80 Prozent aller Pflegegeldbezieher in Österreich werden von ihren Angehörigen gepflegt.
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Am Freitag musste sich eine 81-jährige Frau vor dem Wiener Landesgericht wegen des Verdachts der gröblichen Vernachlässigung mit Todesfolge verantworten. Die Angeklagte soll sich nicht ausreichend um ihre schwerkranke und seit mehreren Jahren bettlägerige Tochter gekümmert haben.
Die 52-jährige Tochter litt an Multipler Sklerose und einer Schluckstörung. Die Pensionistin war Ende 2020 zu ihr gezogen, nachdem der Lebensgefährte der Tochter, der sie bis dahin betreut hatte, plötzlich gestorben war. Die Tochter verweigerte zunehmend die Nahrungsaufnahme, wollte aber nicht in ein Spital und über eine Sonde ernährt werden. Die Mutter fügte sich diesem Wunsch und verzichtete auf professionelle Hilfe. Ihre Tochter verstarb schlussendlich im August des vergangenen Jahres. Der Angeklagten wurde deshalb vorgeworfen, ihre Tochter nicht ausreichend ernährt und der nötigen ärztlichen Betreuung zugeführt zu haben. Bei ihrem Tod wog die Tochter bei einer Größe von 1,67 Meter nur noch 25 Kilogramm.
Herausforderung der Pflege
In Österreich gibt es rund eine Million pflegende Angehörige. Diese stehen vor vielen Herausforderungen, wie Roberta Rastl von der Diakonie sagt: "Wenn man jemanden rund um die Uhr in den eigenen vier Wänden pflegen muss, kann man ganz schnell in eine Situation der Überforderung kommen."
Ähnlich sieht das Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger. In die Situation zu kommen, einen Angehörigen pflegen zu müssen, sei ein plötzlicher Einbruch im Leben, weil die meisten Menschen entweder nicht damit rechnen oder sich mit diesem Gedanken nicht beschäftigen wollen, sagt sie. Dementsprechend unvorbereitet seien die meisten, sobald ein Pflegefall eintritt. Im ersten Moment müsse man sich um viel Organisatorisches kümmern wie etwa das Beantragen des Pflegegelds.
Die Pflege von Angehörigen sei aber auch eine große psychische Belastung. "Da kann man nicht einfach einen Schalter umlegen, wenn man zur Tür rein- und rausgeht", so Meinhard-Schiebel.
Trotz aller Herausforderungen der Pflege sind es oft Angehörige, die pflegen. Die meisten seien entweder die Lebenspartner oder (Schwieger-)Kinder der Pflegebedürftigen, sagt Meinhard-Schiebel. Auch die Anzahl der sogenannten "Young Carers", also Kinder und Jugendlicher, die pflegen, sei hoch. Sie werde in Österreich auf etwa 42.700 geschätzt, im Durchschnitt seien die "Young Carer" zwölf Jahre alt. Nach wie vor seien es auch viele Eltern, die sich um ihre chronisch kranken oder beeinträchtigen Kinder kümmern. Weil diese oftmals kaum beachtet werden, setzt die Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger heuer einen Themenschwerpunkt mit dem Titel: "Vergessene pflegende Eltern chronisch kranker und behinderter Kinder".
Entlastung für Pflegende
Zu diesen vergessenen Eltern gehörte wohl auch die Angeklagte im am Freitag verhandelten Fall. Die selbst bereits 81-jährige Mutter soll mit der Pflege ihrer schwerkranken Tochter allein und überfordert gewesen sein. Das ist leider oft der Fall, weiß Meinhard-Schiebel. Viele der Pflegenden wissen nicht, dass es Unterstützung gibt. Manche glauben, die Pflege von Angehörigen sei ihre alleinige Angelegenheit, und wieder andere wollen einfach keine fremden Menschen im Haus haben. Insgesamt sei es oftmals schwierig, Menschen davon zu überzeugen, dass sie Hilfe brauchen, so die Präsidentin der Interessengemeinschaft.
Auch die Diakonie drängt immer wieder auf Unterstützungen für pflegende Angehörige. Diakonievertreterin Rastl fordert zum Beispiel Angebote zwischen der Pflege zu Hause und der Pflege in einer stationären Einrichtung: "Es braucht stundenweise Pflegeangebote, die überall verfügbar und für alle leistbar sind. Beispielsweise Tageszentren, Pflege nur in der Nacht, mobile Pflege oder Besuchsdienste."
Die Präsidentin der Interessenvertretung pflegender Angehöriger weist unterdessen auf bereits existierende Unterstützungsmaßnahmen hin: Das Sozialministerium, welches auch für die Pflege zuständig ist, biete viele Möglichkeiten an. Von kostenlosen Angehörigengesprächen zur psychischen Entlastung bis hin zu Ersatzzeitpflege gibt es unterschiedliche Angebote. Außerdem trägt der Bund die Kosten für Pensions- und Krankenversicherungen für pflegende Angehörige, die keiner Berufstätigkeit mehr nachgehen können. Grundsätzlich gebe es bereits eine ganze Reihe an Möglichkeiten und Unterstützungen für pflegende Angehörige, nur wüssten viele darüber nicht Bescheid, so Meinhard-Schiebel.
Freispruch für 81-Jährige
"Ich habe alles getan, was ich konnte", sagte die 81-jährige Angeklagte am Freitag bei ihrer Verhandlung am Wiener Landesgericht Sie habe ihre Tochter gewaschen, die Pflaster und Verbände gewechselt und sich um das Essen gekümmert: "Ich hab‘ das gemacht, so gut ich konnte. Ich hab‘ ihr zugeredet, dass eine Krankenschwester das besser könnte als ich. Das wollte sie nicht. Ich hab‘ mich als Mutter so bemüht, das wieder hinzukriegen."
Zu Beginn hätten sie privat organisierte Helferinnen bei der Pflege und Versorgung unterstützt. Corona- und lockdownbedingt sei sie dann aber weitgehend auf sich allein gestellt gewesen. Sie habe auf eine professionelle Pflege gedrängt, betonte die Angeklagte: "Meine Tochter wollte das nicht." Diese habe ihr vielmehr gedroht, sie werde den Kontakt abbrechen, sollte sie in einem Spital landen, erklärte die Mutter.
Die bisher unbescholtene Pensionistin wurde am Ende "eindeutig" freigesprochen, wie der vorsitzende Richter ausdrücklich betonte: "Sie haben nichts falsch gemacht." Die Entscheidung ist bereits rechtskräftig.
Sind Sie ein pflegender Angehöriger?
Hier finden Sie Hilfe:
IG pflegende Angehörige:
01 / 58 900 328
www.diakonie.atwww.sozialministerium.at/Themen/Pflege.html