Der Philosoph Peter Bieri über seinen Weg zur "Analytischen Philosophie", die Freiheit des Willens - und die Wahl seines Künstlernamens "Pascal Mercier", unter dem er erfolgreiche Romane, wie "Nachtzug nach Lissabon", veröffentlicht.
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Wiener Zeitung: Herr Bieri, wie kommt man dazu, Philosophie zu studieren? Man wird doch nicht Philosoph aus Karrieregründen.
Peter Bieri:Nein, da haben Sie Recht. Ich hatte eine rein platonische Motivation, wenn Sie so wollen. Ich wollte mich mit den wirklich wichtigen Lebensthemen befassen. Ich komme aus einer kleinbürgerlichen, richtig spießigen Schweizer Familie. Wir wohnten in einem Vorort von Bern. Etwas "Schweizerischeres" als meinen Vater kann man sich nicht vorstellen. Worum es bei uns ging, kam mir bald klein, eng, ja irrelevant vor. Mit Ausnahme der Musik - mein Vater war Musiker; ich bin mit klassischer Musik als etwas Selbstverständlichem aufgewachsen.
Mein Weg zur Philosophie führte über die Sprache. Schon früh begann ich mich für Schriften und Texte zu interessieren, die sich nicht jedermann sofort erschließen. Ich fühlte mich zu den "heiligen Texten" der Weltreligionen hingezogen - von der Bibel bis zu den Upanishaden. Mich faszinierten die geheimnisvollen Schriftzeichen, die oft so schön wie Ornamente sind. Schauen Sie sich nur einmal das geschriebene Sanskrit an! Ich besuchte ein wunderbares Gymnasium, an dem ich neben Latein und Griechisch auch Hebräisch lernen konnte. Je geheimnisvoller eine Sprache, desto vielversprechender war es für mich, hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Diese Kenntnisse haben mir es zum Beispiel ermöglicht, mich in die tibetische Mystik einzuarbeiten.
Wenn ich etwas wollte, dann immer total. Diese, wenn Sie so wollen, "Exaltiertheit" ist mir bis heute geblieben: Ich bin gerade dabei, Arabisch zu lernen.
Aber wie sind Sie zur Philosophie gekommen?
Nun, wie gesagt: Ich habe mich immer mit den wichtigen Dingen beschäftigen wollen, mit dem Leben, dem Tod, dem Sinn des Daseins. Ich suchte meine Weltorientierung - das, was Ryle die "logische Geographie" nannte. Zu meiner Zeit hatte Karl Jaspers in Basel starken Einfluss auf die Geistesgeschichte, seine Existenzphilosophie und eine Sprache, die der Umgangssprache nahe war. In Frankreich war der Existenzialismus eines Sartre oder Camus bestimmend. Das alles faszinierte mich sehr.
Kurz vor meinem Abitur habe ich mich verliebt und bin einem Mädchen nach London nachgereist. Das brachte zwei entscheidende Impulse für mein Leben. Einerseits merkte ich, wie viel Freude das Können moderner Sprachen macht. Ich lernte Englisch und Spanisch. Am meisten bewunderte ich damals die Arbeit der Dolmetscher. Wie kann man, so fragte ich mich, gleichzeitig in zwei verschiedenen Idiomen zu Hause sein und auch so denken? Das erweckte in mir die Neugier und die Überlegung, wie es wäre, ein ganz anderes Leben zu leben, mit einer völlig anderen "Melodie". Denn Sprache hat sehr viel mit Klang und Melodie zu tun. Für mich sind Worte vor allem Klänge.
In England kam ich außerdem mit der Analytischen Philosophie in Berührung . . .
Sie gelten in Deutschland als einer der Hauptvertreter der Analytischen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Was ist eigentlich "Analytische Philosophie"?
Das war von Anfang an kein einheitliches Gebilde. Ausgehend vom "Wiener Kreis" um Carnap und Schlick und vom frühen Wittgenstein, verfolgten einige Philosophen, insbesondere im anglo-amerikanischen Raum, das Ideal, die Philosophie in ihrer Methodik an die exakten Naturwissenschaften anzugleichen. Man legte größten Wert auf Logik und Mathematik; man versuchte "Idealsprachen" zu entwickeln; man postulierte die schon zitierte "logische Geographie"; man strebte nach Klärung und Klarheit "through arguing". Doch leider führte schon die "Ordinary Language Philosophy" in Oxford zu einem neuen Dogmatismus.
Ende der 1980er Jahre gab es die "Analytische Philosophie" praktisch nicht mehr. Kohärente begriffliche Themen - beispielsweise über die Willensfreiheit - wurden wieder salonfähig.
Sprachen nicht manche damals vom "Ende der Philosophie"?
Ich habe niemals an solche Parolen geglaubt. Wenn Sie heute in die Universitäten schauen, erkennen Sie an den vollen Hörsälen, wie groß das Bedürfnis nach Philosophie vor allem der jüngeren Generation ist. Auch sie interessiert sich für die anglo-amerikanische Literatur, ohne deren Dogmen zu übernehmen. Doch ein positives Erbe der Analytischen Philosophie bleibt: Man hatte in diesen Jahren eine gedankliche Genauigkeit, eine Exaktheit der Argumentation und eine logische Klarheit erreicht, hinter die niemals mehr zurückgegangen werden kann. Wir haben anspruchsvollere methodische Maßstäbe erworben. Aber die alten Themen der Menschheit - Was ist der Sinn des Lebens? Wovor haben wir Angst, wenn wir vor dem Tod Angst haben? Warum sollen wir moralisch sein? - sind heute so brisant wie eh und je.
Philosophisches Denken unterscheidet sich zum einen grundsätzlich von den "Disziplinen erster Ordnung". Die Aussagen der Philosophie sind allgemeiner, ab-strakter als die der empirischen Wissenschaften. Wie wäre, so heißt die philosophische Frage, Willensfreiheit strukturell zu beschreiben. Philosophie ist jedoch zum anderen nicht das Denken über die Welt, sondern das Denken über das Denken. Also: Was denkt einer, der über die Willensfreiheit nachdenkt?
Damit sind wir bei Ihrem "Opus magnum", durch das Sie 2001 einer großen Öffentlichkeit bekannt wurden und das äußerst erfolgreich ist . . .
. . . und das ohne ein einziges Fremdwort auskommt . . .
Ja, Sie haben uns das Lesen leicht gemacht. Nicht aber das Denken. In dieser Hinsicht verlangen Sie dem Leser einiges ab. Trotzdem war das "Das Handwerk der Freiheit" bereits nach zwei Jahren sechs Mal aufgelegt. Haben Sie es als Protest gegen die Grenzüberschreitungen der Neurophysiologen geschrieben, die dem Menschen neuerdings den freien Willen absprechen?
Nein, das Buch ist entstanden, bevor Wissenschafter wie Roth, Prinz, Walter oder Singer offensiv an die Öffentlichkeit gegangen sind. Ich schätze sie als Wissenschafter und Kollegen sehr, das sind außerordentlich intelligente Männer; doch was sie zum Thema Willensfreiheit von sich geben, ist leider hanebüchen. Aber das Buch ist davon unabhängig entstanden.
Es gibt den uralten Streit zwischen Deterministen und Indeterministen. Die einen sehen den Mensch als eine Art Maschine, die nur vollzieht, was Gene oder Triebe vorschreiben; die anderen betonen, dass derjenige, der die Willensfreiheit leugnet, auch die moralische Verantwortung abschaffe, weil keine Handlung mehr einem Willen zuzurechnen wäre. In ihrem Buch ist man zwischen diesen beiden Polen kapitelweise hin- und hergerissen.
Der Streit beruht auf einem begrifflichen Irrtum. Erst muss man über den Begriff der Freiheit selbst nachdenken. Jedem vernünftigen Menschen ist doch sofort klar, dass man in ein ganzes Bündel von Determinanten eingebunden ist: Genetik, Körperbau, Familienprägung, Geld, Arbeit, Gesellschaft - um nur einige zu nennen. Es geht also gar nicht um frei oder unfrei, sondern um das Ausmaß an Freiheit oder Unfreiheit, in dem wir leben. Und dies wiederum hängt mit unseren Maßstäben zusammen, die wir an unsere persönliche Freiheit anlegen.
Wirklich unfrei ist man, wenn man unter Zwang anders handelt, als man handeln will. Aber nicht alle Zwänge sind schicksalhaft. Man kann auch an sich arbeiten, sich beispielsweise in Zivilcourage üben.
Nannten Sie Ihr Buch deshalb "Handwerk der Freiheit"?
So ist es! Ich erwähnte vorhin die Existenzialisten. Ihnen ging es um die Befreiung des Menschen, hin zu seinen eigenen Möglichkeiten. Auch Sigmund Freud wollte seinen - zwangsneurotischen - Patienten "die verloren gegangene Freiheit zurückgeben". Ein metaphysischer Freiheitsbegriff, völlig losgelöst von meinen Determinanten, von meinen Eigenarten und von meinen Erfahrungen, so ein Wille wäre vielleicht frei, aber er wäre nicht mehr mein Wille. Ein solcher Freiheitsbegriff ist völlig wirklichkeitsfern, er beschreibt keine konkrete Erfahrung. Entscheidend für den Menschen ist die Frage: Ist mein Wille überhaupt der, den ich haben möchte?
Aber wir geraten mitunter in Situationen, in denen wir Dinge tun, die wir gar nicht wollten.
Naja, es gibt Entscheidungen, deren Beweggründe "verschmiert" sind. In solchen Fällen sollte man die Frage etwas anders stellen. Gibt es in mir nicht etwas, das sich heimlich doch die "falsche" Entscheidung gewünscht hat?
Es gibt aber auch zugespitzte Entscheidungen - nicht selten unter Zeitdruck -, in denen sich unsere Freiheit klar manifestiert. Und dabei ist eben die ganze Person in die Betrachtung einzubeziehen, ihre Gewohnheiten, ihre Erfahrungen, ihre Seele.
Seele? Hat denn der Mensch eine Seele, im Sinne einer obersten Instanz?
"Seele" ist für mich ein ganz wichtiges Wort, es ist auch literarisch schön. Ich verstehe darunter die Gesamtheit meiner Emotionen, meine innere Konfigurierung. Aber der Mensch hat in sich nicht noch einen Obermenschen, einen "Homunkulus".
Sind Sie, was Max Weber für sich selbst einmal verneinte, "religiös musikalisch"?
Ich bin auf meine Weise religiös, nur nicht im Sinne einer Metaphysik-Gläubigkeit. Ich verstehe religiöse Emotionen und ich habe großen Respekt vor religiösen Menschen. Religion erklärt ja nicht nur die Welt und wie sie entstanden ist, sie gibt den Gläubigen auch eine moralische Orientierung.
Glauben Sie an Gott?
Nein. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass es so etwas wie Gott gibt. Denken Sie an Prado, die Figur in meinem Roman "Nachtzug nach Lissabon". An einer Stelle sagt er: "Ich liebe betende Menschen". Sein Freund nennt ihn einen "gottlosen Priester".
Das leitet über zu Ihrer literarischen Tätigkeit. Als Romanautor sind Sie ebenfalls äußerst erfolgreich. Gerade ist ihr viertes Werk erschienen, "Lea", das Sie als Novelle bezeichnen. Hat Ihr Künstlername, Pascal Mercier, eine tiefere Bedeutung?
Das ist ein Name aus dem Berner Telefonbuch. Er hat nichts mit dem Philosophen Pascal zu tun, er klang einfach nur schön und elegant.
Der Philosoph als Dichter - da haben Sie ja einige Vorgänger, wie Nietzsche oder Sartre.
Nun, es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Literatur und Philosophie. Auch in der Literatur müssen Sie völlige Klarheit über Ihren Gegenstand gewonnen haben. Genauigkeit gibt es in beiden Disziplinen, gedankliche Transparenz, begriffliche Exaktheit. Aber während die Philosophie eine Inszenierung von Gedanken ist, so ist Literatur die poetische Vergegenwärtigung von Erfahrung. Dichtung schöpft aus einer anderen Dimension der Sprache, die Poesie "transportiert" einen Teil des Inhaltes durch die Form, den Reim, den Rhythmus, den schon erwähnten Klang des Wortes - und ist darin der Musik eng verwandt. Philosophie und Literatur sind zwei verschiedene Projekte. Aber sie stehen für mich nicht im Konflikt. Und schon gar nicht, was die Gedankentiefe und -transparenz anlangt.
Ihre Romane wurden bisher vom Publikum und der Kritik enthusiastisch aufgenommen. Nur bei "Lea" ist die Kritik nicht so gut.
Verheerend, vernichtend! Aber ich schreibe doch nicht, um dem Feuilleton zu gefallen. Ich schreibe, um mir selbst etwas klar zu machen. Bei mir ist Schreiben eine sehr nach innen gewandte Tätigkeit. Ich habe kein Problem damit, kritisiert zu werden. Als Wissenschafter und Autor ist das ganz normal. Leider hat aber die Kritik mit mir und mit dem Buch nichts zu tun. Sie ist auch poetologisch ziemlich unfruchtbar.
Man hat Ihnen vorgeworfen, gegen Kitsch zu polemisieren und selbst nicht frei davon zu sein.
Kitsch, das ist für mich Schreiben nach Klischees. Die vorgestanzte, ungenaue Beschreibung von Handlungen und Gefühlen. Sicher, jeder Schriftsteller kämpft darum, nicht die Schlacke des Abgenutzten mit sich zu führen. Und unsere Sprache ist nun einmal sehr abgenutzt. Aber wir haben keine andere. Mir scheint, dass manche Kritiker starke Emotionen sofort mit Kitsch gleichsetzen. Und bei "Lea" geht es um solche starken Emotionen zwischen Vater und Tochter.
Sie haben sich vorzeitig in den Ruhestand begeben, um sich mehr Ihrer literarischen Arbeit widmen zu können, heißt es. Hört der Philosoph Bieri auf?
Keineswegs! Mein nächstes Buch wird ein philosophisches sein.
Darf man schon etwas über dessen Inhalt erfahren?
Es wird sich den großen existenzphilosophischen Themen widmen: Selbsterkenntnis - was macht der Blick der anderen aus mir? Warum soll man moralisch sein? Was genau versteht man unter der Würde des Menschen? Übrigens: Ich habe gestaunt, wie dünn die Literatur zum Thema "Würde des Menschen" ist. Ich gehe der Frage nach: Was ist die Idee der Würde?
Nein, ich höre keineswegs zum Philosophieren auf; doch der akademische Betrieb lässt mir einfach zu wenig Zeit zum Denken und Schreiben. Denn mir geht es um die wichtigsten Aspekte der menschlichen Erfahrungen; mich treibt um, was jeder Philosophie als Motiv zugrunde liegt: Das Leben des Menschen besser zu verstehen.
Haben Sie eine Beziehung zu Wien?
Nur eine sehr lose. Sicher: Der "Wiener Kreis" und Wittgenstein sind wesentliche Bezugspunkte meines philosophischen Denkens. Ach ja, da fällt mir ein, dass einer der größten Analytiker, der Amerikaner Willard Van Orman Quine, der ja mit deinigen Mitgliederns des "Wiener Kreises" befreundet war, seinen weltberühmten Vortrag "Epistemology naturalized" in Wien gehalten hat, wofür ich damals extra hingereist bin.
Ich möchte mich mit einem Zitat aus Ihrem Roman "Nachtzug nach Lissabon" für das Gespräch bedanken: "Wenn es das poetische Denken gäbe und die denkende Poesie - das wäre das Paradies."
Peter Bieri
Peter Bieri wurde 1944 in Bern geboren, besuchte dort ein altsprachliches Gymnasium, das er nach der Matura in Richtung London verließ, wo er ein Studium der Indologie und Anglistik begann. 1971 wurde er in Heidelberg zum Dr. phil. promoviert. Durch seine Beschäftigung mit Indologie und buddhistischer Mystik fühlte er sich zur Philosophie hingezogen. 1981 habilitierte er sich in Heidelberg und wurde Philosophieprofessor, zuletzt an der Freien Universität Berlin. Peter Bieri ist einer der wichtigsten Vermittler zwischen der angelsächsischen sprachanalytischen Philosophie und der kontinentalen Tradition der Bewusstseinsphilosophie. 2001 legte er sein philosophisches Hauptwerk, "Das Handwerk der Freiheit", vor. Diese Philosophie des Willens kommt ohne den üblichen Fachjargon aus und bedient sich einer allgemein verständlichen Sprache.
1995 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Pascal Mercier seinen literarischen Erstling, "Perlmanns Schweigen". Der Erfolg dieses "Bewusstseinskrimis" bewog Bieri, sich als Träger des Pseudonym erkennen zu geben. 1998 erschien sein zweiter Roman, "Der Klavierstimmer", eine Studie über die Psychopathologie des Misserfolgs. Ihm folgten 2004 "Nachtzug nach Lissabon", der sich zu einem Bestseller entwickelte, und heuer die Novelle "Lea".