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Petersburger Aufbrüche

Von Hermann Schlösser

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Städteporträts im Fernsehen sind ein beliebtes Genre, und es liegt in der Logik des optischen Mediums, dass die Fernsehfilmer den schönen Städten vor den hässlichen den Vorzug geben. St. Petersburg ist eine schöne Stadt, und da sie heuer sogar den 300. Geburtstag hat, werden sicherlich einige Petersburg-Filme in diversen Sendeanstalten zu sehen sein. Am vergangenen Dienstag war das ZDF an der Reihe: "Frühling für St. Petersburg" nannte Dirk Sager seine sehr gelungene Reportage, und ganz im Sinne dieses Titels zeigte er eine Stadt in Aufbruchsstimmung. Sager ist ein wohltuend dezenter Reporter, der sich mit eigenen Meinungen zurückhält. Aber seinem Mosaik aus Äußerungen, Atmosphären und Bildern war doch deutlich zu entnehmen, dass der Petersburger Aufbruch eine stark rückwärtsgewandte Tendenz hat. Maßstab und Wunschziel aller Veränderungen ist der alte Glanz der Stadt, die von ihrem kommunistischen Namen Leningrad nicht das Geringste mehr wissen will.

Dass es im Feierglanz auch Schatten gibt, verschwieg Sager nicht. Einfühlsam porträtierte er z. B. streunende Kinder, die sich obdach- und perspektivenlos durchs Leben der Metropole schlagen. "Willst du nicht, dass etwas besser wird in deinem Leben?" fragte er einen Jungen. Der antwortete ihm: "Ich will sehr, dass es besser wird." Aus dem Off kommentierte der Reporter den Satz des Jungen mit den Worten: "Aber er weiß nicht, wie. Die Fragen so hilflos wie die Antworten." Auch diese kurze selbstkritische Reflexion trug dazu bei, dass man sich von Dirk Sager gerne durch St. Petersburg führen ließ.