pessoa und Camões liegen, in denen sich Sprache, Literatur und die Welt verändert haben. Außerdem hat Pessoa auch auf Englisch publiziert. Seinen Ruhm hat er nicht zuletzt also der Tatsache zu verdanken, dass seine Texte in alle Herrgottssprachen übersetzt werden konnten - und in diesen Fremdsprachen auch wirken.

Stimmung einer Nation

Pessoas Meisterwerk "Buch der Unruhe" gilt heute als internationaler Bestseller. Einerseits weil seine Intensität und seine Düsterkeit in andere Sprachen übertragbar waren. Andererseits weil der Autor zur Zeit der Veröffentlichung die Stimmung einer ganzen Nation widerspiegelte: eine zwischen Aufbruch und Melancholie - oder frei nach Pessoa: die tragische Belanglosigkeit des Lebens. Denn die Fragmente für das Kultbuch befanden sich in Pessoas 35.000 Seiten starkem Nachlass, der 47 Jahre nach seinem Tod gefunden wurde, kurz nach der Nelkenrevolution.

Das Werk, in dem sich eines von Pessoas Heteronymen in teils verstörenden Bildern den Schmerz von der Seele schreibt, sich über sein ereignisloses Leben auslässt, wurde erst 1982 in Portugal publiziert und bald da-rauf in viele Sprachen übersetzt. Mit Sicherheit setzte das "Buch der Unruhe" Lissabon als Literaturstadt auf die Weltkarte. Einer der bedeutendsten Lissabonner Schriftsteller zeitgenössischer Literatur, António Lobo Antunes, drückte sich in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung "El País" weniger diplomatisch zu diesem Thema aus.

Als offensichtlicher Kritiker Pessoas nannte er seine Poesie ein Plagiat, das sich der Autor von Walt Whitman abgeschaut habe, und sagte, dass ihn das "Buch der Unruhe" zu Tode langweile. Zudem frage er sich, ob ein Schriftsteller überhaupt gut sein könne, wenn er "noch nie gevögelt hat" - womit er auf Pessoas Einsamkeit anspielte. Antunes, bekannt dafür, ein Lästerer zu sein, versuchte später auch den Ruhm seines Landsmannes José Saramago zu schmälern, indem er behauptete, dass der Nobelpreis einen Scheißdreck wert sei. Nur über Camões verliert Antunes kein böses Wort.

Eine Statue des Autors Luís de Camões in der Innenstadt Lissabons.
© Ana Brigida

Camões’ Lyrik, die er ausschließlich auf Portugiesisch schrieb, wurde ebenso in anderen Sprachen veröffentlicht. Da bei der Übersetzung jedoch Eloquenz und Kunst verloren gehen, funktionieren seine Werke nur auf Portugiesisch. Camões’ Gedichte sind wie Musik, seine Reime folgen einer Melodie, die in der Übertragung zu einer anderen Gattung werden. Als ob sich eine klassische Symphonie in einen Technodrill verwandelt. Der Inhalt bleibt gleich, die Bedeutung kommt an, die Töne aber klingen falsch. Bestes Beispiel dafür ist Camões’ Epos "Os Lusíadas" ("Die Lusiaden") von 1572. Er unterteilte das Buch in Gesänge (Kapitel) und Strophen (Abschnitte), wobei jede Strophe ein gereimter Achtzeiler ist. Unmöglich zu übersetzen und dabei die Reime beizubehalten, die den gleichen Klang seiner Poesie vermitteln. Camões’ Lusiaden wurden weltberühmt, allerdings nur in o mundo lusófono, also dem portugiesischsprachigen Teil der Welt. Ein Exemplar der Erstausgabe dieser heimlichen Bibel Portugals führt die 116.000 Bände umfassende Bibliothek der Academia das Ciências de Lisboa.

Portugals Nationalepos

Das Heldenepos erzählt die Geschichte von Vasco da Gamas Suche nach dem Seeweg nach In-dien. Auf ihrer Reise leisten der portugiesische descobridor, Entdecker, und seine Begleiter oftmals Widerstand gegen allerlei Angriffe, Fabelwesen und Unwetter, ehe sie, das wissen wir aus der Geschichte, in Indien landen und damit eine neue Handelsroute entdeckt haben. Zudem erzählen unterschiedliche Protagonisten, von da Gama selbst bis zur Meeresgöttin Tethys, einen Abriss der Geschichte des portugiesischen Königreiches, von den Anfängen der Besiedlung bis zur Rückkehr da Gamas nach Lissabon.

Anfangs wurde Camões’ Werk missachtet, gar verspottet, nach seinem Tod dann aber als Meisterstück gepriesen. Allein schon deshalb, weil es dem Selbstwertgefühl der Portugiesen schmeichelte, einer Nation, die während der Entstehungszeit dieses Werkes in der Blüte ihrer Weltmacht stand, der goldenen Ära der Entdeckungen und Kolonialisierung. Kein Wunder also, dass ausgerechnet diese patriotische Schrift als Na-tionalepos der Portugiesen gefeiert wird - dass sie bei ihrem Vorgehen Andersgläubige niedergemetzelt haben, stört zu diesem Zeitpunkt niemanden.

Die Lusiaden sind ein Lobgesang auf diese für die Portugiesen so wichtige Epoche, verpackt in Poesie. Eine Erfolgsgeschichte von tapferen Helden und sprechenden Gottheiten, die ganz viel saudade erzeugt, nach der sich Portugal spätestens seit dem diktatorischen Salazar-Regime zurücksehnt - und durch die sich heute jedes portugiesische Kinderhirn in der Schule quälen muss. Denn die Lusiaden, also die Nachkommen des Gottessohnes Lusus - in der römischen Mythologie der Gründer jenes Gebietes, das später zum Königreich Portugal wurde -, sind die Portugiesen selbst. Und in Camões’ Buch sind sie die Gefeierten, die Helden, die Unverwüstbaren. Darum Camões’ famoser Beiname: der Große, der Unsterbliche, der Eine.

72 Charaktere

Vielleicht ist der andere, Pessoa, so allgegenwärtig, weil er nicht nur eine Person war, sondern gleich 72 verschiedene Charaktere verkörperte. Sein Name selbst übersetzt sich aus dem Portugiesischen als "Person", aber auch als "Maske", "Fiktion" und "Niemand". In Form von Heteronymen und Pseudonymen veröffentlichte der Dichter seine zahlreichen Geschichten als Spiegelwelten. Allein dieser Zugang machte ihn besonders und einzigartig. Oder zumindest multipolar. In seinen Texten, die irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit stattfinden, unterhalten sich oftmals mehrere seiner Heteronyme miteinander, ein Zwiegespräch unter den Pessoas. Genie oder Spinner? Vermutlich beides. Und das eint die Kontrahenten. Beide Kinder Lissabons waren dem Leben verfallen. Beide starben einsam und arm. Beide waren zunächst Gescheiterte und wurden erst posthum berühmt.

Pessoa, in Lissabon geboren, geht in Südafrika zur Schule, bevor es ihn mit siebzehn in seine Heimatstadt zurückzieht. Entfremdet davon, versucht er sich durch niedergeschriebene Sprache wieder in das Lissabon seiner Kindheit zu versetzen. Er durchstreift die Stadt, die er beispiellos liebt und die ihn beflügelt, schreibt Gedichte darüber, findet keinen Verleger, trinkt stattdessen - und leidet unter seiner Unsicherheit. Er flüchtet sich in andere Personen, schreibt ihre Leben in Heteronymen nieder, um die typischen Charakterzüge der Portugiesen wiederzugeben: Geschichten über ihre saudade, von Sehnsucht und Wehmut an die guten alten Zeiten Lissabons und der einstigen Weltmacht. Verlegt wird er trotzdem nicht. Seine Trauer ertränkt er in immer mehr Alkohol. Sein Leben endet jung, mit 47 Jahren, ohne Geld und ohne Liebe. Aber Pessoa lässt tausende Dokumente zurück, die ihn posthum zum Nationaldichter Portugals machen.

Luis de Camões, geboren in eine arme Familie, kehrt nach dem Studium in Coimbra nach Lissabon zurück. In den Tavernen der Stadt macht er sich vor allem als Frauenheld einen Namen, der keine Gelegenheit auslässt, die sich ihm bietet. In Ungnade fällt er erst, als er mit der Schwester des Königs ein Verhältnis beginnt und dieser ihn aus der Stadt verbannt. Camões zieht freiwillig in den Krieg gegen Marokko, verliert dort sein rechtes Auge und kehrt nach Lissabon zurück, gerade lange genug, um wieder den König zu verärgern, dessen Diener er in einem Streit angeblich verletzt.

Nächste Station: Ostindien. Abermals als Soldat nimmt er an mehreren Expeditionen teil, bevor er ein satirisches Gedicht über die mangelhafte Verwaltung Indiens veröffentlicht und daraufhin noch weiter in den Osten, nach Macau, verbannt wird. In den fünf Jahren an der chinesischen Küste vollendet Camões seine Lusiaden. Auf dem Rückweg nach Goa kentert das Schiff, Camões ertrinkt beinahe - und mit ihm sein Werk. Die nächsten Jahre verbringt er entweder im Gefängnis in Malakka oder in Armut in Mosambik, bevor er 1570 nach Lissabon zurückkehrt und zwei Jahre später seinen einzigen Besitz, "Os Lusíadas", veröffentlicht. Diesen, so will es die Legende, trägt er Sebastian I. persönlich vor, jenem König, der den Dichter Jahre zuvor aus Lissabon verbannt hatte.

Historiker munkeln, dass der König jetzt etwas Besonderes in Camões sah - nicht nur, weil er ihm erlaubte, ein Werk zu veröffentlichen, das neben Heldengeschichten ebenso heidnische und sexuelle Inhalte hatte, sondern auch, weil er ihm als Verdienst eine königliche Pension zugestand. Sieben Jahre später stirbt Camões an den Folgen der Pest. Die einen vermuten, als Bohemien, sein Nachruf meint, er war völlig verarmt, vereinsamt und verhungert. Verscharrt wird er in einem Massengrab. Bald darauf entdecken seine Landsleute den Wert der Lusiaden und vergöttern den Verkannten. Fortan wird Portugals Nationalfeiertag auf Camões’ Sterbedatum gelegt, den 10. Juni. Selbst Pessoa zollte seinem Mitstreiter gebührenden Respekt und nannte Camões einmal "den großen epischen Dichter".

Pessoa ist stadtbekannt und bei den Touristen sehr beliebt, Camões hingegen gehören die Herzen der lisboetas. Auf der einen Seite der Depressive, der Schüchterne, der Daheimgebliebene. Auf der anderen Seite der Abenteurer, der Frauenheld, der Störenfried. Während der eine omnipräsent ist, gilt der andere als der eigentliche Held. Der ewig Deprimierte ist nun der Gefeierte - und der ehemals Laute ist nun der Stille. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein. Und doch gehören sie untrennbar zu Lissabon.

Martin Zinggl, geboren 1983 in Wien, ist Reporter, Fotograf und
Filmemacher. Der Text ist ein Auszug aus seinem neuen, soeben bei Piper
erschienenen Buch, "Gebrauchsanweisung für Lissabon".