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Petrodämmerung und globale Unordnung

Von Thomas Seifert

Politik

Was war? Was kommt? Eine Bilanz des Jahres 2014 und eine gewagte Zukunftsprognose.


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Die Perspektive des nahenden Jahreswechsels bietet die Gelegenheit, innezuhalten, zurück auf 2014 zu schauen und einen Blick in die Zukunft zu wagen. Es ist ein wenig so, wie wenn man direkt mit seiner Nase vor einem riesigen 16-Bogen-Plakat steht und nur Pixel, Pixel, Pixel sieht. Cyan, Magenta, Gelb, Schwarz, Can, Magenta, Gelb, Schwarz. Doch wenn man ein paar Meter zurücktritt, wird das Bild klar.

Der Blick zurück auf 2014

Europa ist es auch 2014 nicht gelungen, die wirtschaftliche und politische Malaise zu überwinden, die Eurokrise geht wohl auch 2015 weiter. Das Scheitern der Regierung von Andonis Samaras in Griechenland stellt in Hellas alles auf Anfang. Der Favorit für die Parlamentswahlen Ende Jänner, Alexis Tsipras von der Links-Partei Syriza will ein Ende der Austeritätspolitik und verspricht seinen Landsleuten einen Ausweg aus der griechischen Tragödie. Eine Schubumkehr ist aber ohne drastische Maßnahmen - wie etwa ein harter Schuldenschnitt oder gar ein Grexit (ein Griechischer Exit aus dem Euro) - so gut wie unmöglich.

Die politische Koordination der Union war von Anfang an unzureichend und die Rezepte zur Krisenbewältigung untauglich. Die Wirtschaft der Europäischen Union ist die größte und bedeutendste Volkswirtschaft der Welt, ein Stagnieren Europas belastet somit die gesamte Weltwirtschaft. Dazu kommt, dass die Divergenzen innerhalb der Union steigen: So steht die katastrophal hohe Arbeitslosigkeit in Spanien, Griechenland und Südeuropa in starkem Kontrast zur relativen Prosperität in den Überschussländern wie Deutschland, Österreich, den Niederlanden oder Schweden. Die verfehlte Politik in Europa und die Versäumnisse der politischen Klasse auf dem Kontinent und den britischen Inseln haben in einigen Ländern das Entstehen und Wachsen von rechtspopulistischen Anti-EU-Parteien gefördert, die Gefahr einer Fragmentierung der Union ist weiterhin gegeben. Mit jedem Jahr, das ungenützt verstreicht, sinkt die Hoffnung, dass die EU wieder aus der Krise kommt, und steigt die Angst, dass Europa in eine Ära säkularer Stagnation oder gar permanenten Niedergangs getaumelt ist.

Aus der Ukraine-Krise, die die Welt auch durch das Jahr 2015 begleiten wird, ist nun ein neuer Kleiner Kalter Krieg und eine Russland-Krise geworden. Wladimir Wladimirowitsch Putin zählt zu den großen Verlierern des Jahres 2014: Er hat mit der Annexion der Krim und dem Krieg um die Regionen Donezk, Luhansk und Kharkiv die Ukraine verloren. Er hat Europa zur Einsicht gebracht, dass Russland nicht länger Partner, sondern Gegner ist. Putin hat zudem mehr zum Revival der Nato beigetragen als jeder andere westliche Politiker. Die Wirtschaftskrise in Russland zeigt nun auch die verfehlte Wirtschaftspolitik der Putin-Ära: Russland ist eine Tankstelle, getarnt als Land, wie der republikanische US-Senator John McCain gesagt hat. Das Land ist heute mehr von Öl- und Gasexporten abhängig als zur Zeit der Sowjetunion. Die beiden anderen Export-Schlager Russlands: Atomkraftwerke und Rüstungstechnologie.

Der heutige Nahe Osten, dessen Grenzen 1915 von dem britischen Diplomaten Mark Sykes und seinem französischen Kollegen François Georges-Picot gezeichnet wurden, existiert nicht mehr. Die beiden haben Länder wie den Irak, Jordanien, den Libanon und Syrien geschaffen. Doch diese Sykes-Picot-Ordnung macht einer neuen, chaotischen Realität Platz, in der die Zentralregierungen in Syrien und dem Irak kollabiert sind und es an ein Wunder grenzt, dass der Libanon und Jordanien noch nicht in den tödlichen Mahlstrom aus Krieg, Bürgerkrieg und IS-Fanatikern hineingezogen wurden.

Die Entkopplung der Weltwirtschaft war ein weiteres Phänomen des Jahres 2014: Wachstum in den USA, Verlangsamung des Wachstums in China, enttäuschendes Wachstum in Indien, Stagnation oder Rezession in Japan und den Ländern der Europäischen Union. Diese Entkopplung ist ein Zeichen massiver Veränderungen der geopolitischen und ökonomischen Plattentektonik. Zudem stecken die Wirtschaftswissenschaften in einer veritablen Krise, die Erklärungsmuster greifen nicht mehr.

Was bringt 2015?

Europa bleibt eine Problemzone, eurokritische Parteien sind von Griechenland bis Großbritannien im Aufwind, die Eurokrise wird nicht überwunden. 2015 finden in Griechenland, Dänemark, Estland, Finnland, Polen, Portugal, Spanien und Großbritannien Parlamentswahlen statt. In Griechenland wird der Linkspartei Syriza ein Erfolg vorausgesagt, in Großbritannien wird Ukip, eine Partei, die zum Austritt aus der EU aufruft, vor allem die konservative Partei unter Druck setzen. Europa wird das Abschneiden der Linkspartei Podemos in Spanien mit Interesse verfolgen.

Das Ende der Sykes-Picot-Ordnung im Nahen Osten wird auch 2015 die Schlagzeilen beherrschen. Die Kurden werden versuchen, sich ihren Platz in dieser neuen Ordnung zu sichern. Der französische Diplomat François Georges-Picot und der Engländer Mark Sykes haben 1915 einfach auf die Kurden vergessen. Nun, da die von Picot und Sykes mit Tinte gezogenen Grenzen mit Blut neu gezeichnet werden, wollen die Kurden berücksichtigt werden. Sie haben bereits einen Rumpfstaat im Norden des Iraks. Je schwächer Bagdads Einfluss wird, desto mehr steigt die Macht der Kurden. Zugleich steigt der Einfluss der Kurden in den kurdischen Gebieten Syriens, die das Regime von Bashar al-Assad in Damaskus längst aufgegeben hat. Es sieht so aus, als könnte Damaskus die Kontrolle über wichtige Gebiete in Syrien wiederherstellen. Die Allianzen in der Region haben sich verschoben: Die USA, Iran und auch Russland finden in ihrer Gegnerschaft zum IS immer mehr Übereinstimmung, während die Türkei eher gemeinsame Sache mit Saudi-Arabien und Katar macht und den Dschihadisten zumindest klandestine Unterstützung angedeihen lässt.

Die Türkei gerät zunehmend in turbulentes Fahrwasser: Präsident Recep Tayyip Erdogan baut den Staat nach seinen Wünschen um, er agiert zunehmend autokratisch, lässt Journalisten verhaften und gängelt Richter und Ermittlungsbehörden. Die Wirtschaft läuft alles andere als gut, die Unruheherde an den Grenzen tragen zur Instabilität im Land bei.

Der Nahost-Friedensprozess ist am Ende, schon während des Bombardements des Gaza-Streifens im Sommer 2014, bei dem mehr als 2200 Menschen ums Leben gekommen sind, wurde immer offener von der Gefahr einer dritten Intifada, eines blutigen Palästinenseraufstands gewarnt. Das Kabinett von Premier Benjamin Netanjahu hat einen Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht, Israel als "Nationalstaat des jüdischen Volkes" zu definieren. Dieser Vorschlag ist ebenso töricht wie gefährlich, weil er die Diskriminierung arabischer Israelis legalisieren und Netanjahu damit dem pluralistischen Charakter Israels eine Absage erteilen würde. Israel ist durch den Zerfall der Ordnung im Nahen Osten bedrohter, als man in Jerusalem wahrhaben will: Denn neben der Krise in Syrien bedroht auch die politische Instabilität in Ägypten (besonders auf der Sinai-Halbinsel) die Sicherheit Israels.

Der Ölpreis wird auch 2015 vergleichsweise niedrig bleiben. Und das bringt Gewinner und Verlierer. Gewinner sind die Erdölkonsumierenden Länder in Europa, Nordamerika und Asien, wobei paradoxerweise energieeffizientere Länder (wie auch Österreich oder Deutschland) weniger profitieren als weniger energieeffiziente Länder (wie etwa die USA oder China), weil ihr komparativer Vorteil, mit weniger Energie-Einsatz zu produzieren, schmilzt.

Die Produzenten-Länder trifft es ebenfalls unterschiedlich hart: Norwegen, die USA, Venezuela, Mexiko, Nigeria, Russland und der Iran kommen in größere Kalamitäten als Saudi-Arabien, der Irak oder die Emirate und Katar, weil Letztere billiger produzieren als Erstere und der Preisverfall sich für diese Länder weniger dramatisch auswirkt. Bei den USA überwiegen die Einsparungen aus billigerem Öl und Gas gegenüber den Verlusten aus geringeren Öl-Einnahmen. Der niedrige Ölpreis stellt für den Iran eine Motivation dar, den Atomstreit mit dem Westen zu beenden und die Gelegenheit zu nutzen, die Wirtschaft zu diversifizieren und zu stärken.

2014 hat aber auch gezeigt, wie unerwartete Ereignisse die Geschichte prägen: Der Ausbruch von Ebola hat gezeigt, wie verwundbar die menschliche Zivilisation ist, die zunehmende Frequenz gefährlicher Cyber-Attacken nährt den Zweifel an der Sicherheit der weltweiten Kommunikations-Infrastruktur. Gefährliche Konflikte könnten 2015 zum Beispiel zwischen Japan und China oder zwischen Indien und Pakistan aufflammen. Der chinesische Fluch gilt auch für 2015: "Mögest du in interessanten Zeiten leben."