Der Tiroler Extrembergsteiger Peter Habeler über Gipfel-Erlebnisse und gefährliche Seilschaften, die Mount- Everest-Expedition mit Reinhold Messner vor 35 Jahren - und über die kleinen Freuden nach einem Abstieg.
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"Wiener Zeitung": Herr Habeler, wir sitzen hier in Ihrem Haus in Finkenberg im Zillertal, umgeben von hohen Bergen. Könnten Sie auch im Flachland leben?Peter Habeler: Nicht auf Dauer. Ich bin froh, dass ich hier leben kann. Von hier aus überblicke ich meine geliebten Mountains. Viele Menschen haben ein Problem damit, von Bergen umgeben zu sein, sie fühlen sich beengt, sehen sie als Hort vieler Gefahren: Lawinen, Wasser, Steinschlag. Mir jedoch geben die Berge Geborgenheit, ich brauche sie, um mich daran festzuhalten. Aber es muss nicht unbedingt das Zillertal sein. In den Bergen des Himalaya fühle ich mich ebenfalls heimisch. Ich fahre jedes Jahr dorthin und nehme dabei einen 6000er mit, wenn ich auch nicht mehr die ganz scharfen, zackigen Anstiege wage.
Viele Bergbegeisterte behaupten, die Freiheit lebe im Gebirge. . .
Das ist Unsinn. Das Gebirge erfordert große Disziplin und nur wer bereit ist, ihr zu gehorchen, wird bergsteigerisch weiterkommen. Es gibt natürlich diese herrlichen Freiheitsgefühle, aber man darf sich ihnen nicht leichtsinnig überlassen, das wäre lebensgefährlich.
Sie behaupten von sich, Berge seien Ihre Freunde, die Sie nicht unbedingt "bezwingen" oder "erobern" wollten. Darf man das einem Extrem-Bergsteiger glauben?
Ja, weil es stimmt. Ich habe meine Expeditionen eher als freundschaftliche Besuche gesehen, obwohl sie oft unter höllischen Strapazen absolviert wurden. Die Freunde waren nicht immer gleich gut gelaunt. Manchmal gewährten sie mir den Gipfel und legten mir eine wunderbare Fernsicht zu Füßen, manchmal schickten sie mich ins gefährliche Whiteout. Oft bescherten sie so widrige Bedingungen, dass ich vorzeitig umdrehen musste. Aber bis jetzt waren sie gnädig und ließen mich überleben.
Ist der Gipfelsieg immer auch der emotionale Höhepunkt einer schwierigen Expedition?
Eine Expedition hat viele Höhepunkte. Es beginnt bei der Vorbereitung. Man befindet sich dabei in einem aufregenden Spannungszustand. Dann kommt die Abreise in oft unbekanntes Gebiet, gefolgt vom Lagerleben im Basiscamp. Das Aufstellen der Zelte und die letzten Vorbereitungen für die Gipfelbesteigung habe ich immer sehr genossen. Ich fand es nicht schlimm, wenn ein, zwei Tage schlechtes Wetter herrschte. Ich blieb im Zelt und las Bücher. Im Basislager kann im Gegensatz zum Hochlager ja nichts passieren. Man hat viel Zeit für sich, wird nicht abgelenkt. Zumindest bis in die 1990er Jahre war das so. Heute stehen in den Basiscamps Computer herum, man wird mit Nachrichten versorgt und schickt die Neuigkeiten von der Expedition per Facebook in die ganze Welt. Wir formulierten die Berichte für die Öffentlichkeit erst später zu Hause, die Zeit am Berg gehörte uns.
Und das Gipfelerlebnis selbst?
Das ist der sichtbare Höhepunkt. Natürlich ist da oben die Befriedigung sehr groß, allerdings ist man hundemüde und freut sich schon aufs Heimkommen, möchte so rasch wie möglich ins Tal zurück. Es steht ja noch der fordernde, ebenfalls nicht ungefährliche Abstieg bevor.
Es ist nun genau 35 Jahre her, dass Sie am 8. Mai 1978 mit Reinhold Messner den Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen. Wie war das damals am Gipfel?
Wir haben uns umarmt, geweint und gelacht. In diesem Augenblick war das Glück ein vollkommenes. Aber nur einen Moment lang. Der Aufstieg war brutal hart - und auch psychisch war es schwierig. Wir hatten Angst, ein Höhenlungenödem oder ein Höhenhirnödem zu bekommen. Wenn das eintritt, ist man innerhalb weniger Stunden tot. Ich spürte den fast luftleeren Raum und es drängte mich, schnell wieder abzuhauen und ins Südsattellager zu kommen, wo ich in Sicherheit war. Reinhold blieb noch eine Viertelstunde länger und filmte.
Wie hält man solche physischen und psychischen Anstrengungen überhaupt durch?
Jedenfalls nicht, indem man sich jeden Schritt und Handgriff genau überlegt. Selbstverständlich klettert man hochkonzentriert und keinesfalls kopflos, aber man greift auf die Erfahrungsschätze zurück, auf das Können, das man seit Kindertagen antrainiert hat. Weitgehend übernimmt der Instinkt die Führung. Psychisch hilft es, hie und da einen Blick nach oben zu richten und den Gipfel näherkommen zu sehen. Man denkt: Das geht sich aus!
Viele Experten waren damals der Meinung, ohne Sauerstoffgerät sei der Everest nicht zu schaffen.
Es gab fast nur Unkenrufe, die uns prophezeiten, falls wir es wider Erwarten doch schaffen sollten, den Gipfel zu erreichen, würden wir als lallende Idioten zurückkehren. Aber es gab auch erfahrene Bergsteiger, die meinten, es sei machbar. Darunter Sir Edmund Hillary, der vor nunmehr genau 60 Jahren mit dem Nepalesen Tensing Norgay den Everest zum erstenmal bestieg (siehe Artikel auf Seite 35, Anm.). Reinhold und ich statteten ihm im Vorfeld unserer Expedition einen Besuch ab - und er bestärkte uns darin, dass wir es versuchen sollten.
War die intensive Berg-Kameradschaft, die Sie mit Reinhold Messner verband, auch eine Freundschaft?
Vor allem waren wir eine eingeschworene Seilschaft. Ich hatte die Ehre, mit den weltbesten Bergsteigern unterwegs sein zu dürfen. Er war vermutlich damals der Beste und seiner Zeit weit voraus. Vor dem Everest absolvierten wir gemeinsam etliche spektakuläre Besteigungen in Rekordzeit. Wir vertrauten uns gegenseitig blind. Wenn er vorausstieg, wusste ich, er macht keinen Fehler und er verließ sich ebenfalls hundertprozentig auf mich.
Bei der Everest-Expedition verdarb ich mir durch Sardinen den Magen. Ich war ein paar Tage außer Gefecht und dachte, ich mache mich nicht zum Deppen, ich gehe da nicht hinauf. Aber Reinhold holte mich wieder ins Boot. Ohne ihn wäre ich nicht auf dem Gipfel gestanden. Danach ging wieder jeder seiner Wege, er nach Südtirol, ich nach Nordtirol. Eine enge Freundschaft braucht auch örtliche Nähe, diese hatten wir nicht. Die Medien haben uns viel Konflikte unterstellt, aber das ist Schnee von gestern, wir haben uns ausgesprochen. Ab und zu sehen wir uns noch, und unser Verhältnis ist von großem gegenseitigem Respekt getragen. Ich bewundere ihn auch dafür, was er außerhalb des Bergsteigens auf die Beine gestellt hat, etwa mit seinen Museen. Ich konzentrierte mich immer nur aufs Bergsteigen. Alles andere ist nicht meine Welt.
War der Everest Ihr schwierigster Gipfelsieg?
Nein, das war 1988 der Kangchendzönga im Himalayagebirge, 8586 Meter, ebenfalls ohne Sauerstoffgerät. Dieser Achttausender hat mich am meisten Kraft gekostet. Ich hatte bereits Halluzinationen, glaubte den "Guardian Angel" wahrzunehmen. Das ist in solchen Phasen aber nichts Schreckliches, sondern ein Trost. Der dreitägige Abstieg war verheerend, wir husteten Blut. Zum Glück war ich damals in der besten körperlichen Verfassung meines Lebens. Sonst hätten wir nicht überlebt.
Der Schatten des Todes steigt bei solchen Expeditionen immer mit. Denken Sie ganz bewusst daran, kalkulieren Sie ihn vielleicht sogar ein?
Wir Extrembergsteiger haben keine Todessehnsüchte, wie uns oft unterstellt wird. Wir wollen intensiv leben und das Bergsteigen verhilft uns dazu. Jeder Bergsteiger ist nach oben orientiert, das heißt, wir denken auch beim Abstieg nicht unbedingt an die lauernde, tödliche Tiefe.
Natürlich ist die Gefahr in jedem Moment präsent. Auf manchen meiner schmalen Gipfelgrate ging es 3000 Meter auf beiden Seiten steil hinunter. Da kann man sich nicht darüber hinwegschwindeln. Aber die Gefahr stärkt die Konzentration, sodass man die körperlichen und mentalen Stärken optimal einsetzen kann. Es ist der Effekt eines harten Trainings, in schwierigen Situationen nahezu unbewusst die richtigen Handgriffe zu setzen. Und bei aller Gefahr überwiegt letztlich immer die Freude am Berg.
Hat es außer am Kangchendzönga noch weitere Situationen gegeben, wo Ihnen der Tod einen Schritt näher war?
Ja, es wurde einige Male sehr eng. Zum Beispiel bei der Besteigung des 8188 Meter hohen Cho Oyu im Nordwesten des Mount Everest, die ich 1985 gemeinsam mit meinem Bergkameraden, dem Schweizer Marcel Rüedi unternommen habe. Die Tour verzehrte unsere ganzen Kräfte, und beim Abstieg waren wir schon extrem erschöpft. Zudem gab es einen Schlechtwettereinbruch, es war saukalt, überall Nebel, wir kamen ins gefürchtete Whiteout, sahen kaum noch die Hand vor Augen. Wir hatten keine Daunenschlafsäcke dabei, um uns nicht mit Gepäck zu belasten, denn wir wollten ja noch am selben Tag zurückkehren. Da dachte ich: Zum Teufel, das wird knapp. Wenn wir hier bleiben müssen, überleben wir diese Nacht nicht. Das Sterben in so extremer Lage geschieht relativ rasch: Man ist müde, ausgelaugt und froh, irgendwo sitzen zu können, man kuschelt sich so gut wie möglich ein, schläft weg und erfriert. Dass wir damals überlebt haben, ist reines Glück, denn plötzlich riss die Nebeldecke auf und gab die Sicht auf unseren Abstieg frei.
Sind Sie schon einmal abgestürzt?
Einmal 50 Meter ins Seil und einmal als Bergführer 300 Meter durch eine steile, vereiste Rinne. Eine andere Gruppe riss damals meine Gruppe mit. Es gab, wie durch ein Wunder, nur ein paar Leichtverletzte.
Dachten Sie während der Stürze daran, dass das jetzt das Ende sein könnte?
Beim Sturz ins Seil war ich zuerst einfach nur erstaunt und durchlebte eine Schrecksekunde mit dem Gedanken, ob die Haken wohl halten werden. In der Eisrinne gab es tatsächlich einen Überlebenskampf, allerdings instinktiv, weil ich dauernd versuchte, hinter einen Stein zu gelangen, um die rasante Talfahrt zu bremsen, es funktionierte aber nicht. Richtig zum Denken kommt man nicht, es geht ja alles so schnell. Irgendwann kamen wir in einem Schneebecken zum Stillstand, ich prüfte meine Knochen, stand auf und gab dem Führer der anderen Gruppe eine Ohrfeige, weil er seine Leute nicht gut genug abgesichert hatte.
Kann man den Erfolg bei einem Gipfelsieg hauptsächlich dem eigenen Können zuschreiben?
Auch mit bestem Können, enormer Kondition, guter mentaler Verfassung, einem hervorragenden Team und optimaler Vorbereitung braucht man beim Bergsteigen vor allem Glück. Und für das Können ist man nicht allein verantwortlich: Man braucht Vorbilder, die einem zeigen, wie man sich in den Bergen bewegt und schwierige Situationen meistert. Ohne meine Lehrer, die legendären Bergführer meiner Heimat, und ohne meine starken Partner in verschiedenen Seilschaften hätte ich nicht solche Leistungen erbringen können. Meine großen Motivatoren waren u.a. der Landecker Spitzenbergsteiger Sepp Jöchler und der Abenteurer Herbert Tichy. Diese begeisterten Bergpioniere haben mir Flügel verliehen.
Zwischen Umdrehen und Weitergehen verläuft oft ein dünner Grat. Wie war das bei Ihren Entscheidungen: Übernahm das Bauchgefühl oder der Verstand die Führungsrolle?
So genau weiß ich das selbst nicht. Wahrscheinlich habe ich einen eingebauten Regulator, der mir sagt: Hier ist Feierabend! Man weiß ja, dass man noch Reserven für den Abstieg braucht. Und wenn ich als Bergführer mit einer Gruppe unterwegs bin, muss ich mich sowieso nach dem Schwächsten in der Gruppe richten. Meine Entscheidungen werden immer respektiert. Junge Bergführer, die ein Manager-Alphatier in der Gruppe haben, das unbedingt weitergehen will, tun sich dabei oft schwer.
Sie bewegten sich oft oberhalb der Waldgrenze. Wie war das Gefühl, wieder in die Gebiete der Vegetation zurückzukommen? Der erste Strauch, der erste Baum, der erste Vogel?Man freut sich bei der Rückkehr über die Blumen und das Grün und die Freundlichkeit der Menschen, und man ist dankbar, alles gut überstanden zu haben. Aber bald ist alles wieder selbstverständlich. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er gewöhnt sich an Kargheit und Schnee genauso schnell wie an üppige Vegetation. Ich suchte mir beim Aufstieg oft einen markanten Stein und dachte mir, wenn ich beim Abstieg wieder daran vorbeikomme, habe ich es geschafft, dann habe ich zumindest bis hierher überlebt.
Welche Anreize und Freuden gibt es noch bei einer Rückkehr vom Berg?
Wenn man erfolgreich war, freut man sich natürlich auf die Anerkennung, insbesondere bei einer großen Expedition, bei der die ganze Welt auf einen blickt. Das erste Bier ist auch immer eine schöne Belohnung . . .
Sie sind jetzt 71. Streben Sie immer noch höchste Ziele an?
Ich habe durchaus noch einige fordernde Gipfel im Visier. Aber ich habe auch andere Ziele. Wenn es mir gelingt, mit meinen Referaten Interesse zu wecken und die Menschen mit meiner Leidenschaft für die Natur anzustecken, freut mich das. Und ich möchte mit 85 noch munter durch die Gegend zappeln. Aber den Everest besteige ich nicht mehr.
Fortsetzung auf Seite 34
Peter Habeler
"Wir Extremberg-steiger haben keine Todessehnsüchte, wie uns oft
unterstellt wird.
Wir wollen intensiv
leben - und das
Bergsteigen verhilft uns dazu."
Peter Habeler wurde 1942 in Mayrhofen geboren. Bereits mit 16 Jahren kletterte er schwierigste Fels- und Eistouren in den heimatlichen Alpen. Er erwarb das Diplom als staatl. geprüfter Berg- und Skiführer und wurde der jüngste Chef der Österr. Berg- und Skiführerausbildung, die er viele Jahre leitete.
Dem Zillertaler gelangen spektakuläre Erstbesteigungen in den amerikanischen Rockies, er war der erste Europäer an den "Big Walls" und er kletterte in kürzester Zeit durch die El Capitan SW Wand, die damals schwierigste Klettertour der Welt. Ab 1969 suchte er mit seinem Seilgefährten Reinhold Messner neue Wege im Alpinismus. Mit geringem technischen Aufwand und leichter Ausrüstung bezwangen sie die Eiger Nordwand in der Rekordzeit von 9 Stunden und die Matterhorn Nordwand in 4 Stunden. 1978 bezwangen sie als Erste den Mount Everest ohne Sauerstoffgerät. Danach befand sich Peter Habeler acht Mal in der sogenannten "Todeszone" oberhalb von 7000 Meter und bestieg folgende Achttausender: Cho Oyu, Nanga Parbat, Kangchendzönga, Hidden Peak.
1973 gründete Habeler die "Alpinschule Zillertal", außerdem arbeitete er mehrere Jahre als Skilehrer im Westen der USA in Jackson Hole. 1993 gründete er die "Ski-und Alpinschule Mount Everest" in Mayrhofen.
Vorträge über den Alpinismus führten ihn in die ganze Welt; seine bekanntesten Bücher: "Auf den Bergen der Welt zu Hause" und "Der einsame Sieg". Für seine herausragenden alpinistischen Leistungen wurde ihm 1999 der Berufstitel "Professor" zugesprochen. Peter Habeler hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit seiner Lebensgefährtin Jutta Wechselberger, einer bergbegeisterten Ärztin, in Finkenberg bei Mayrhofen im Zillertal.
Irene Prugger, geboren 1959 in Hall, lebt als Autorin und freie Journalistin in Mils in Tirol. Zuletzt ist von ihr u.a. das Buch "Südtiroler Alm Geschichten" (Verlag Löwenzahn 2012) erschienen.