Die Demenz-Expertin Verena Tatzer über die Krankheit, Betreuung und Fehler im System.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Die Abschaffung des Pflegeregresses hat das Thema der Altersbetreuung in den Fokus gerückt - und schwere Mängel im System offenbart. Das Thema Demenz ist hier beispielhaft: Die größte Last tragen die Familien, Betroffene wissen nicht, wohin sie sich wenden können, und Spezialeinrichtungen gibt es kaum, erklärt die Expertin für Demenz und Gerontologie, Verena Tatzer, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
"Wiener Zeitung": Was ist der Status quo in Sachen Demenz in Wien und Österreich?
Verena Tatzer: Ein großes Problem ist, dass die Diagnosestellung meist sehr spät erfolgt und es überhaupt schwer ist, zu einer guten Diagnosestellung zu kommen. Davon hängt aber natürlich der ganze restliche Unterstützungsprozess ab.
Wieso ist das so schwer?
Es gibt nur wenige spezialisierte Stellen - sogenannte Memory-Kliniken - in Wien und in Österreich, an denen diese Diagnose gestellt werden kann. Alle Gesundheits- und Sozialberufe brauchen hier aber vermehrt Kompetenzen und Wissen, damit an die richtige Stelle verwiesen werden kann und der Fokus vermehrt auf Demenz gerichtet wird.
Wie soll dieser Fokus aussehen?
Das sind routinemäßige Tests und die Überweisung an Fachärzte und Spezialstellen im Verdachtsfall. Das machen jetzt schon viele Hausärzte, etwa wenn sie merken, dass etwas nicht stimmt, oder wenn Angehörige berichten, dass sich eine Person zum Beispiel oft verläuft, oder sich ihr Sozialverhalten verändert. Die Angehörigen sind oft hilflos, weil es nicht so leicht ist, an die richtige Stelle zu kommen. Hier ist die berufsübergreifende Zusammenarbeit aller beteiligten Berufsgruppen essenziell.
Es ist da oft nicht leicht, Unterstützung zu finden...
In Österreich wird die Verantwortung zum größten Teil auf die Familien abgewälzt. Die größte Last tragen weltweit - aber auch in Österreich - die Frauen. Meistens handelt es sich dabei um Angehörige, die in der Familie Pflegearbeit leisten, unbezahlt und unter Gefährdung ihrer eigenen Gesundheit.
Wie sieht diese Gefahr aus?
Diese Frauen haben ein erhöhtes Risiko, an einer psychischen Krankheit zu erkranken. Das können Depressionen sein, aber auch Überlastungsreaktionen. Es kann aber auch zu körperlichen Erkrankungszuständen führen, weil diese ständige Überforderung, die eintreten kann, chronischen Stress verursacht - wenn nicht genug Hilfestellung von außen zugeführt wird. Hier müssen auch innovative Wege gegangen werden, wie beispielsweise in dem Projekt mit "demenzfreundlichen" Apotheken. Die bieten Informationen an und tragen zur Entstigmatisierung bei.
Wieso trifft es vorrangig Frauen?
Das hat unter anderem mit Politik zu tun. Generell wird der Großteil dieser Care-Arbeit, wie sie auch genannt wird, von Frauen getragen.
Was kann man tun, um dieses Missverhältnis aufzulösen?
Als Vorbild können die skandinavischen Länder dienen, in denen die staatliche Pflege- und Gesundheitsleistung viel mehr in Sachleistung ausgedrückt werden. Das heißt, es gibt viel mehr Angebot und Unterstützung für Therapie und Pflege zu Hause. Das sind bezahlte Leute. Es sind zwar überraschenderweise wieder viele Frauen, die diese Tätigkeit verrichten, aber diese ist dann immerhin bezahlt. Das Familiensystem wird entlastet. Das führt nicht nur dazu, dass wieder mehr Frauen Arbeit haben, sondern auch, dass es zu einer besseren Pflege und Versorgung kommt. Wir müssen uns als Gesellschaft insgesamt mehr mit dem Thema Alter und Sorgearbeit beschäftigen, nicht nur die professionell Helfenden.
Es gibt ja für betroffene Angehörige Selbsthilfegruppen. Wie gestalten sich die in Österreich?
Von denen gibt es hier nur wenige, die außerdem auf Spendengelder angewiesen sind. Das, obwohl sie immens wichtig sind. Alzheimer Austria leistet hier immerhin hervorragende Arbeit. In Großbritannien hingegen gibt es Alzheimerorganisationen, die ein Millionenbudget haben. Das fließt dann teilweise auch in die Forschung. Das kann man gar nicht mit den Strukturen in Österreich vergleichen, die sich wieder auf die unbezahlte Arbeit von Frauen stützen, die ihre Pflegeerfahrung in solchen Gruppen teilen. Denn auch in diesen Selbsthilfegruppen sitzen meist wieder Frauen.
Was kann man tun, um das alles voranzutreiben?
Es wäre wichtig, dass man der Demenz dieses Stigma nimmt. Man sollte hergehen und sagen: "Das ist ein chronischer Zustand wie viele andere auch. Man kann es zwar nicht heilen, aber man kann etwas tun." Dadurch würde den Menschen auch geholfen werden, schneller zum Arzt zu gehen. In Österreich ist es noch einen Tick schwerer als beispielsweise in Holland, weil man hier einfach anders mit Behinderungen umgeht. Bei uns ist das Thema noch sehr schambesetzt.
Grundsätzlich ist das ja aber auch kein sehr positiver Zustand.
Es gibt nicht nur schlimme Sachen. Es wird ausschließlich immer dieses negative Bild transportiert. Es ist natürlich schwierig, aber genauso gibt es fröhliche, lustige und berührende Momente im Leben von Menschen mit Demenz. Diese Realität, die auch Leben ist, wird zu wenig transportiert. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir älter werden. Das ist etwas Gutes. Das heißt aber auch, dass wir uns anpassen müssen mit all unseren Strukturen und Einrichtungen. Ein großer Teil der hochbetagten Menschen wird irgendwann Langzeitpflege in irgendeiner Form brauchen. Das heißt, wir müssen Strukturen anpassen und Arbeitsbedingungen verbessern. Aber auch in Forschung investieren, die sich nicht nur mit Gehirnzellen, sondern auch direkt mit Care und Lebenswelten von Menschen mit Demenz beschäftigt.
Verena C. Tatzer ist Leiterin der neu gegründeten Sektion für "Klinische Gerontologie" der österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie. Sie arbeitet an der FH Wiener Neustadt und hat am Institut für Palliative Care und Organisations-Ethik zum Thema Demenz promoviert.