Wo die Türme fielen, entstehen neue. | Politische Folgen werden akzeptiert.
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New York. Im Netz stehen sie schon länger, es gibt Bilder von ihrer äußeren Erscheinung, Wegweiser durch ihr Inneres und das neue Umfeld, in dem sie stehen, sogar Panoramablicke aus den einzelnen Stockwerken, nach allen Himmelsrichtungen. Die schöne neue Welt danach, perfekt animiert, makellos sauber und, nicht zuletzt, schon jetzt offen für künftige Geschäfte aller Art. Auf Seiten wie wtc.com finden sich Dutzende künstliche Zeugnisse ihrer Auferstehung aus Ruinen, ganz im Sinne ihrer Betreiber, die es den Investoren so leicht wie möglich machen wollen, nach ihrer Fertigstellung nach Ground Zero zu kommen, beziehungsweise zurückzukommen.
"Downtown Manhattan boomt" ist die Rubrik "Neuigkeiten" übertitelt. In der wirklichen Welt hämmert und dröhnt und staubt es noch, aber das neue Gesicht von der südlichen Spitze New York Citys hat auch in der wirklichen Welt bereits Formen angenommen, auch wenn es noch dauern wird, bis es komplett ist. Neue Türme, neue Hoffnung: Der größte von ihnen, World Trade Center One, soll Ende 2013 fertig sein, er wird drei Milliarden Dollar gekostet haben, mindestens.
Touristen im Baulärm
Die Touristen kommen indes in Scharen, sie umkreisen die Baustelle, machen sich ihre eigenen Bilder; vielen sieht man an, dass sie am liebsten über die Zäune klettern würden, um die letzten Spuren zu suchen, die die Katastrophe hinterlassen hat. Aber alles, was sie zu sehen und zu hören bekommen, sind unter der Sommerhitze leidende Bauarbeiter und Lärm, scheinbar unaufhörlicher Lärm.
Zehn Jahre später, Legionen amerikanischer Soldaten und ihre Verbündeten stehen am Hindukusch und an Euphrat und Tigris und sie werden trotz aller Beteuerungen ihres Oberbefehlshabers noch lange dort bleiben. Auch sie sind plötzlich wieder Thema, wenn auch nur am Rande. Schon seit Ende Juli erscheinen in den Tageszeitungen New Yorks anlässlich des heraufdräuenden zehnten Jahrestages von 9/11 die Storys der Toten und der Überlebenden, der Augenzeugen und der damaligen Entscheidungsträger von Stadt und Land: Tausende und abertausende Erzählungen, so viele Versionen des Erlebten, die einem, dramaturgisch aufbereitet von der professionellsten Medienmaschinerie der Welt, frei Haus geliefert werden; eine tägliche Überdosis Gefühl, aufgehängt an den individuellen Schicksalen, die dabei waren. Um was wird in den USA getrauert werden am 11. September 2011, außer um die rund 3000 Menschen, die am Ground Zero, ja, ermordet wurden?
Konzentrat der Nation
Vor allem um das Zusammengehörigkeitsgefühl, dass das spätestens nach der fragwürdigen Kür George W. Bushs zum Präsidenten tief gespaltene Land plötzlich erfasst hatte. Der Angriff auf Downtown Manhattan, das Herz und die Wiege der Stadt, erschütterte die Menschen auch deshalb viel mehr als jener auf das Pentagon in Washington D.C. - nachdem die vierte, ebenfalls Richtung Hauptstadt steuernde Maschine von ihren Passagieren über Pennsylvania zum Absturz gebracht wurde, wird man nie mit endgültiger Sicherheit wissen, welches Ziel ihre Entführer im Sinn hatten -, weil New York quer durch die Jahrhunderte stets das Konzentrat der Nation dargestellt hatte. Nicht nur die Amerikaner, nahezu jeder Bewohner der Welt, ungeachtet seiner Herkunft und seiner Sozialisation und egal, ob er schon einmal hier war oder nicht, hat ein Bild von New York im Kopf, eine Vorstellung, eine Idee.
Der Angriff schien all diese Menschen mit einem Schlag zusammenzuführen, sie nahmen ihn persönlich, egal, wo sie an diesem Tag waren, und sie bekamen eine Ahnung davon, dass es vielleicht doch mehr gibt, das sie verbindet, als das, was sie trennt.
"Es hat viele Menschen dazu gebracht, darüber nachzudenken, was es heißt, Amerikaner zu sein. Ob das eine gute Sache war, ist eine andere Frage", sagt Dwight Freeman. Er ist 33, Afroamerikaner, stammt aus Brooklyn und arbeitet "an der Wall Street", als was genau, will er nicht sagen. Vor zehn Jahren sah er die Türme von der anderen Seite des East River kollabieren. Seitdem spaziert er in unregelmäßigen Abständen nach der Arbeit rund um den Ground Zero, um den Fortschritt der Bauarbeiten zu verfolgen.
Im Kopf eingegraben
Er hat am 11. September 2001 keine Familienmitglieder verloren, auch keine Bekannten und er hat auch keine Brüder oder Schwestern beim Militär, die in die Kriege Amerikas ziehen mussten, die folgten. Und trägt seitdem doch etwas mit sich herum, was er "eine Art Phantomschmerz" nennt, "auch wenn sich das komisch anhört. Die Bilder haben sich im Kopf eingegraben, aber ich könnte nicht einmal mehr sagen, ob es die sind, die ich danach wochenlang im Fernsehen gesehen habe, oder die, die ich mit eigenen Augen gesehen habe."
Was er von dem Medienspektakel hält, das dem Tag der Erinnerung vorangeht? "Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Ich fühle mit den Menschen, die an diesem Tag ihre Väter, Mütter, Söhne und Töchter verloren haben, und ich finde es richtig, dass jedes Jahr wieder von Neuem an sie erinnert wird. Die Kriege? Ich glaube, dass Bush ein schlechter Präsident war. Mehr kann und will ich dazu nicht sagen."
9/11 erwischte die USA ohne Vorwarnung am falschen Fuß. Vorher passierten die schlimmen Dinge im Rest der Welt, in fernen Ländern, die viele Amerikaner bis heute nicht auf der Landkarte finden würden. Wenn ihre Soldaten darin verwickelt waren, so lautete die Lesart der Mehrheit, dienten diese, auch wenn manchmal schreckliche Dinge geschahen, prinzipiell einer guten Sache: der Freiheit anderer Menschen, von denen man annahm, dass sie alle gerne so leben würden wie sie selbst, trotz aller Probleme. 2011 herrscht darüber wieder Konsens. Alles, was nachher kam, nahmen und nehmen die meisten Amerikaner bis heute scheinbar vorbehaltlos hin: die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten durch ein Machwerk namens Patriot Act, der der Exekutive seit Ende 2001 Befugnisse einräumt, wie sie sonst nur in einem totalitären Staat möglich wären; die Einrichtung eines Gefängnisses außerhalb des Festlandes, dessen Insassen jegliche Menschenrechte vorenthalten werden; die Beauftragung einer privaten paramilitärischen Armee, die in der Folge nicht nur im Ausland, sondern - in der Folge von Hurrikan Katrina - auch im Inland eingesetzt wurde, im Auftrag einer Regierung, der jegliches Maß an innen- wie außenpolitischer Sensibilität abhanden gekommen schien.
Für immer verändert
Seit dem Amtsantritt Barack Obamas hat sich an all dem wenig geändert, wie an den anderen kleinen und großen Spuren, welche die Regierung Bush juniors in Dekade hinterließ, in der die Mehrheit der Einwohner des Landes keine Fragen stellte, schließlich befand man sich im Krieg. Auch wenn Blackwater und Co. heute in Verruf stehen, Guantanamo vor der Schließung und die Geheimdienste an der kurzen Leine gehalten werden: Die fundamentalen Veränderungen, welche die USA nach 9/11 erfahren haben, sind nach wie vor in Kraft. Und es deutet wenig darauf hin, dass sie irgendwann widerrufen werden.
Juan Giuterrez will "ein guter Amerikaner" sein, sagt er, die kleinen Flaggen, die er während seiner "Spaziergänge" am Ground Zero an die Touristen verkauft, seien lediglich sein Beitrag zur Erinnerung. Fünf Dollar das Stück, das decke lediglich seine Herstellungskosten und sein Gesichtsausdruck verrät, dass er wirklich glaubt, dass ihm die Leute das abnehmen.
Nein, er sei nicht hier gewesen an diesem schrecklichen Tag, aber er habe Verwandte in der Bronx, die alles live miterlebt hätten, darunter auch ein Polizist, der bei der Evakuierung der Türme ums Leben gekommen sei. Nein, der Verkauf der "Memorial flags" sei ganz und gar nicht sein Hauptberuf, aber es sei doch mittlerweile alles so teuer in der Stadt und schließlich tue er doch nur Gutes, indem er das Gedenken an die Toten hochhält. Und schon ist er um die Ecke Vesey Street verschwunden, er hat eine Reisegruppe entdeckt.
Amerikas größte Stärke besteht gestern wie heute im Bild, das es dem Rest der Welt von sich selber vermittelt, das ewige Credo von höher, schneller, weiter, die angeblich unbegrenzten Möglichkeiten, aus Scheiße Gold zu machen und Katastrophen zu Geld, wenn es der Zeitpunkt erlaubt.
Geschichte wird zu Geld
Filme, Bücher, Musik, Fernsehserien: In den zehn Jahren danach ist 9/11 ein selbstverständlicher Teil der Geschichte der Stadt geworden, so wie es in den Jahrzehnten und Jahrhunderten vorher die Errichtung der Freiheitsstatue, der Bau des Empire State Building und der Brooklyn Bridge, des Central Park, der Erfolg der Yankees und der Misserfolg der Mets im Baseball geworden sind.
Geschichte kann, ja muss vermarktet werden, wenn es irgendwie weitergehen soll, so funktioniert Amerika, um den Blick zurück kümmern sich die Medien und die gewählten Repräsentanten des Staates, die alljährlich in ritualisierten Abläufen ihrer Trauer Ausdruck verleihen und den unbeugsamen Geist der Vereinigten Staaten beschwören, selbst in einer Zeit, in der sich der Präsident und der Kongress gegenüberstehen wie einst die weißen Siedler aus der alten Welt und die Ureinwohner der USA.
Geist der Erinnerung
Das letzte Fest der Einigkeit fand ebenfalls am Ground Zero statt, am 2. Mai, knapp vor Mitternacht, nachdem die Nachricht die Runde gemacht hatte, dass der gebürtige Saudi Osama bin Laden im Rahmen eines geheimen Einsatzes der Eliteeinheit Navy Seals in Pakistan getötet worden war. Sie kamen noch einmal zusammen, kletterten auf die Verkehrsampeln und ließen von ihnen die Stars and Stripes wehen, sie sangen die Nationalhymne und "Osama - Good bye".
Die meisten derer, die in dieser Nacht im Licht der neuen Türme sangen und feierten, waren noch Kinder, als die Flugzeuge einschlugen. Längst wächst in den USA die erste Generation heran, die 9/11 nur mehr aus den Erzählungen ihrer Eltern kennt, so wie diese die Geschichten über den Mord an John F. Kennedy nur mehr als historisches Ereignis kennen, zu dem sie keinen wie immer gearteten persönlichen Bezug mehr haben. Das Leben geht weiter. Die Erinnerung an 9/11 wird bleiben. Als Entschuldigung taugt das Datum nicht mehr.