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Pflege: Aufopferung im Namen der Berufung

Von Anja Stegmaier

Wirtschaft

Die Ökonomin Diane Perrons räumt mit dem Mythos der freiwilligen Selbstausbeutung im Pflegesektor auf.


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"Wiener Zeitung": In der Pflege arbeiten überwiegend Frauen. Alten-, Kinder- und Krankenpflege gehen uns alle an, werden aber oft schlecht bezahlt oder gar nicht entlohnt. Warum ist das so?

Diane Perrons: Der Gesundheitsökonom Anthony Heyes hat die These aufgestellt: ,Nur eine schlecht bezahlte Krankenschwester, ist eine gute Krankenschwester.‘ In seiner Studie ,Die Ökonomie der Berufung’ argumentiert er, dass das fürsorgliche Element in der Pflege wichtig ist. Menschen, deren Berufung es ist, zu pflegen, üben fachliche Aufgaben immer mit Empathie aus. Das bedeutet, dass solche Menschen ein geringeres Einkommen akzeptieren, weil sie die Arbeit erfüllt. Würde man die Gehälter erhöhen, ziehe man Leute an, die diese Berufung nicht hätten und die Qualität der Pflege würde sinken.

Und was ist mit Mechanikern, die es lieben, mit Autos zu arbeiten?

Viele Menschen befriedigt ihre Arbeit und üben sie mit Sorgfalt aus. Keiner käme darauf, Ingenieuren möglichst wenig zu zahlen, weil sie leidenschaftlich gerne Brücken bauen.

Warum wird gerade Pflegearbeit so schlecht bezahlt?

Weil es einer der Sektoren ist, in dem die Kosten stetig steigen, weil Pflege so arbeitsintensiv ist. Um Profit zu generieren gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann die Dienstleistung für eine Elite anbieten, die es sich leisten kann, hohe Preise zu zahlen. Etwa wie bei klassischer Musik. Die ist auch sehr arbeitsintensiv und überlebt, weil sie eine Elite anspricht, Sponsoren lukriert und der Staat sie subventioniert. Die andere Möglichkeit für ein profitables Geschäft ist, die Lohnkosten möglichst gering zu halten. Damit zieht man dann aber vor allem Menschen an, die sonst keinen anderen Job finden. Pflege ist manchmal ein Rettungsanker. In die Pflege zu gehen ist manchmal eine Art Pass in ein Land. In Kanada etwa bekommt ein Kindermädchen sofort ein Arbeitsvisum. Viele wenden sich dann bei der ersten Gelegenheit von der Branche ab. Es gibt aber auch jene, die bleiben, obwohl sie woanders mehr verdienen könnten.

Warum tun diese Menschen das?

Oft haben sie eine Beziehung zu den Menschen aufgebaut und fühlen sich verantwortlich. Ich habe Pflegerinnen in Großbritannien interviewt und gefragt, warum sie in der Pflege bleiben, wenn sie im Supermarkt mehr verdienen könnten. Sie sagten, sie könnten die Leute doch nicht alleine lassen.

Pflegenotstand, Altersarmut, Überlastung. Könnten wir mehr für die Pflege bezahlen?

Ja. Der Ökonom William Baumol hat gesagt, dass persönliche Dienstleistungen technologisch nicht fortschrittlich sind und daher ohne Unterstützung pleite gehen. Die sogenannte Kostenkrankheit betrifft Pflege, Bildung und Gesundheit. Wenn die Produktivität in anderen Bereichen der Wirtschaft zunimmt, erhalten die Arbeiter üblicherweise eine Lohnerhöhung. Langsam steigt das durchschnittliche Lohnniveau. Nur in der Pflege kommt es nicht zu Produktivitätssteigerungen. Trotzdem müssen die Löhne angehoben werden, weil es eine Untergrenze gibt, die man nicht unterschreiten kann. Man kann auch nicht an Personal sparen, ohne dass es einen erheblichen Qualitätsverlust gäbe. Nichtsdestotrotz gibt es insgesamt mehr Wertschöpfung in der Gesellschaft, und ein Teil dieses Ertrages könnte man nutzen, um Pflege zu finanzieren - wenn die Steuern anders organisiert würden.

Es geht um einer Erhöhung der Grundversorgung . . .

Der Kuchen ist groß genug für gute Pflege. Es ist mir ein Rätsel, warum die Menschen das nicht verstehen. Oder warum so widerwillig für Pflegedienste bezahlt wird. Früher oder später ist jeder auf professionelle Hilfe angewiesen. Ich vergleiche das immer mit der Kfz-Versicherung, die zahlen die Leute sehr gerne. Um eine hoch qualifizierte Pflege für alle zu gewährleisten, müssten wir sogar weniger zahlen als für die Versicherung eines Autos.

Dass Pflege im Alter jeden angeht, leuchtet ein, aber warum sollten sich Kinderlose für eine gute Kinderpflege interessieren?

Wegen den positiven Nebeneffekten. Jeder in der Gesellschaft profitiert von gut versorgten Kindern. Das bedeutet weniger Vandalismus, bessere Arbeitnehmer und ermöglichen uns die Pensionszahlungen im Alter. Und in solchen Fällen, in denen alle in der Gesellschaft profitieren, ist es üblich, dass die öffentliche Hand sie bereitstellt. Stellen Sie sich vor, die Straßenbeleuchtung würde nur von den direkten Nutzern bezahlt werden!

Jeder ist direkt oder indirekt betroffen, alle profitieren. Wo ist der Knackpunkt, weshalb zahlen wir nicht mehr für Pflege?

Einerseits lehnen wir uns als Gesellschaft zurück im Wissen, es gibt Menschen, vor allem Frauen, die sich auch unbezahlt um Kinder, Alte und Kranke kümmern. Außerdem herrscht die Meinung vor, dass Pflege keine richtige Fertigkeit ist, die entsprechende Qualifikation und Bezahlung benötigt. Nach dem Motto: Das kann doch jeder. In einigen Ländern gibt es Ausnahmen, dort haben Kindererzieher zum Teil recht hohe Qualifikationen und werden auch relativ gut bezahlt. In dem Sektor gibt es aber dann auch oft eine Hierarchienbildung. Ein paar, die hoch qualifiziert sind, verdienen relativ gut - und die vielen anderen eben nicht. Da gibt es Angestellte in Kinderheimen mit Lehrergehältern und andere, die gerade einmal den Mindestlohn bekommen. Und oft erledigen beide dieselbe Arbeit. Eine bessere Qualifikation von Pflegedienstleistern würde also helfen.

Würde die Akademisierung von Pflegeberufen helfen, den Notstand zu beseitigen?

Potenziell ja, so lange diejenigen, die bereits in dem Sektor arbeiten, auch ihre praktisch erworbenen Fähigkeiten anerkannt bekommen. Es gibt nämlich sehr gute Pflegerinnen und Pfleger, die am Papier nichts vorweisen können. À la longue wäre es aber wichtig, zu gewährleisten, dass diese Menschen sich qualifizieren und dass Pflege eine Fachkunde mit entsprechender Entlohnung ist, wie bei einem Mechaniker etwa auch.

Würde es zu mehr Wertschätzung beitragen, wenn Pflege in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts einfließt?

Es gibt auch für Pflege eigene Parameter zur Bemessung der Wertschöpfung. In diesen macht Pflegearbeit einen ziemlich großen Anteil der gesamten Wertschöpfung eines Landes aus. Ich halte es für eine gute Idee, das in die gängige BIP-Berechnung aufzunehmen. Es würde die klassischen Anomalitäten abschaffen. Ein stereotypes Beispiel: Wenn ein Mann seine Haushälterin heiratet, sinkt das Bruttoinlandsprodukt, da er sie wahrscheinlich für ihre Arbeit nicht mehr bezahlt. Unbezahlte Arbeit in die Berechnung der Wertschöpfung einzubeziehen würde das korrigieren.

Inwiefern profitieren wir volkswirtschaftlich, wenn wir mehr für Pflege aufwenden?

Es gibt Studien, die zeigen, dass wenn nur zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Pflege investiert werden, insgesamt die Beschäftigungsrate ansteigt, das Wirtschaftswachstum zunimmt, und sogar die geschlechtsspezifische Diskrepanz bei der Beschäftigung reduziert wird. Nach einiger Zeit würde sich die Investition in die Pflege auch merkbar in volkswirtschaftlichen Größen auszahlen.

In wirtschaftlich schlechten Zeiten gilt die Devise, öffentliches Geld in die Infrastruktur zu investieren, also oft klassisch in Straßen, Brücken und dergleichen . . .

Die positiven Effekte auf Wirtschaft und Gesellschaft wären bei einer Investition in die Pflege größer, als wenn man denselben Betrag in die Bauwirtschaft investiert. Das keynesianische Argument lautet: öffentliches Geld in die Wirtschaft zu investieren, um das Wachstum anzutreiben. Ich selbst war bei einer Studie der "Women’s Budget Group" dabei Unser Netzwerk beleuchtet Regierungspolitik aus einer Geschlechterperspektive. Wir untersuchten für den internationalen Gewerkschaftsbund einige OECD-Länder und Entwicklungsländer. Dabei konnten wir zeigen, dass das Geld in der Sozialfürsorge, in die sogenannte soziale Infrastruktur, mehr bringt.

Ein wichtiger Punkt der Ungleichheit von Mann und Frau ist die Verteilung beziehungsweise Aufteilung der Arbeit. Warum ist das noch immer so?

Es ist schwierig zu erklären, warum nach wie vor diese Trennung herrscht - vor allem in westlichen Gesellschaften, wo es offiziell keine kulturellen Grenzen gibt. Was hält also Frauen davon ab, auf dem Bau zu arbeiten oder Männer, Erzieher zu werden? Es gibt natürlich einige weibliche Bauarbeiter und einige männliche Erzieher, aber nicht viele. Dafür gibt es zwei Gründe: Menschen denken nicht darüber nach, einen Beruf zu ergreifen, in dem sie nie jemanden wie sie selbst gesehen haben. In der Kinderliteratur etwa ist der Arzt meist ein Mann und die Frau eine Krankenschwester. Das ändert sich zwar langsam - aber nicht so sehr, wie man zu hoffen meint. Eine kleine qualitative britische Studie hat sich Männer angeschaut, die nach dem Schließen der Kohlebergwerke in die Pflege gegangen sind. Interessant war: Zum einen gingen sie vorwiegend in einen Bereich, wo physische Stärke manchmal von Nöten war, etwa in die Psychiatrie. Das hat sich dann wieder mit ihrem männlichen Selbstverständnis gedeckt. Zum anderen tendierten sie dazu, in der Hierarchie rasch aufzusteigen. Sie wurden etwa Pflegedienstleiter.

Lange Zeit ging es vor allem darum, Frauen zu ermöglichen, in ehemals männlich bestimmte Bereiche vorzudringen. Hat der Feminismus Männer zu lange außen vorgelassen?

Es wird hier keinen Fortschritt geben, wenn Männer bemi Nachdenken über diese Probleme nicht einbezogen werden und ihre Sorgen nicht beachtet werden. Schaut man sich die Folgen der Sparmaßnahmen in Großbritannien an, dann sieht man, dass allgemein Menschen mit geringem Einkommen extrem darunter zu leiden hatten. Aber Erhebungen zeigen: Frauen mit geringem Einkommen ist es noch schlechter ergangen als Männern mit geringem Einkommen - und Frauen einer ethnischen Minderheit oder mit Migrationshintergrund hat es am härtesten getroffen.