Der französische Schriftsteller Philippe Djian spricht über amerikanische TV-Serien, sein Faible für Klischees - und den Versuch, mit seiner Romanserie "Doggy Bag" Literatur vor allem jungen Menschen zugänglich zu machen.
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Wiener Zeitung: Herr Djian, im Mittelpunkt Ihrer literarischen Soap "Doggy Bag" stehen die Brüder Sollens, die ein gut gehendes Autohaus vom Vater übernommen haben und die beide zwanzig Jahre vor dem Einsetzen der Handlung die schöne Edith geliebt haben, die nun mit ihrer neunzehnjährigen Tochter in die Stadt zurückkehrt. Diese sechs Romane folgen in fast jeder Hinsicht den Gesetzen einer TV-Serie. Sind Sie ein Serienliebhaber? Philippe Djian: Ich finde, Fernsehserien tragen viel dazu bei, erfundene Geschichten neu zu erzählen, durch schnelle Szenenwechsel, verschiedene Blickwinkel, und vieles andere. Aber ich sehe mir nicht viele TV-Serien an. Es gibt zwei, drei amerikanische Serien, die ich sehr schätze, "Six Feet Under" zum Beispiel und "Die Sopranos". "Die Sopranos" sind meiner Meinung nach in einigen Episoden nicht weit von Beckett entfernt, und "Six Feet Under", das ist Shakespeare.
Als die sechs Bände von "Doggy Bag" zwischen 2005 und 2008 in Frankreich erschienen sind, haben Sie erklärt, Sie wollten damit Nichtleser, die Fernsehserien lieben, zum Lesen bringen. Warum sollten die sich die Mühe machen, wenn sie doch ähnliche Geschichten auf dem Bildschirm präsentiert bekommen?
Weil ich glaube, dass das Wort stärker ist als das Bild. Sonst hätte ich einen anderen Beruf ergriffen. Zumindest erreicht man mit der Literatur einen anderen Nerv. Das menschliche Innenleben ist viel leichter mit Worten zu beschreiben, als zu filmen. Letztlich ist die Serie ja nur eine andere literarische Form; was zählt, ist die Stimme. Wenn ich es schaffe, die Literatur einem Genre anzupassen, das zur Alltagskultur gehört, ist das in Ordnung. Ich habe Vertrauen in die Literatur. Für mich ist sie der Ort der Reflexion. Insofern finde ich es schlimm, dass die Menschen immer weniger lesen.
Aber nicht Ihre Klientel, oder? Vermutlich befinden sich unter Ihren Lesern nicht wenige Intellektuelle.
Ich weiß es nicht. Ich habe kaum Kontakt zu meinen Lesern. Aber wenn Menschen nicht lesen, geht das uns alle an. Ich weiß nicht, wie Leute, die sich nicht mitteilen können, weil ihnen die Sprache fehlt, in unserer Gesellschaft zurechtkommen wollen. Meine Aufgabe als Schriftsteller besteht darin, gerade jungen Leuten eine Sprache an die Hand zu geben, die ihnen zugänglich ist. Man muss die richtigen Mittel finden, um ihnen Bücher schmackhaft zu machen. Man muss es wenigstens versuchen. In einer Gesellschaft ist der Schriftsteller genauso wichtig wie der Arzt oder der Wissenschafter. Als ich jünger war, sagte ich, wenn es mir nicht gut ging, nicht: "Ich gehe zum Arzt", sondern: "Ich gehe in die Buchhandlung".
In "Doggy Bag" gibt es Familienstreitigkeiten, Verwicklungen, Intrigen, Sex, protzige Autos und Villen, plötzliche Todesfälle und andere Katastrophen. Was war Ihre Ausgangsidee, als Sie mit dem Schreiben begannen?
Ich hatte keine. Nur die eine Vorstellung, dass eine Frau am Morgen den Bus nimmt und in die Arbeit fährt. Ich wusste weder, dass sie in einer Autowerkstatt ankommt, noch, dass es dort zwei Brüder gibt, die sich früher einmal aus Eifersucht fast umgebracht hätten. Genauso gehe ich bei allen meinen Romanen vor, ich weiß überhaupt nicht, wohin sie mich beim Schreiben führen. Ich folge dem Moment, der stimmigen Satzmelodie, dem Vergnügen am Schreiben. Ich versuche solche Bücher zu schreiben, die ich selber gerne lesen würde.
Und die Handlung ergibt sich aus dem Unterbewusstsein?
Ja, es ist ein bisschen wie beim Stricken. Man strickt eine Reihe nach der anderen, ohne zu wissen, ob es ein Schal wird oder ein Pullover. Man strickt und strickt, und es ergibt sich etwas. Das ist meine Art zu schreiben.
Im Zentrum der TV-Serie "Six Feet Under" steht auch ein Brüderpaar, das gemeinsam eine Firma leitet.
Ja, das ist eine kleine Anspielung, ganz lustig, aber im Grunde bedeutungslos. Die Geschichte bildet nur den Rahmen, um über den Stil nachzudenken, darüber, wie man Sprache einsetzt.
Insbesondere der erste Band von "Doggy Bag" quillt fast über vor Klischees, teils irrwitziger Übertreibungen und überraschender Wendungen. Das Prinzip der TV-Soaps ist hier teilweise weiter getrieben, als es im Fernsehen möglich wäre.
Ja, einige Szenen wären so im Fernsehen nie durchgegangen, das ist der Vorteil der Literatur. Die Übertreibungen am Anfang sind natürlich Absicht. Es beginnt wie eine Parodie, später wird es etwas ernster. Wenn man im Laufe der Geschichte das Niveau heben will, muss man auf Meeresspiegelniveau anfangen.
Beim Lesen ahnt man, dass es Ihnen großen Spaß gemacht hat, mit Übertreibungen und Klischees zu spielen.
Klischees in der Literatur interessieren mich sehr. "Der Himmel ist blau" - das ist zum Beispiel ein Klischee. Ich versuche, Klischees auszuloten, Wiederholungen einzusetzen. Einige Autoren wären nichts ohne sprachliche Wiederholungen, Thomas Bernhard zum Beispiel.
Es ist eine Kunst, Wiederholungen und Klischees subtil einzusetzen, indem man ein, zwei neue Wörter einfügt oder sie in einen unerwarteten Zusammenhang stellt. Das verändert den Rhythmus, verändert das Bild. Unser aller Leben ist doch eine einzige Abfolge von Klischees. Alles wurde schon gelebt, alles schon erzählt. Uns bleibt nur - um es in der Sprache des Films zu sagen - mit der Kameraeinstellung zu experimentieren.
Warum der Titel "Doggy Bag"?
Als ich mit der Serie begann, brauchte ich einen Titel, der alles beinhalten könnte, etwas sehr Allgemeines. Da ist mir "Doggy Bag" eingefallen. Ich glaube, es ist gut, wenn man im Leben nicht sofort reagiert, sondern manches mit nach Hause nimmt und dort in Ruhe darüber nachdenkt. In "Doggy Bag" versuchen die Leute zu verstehen, was ihnen passiert. Was ihr Leben kompliziert macht, wird weder durch Erdbeben noch durch Überschwemmungen verursacht, sondern durch ihre Beziehungen.
Haben Sie eine Lieblingsfigur?
Ich mag sie alle. Vielleicht nicht immer, aber im Großen und Ganzen empfinde ich sie komplex und daher interessant genug, um mich mit ihnen zu beschäftigen. Es sind Leute, die ich zum Essen nach Hause einladen würde.
Haben Sie Ihre Figuren und deren Materialismus, Sexgebaren und Jugendwahn nicht manchmal genervt?
Nein. Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind. Es gibt Schlimmeres, als sich für Sex und Autos zu interessieren. Außerdem lassen sich die Charaktere nicht darauf reduzieren. Am Anfang empfindet man das vielleicht so, aber die Figuren entwickeln sich, wenn auch langsamer als in einem herkömmlichen Roman.
Die Charaktere bekommen erst ab dem letzten Drittel des ersten Bandes mehr Tiefgang. Davor habe ich die Story als sehr trashig und die Sprache stellenweise als brutal empfunden. Ich möchte, dass die Sprache der Welt entspricht, in der ich lebe. Deshalb verwende ich manchmal Elemente der gehobenen Sprache, doch im selben Satz auch Ausdrücke des Banalen oder Gewalttätigen. Ich fühle Brutalität überall und ständig. Gleichzeitig aber ist unsere Welt hoch entwickelt, ausgefeilt und intellektuell. Kerouac und Carver schafften es, die Welt, in der sie lebten, in einem Satz einzufangen. Die Wahl jeden Wortes war wichtig, genauso wie die Länge jeden Satzes, die Stellung der Wörter im Satz, der Sprachrhythmus.
Wird es weitere Bände von "Doggy Bag" geben?
Nein. Es war gut und notwendig, die Serie zu machen, aber ich habe gemerkt, dass ich kein Langstreckenläufer bin. Auf 1500 Seiten kann man mit psychologischer Gründlichkeit sehr tiefgehende Porträts entwickeln, aber ich fühle mich auf 300 bis 350 Seiten wohler. Außerdem war die Serie gewissermaßen nur ein Einschub in meine normale, richtige Arbeit. Was ich wirklich liebe, das sind meine Romane.
Warum schreiben Sie dann auch Drehbücher, Theaterstücke, Chansons?
Weil die Arbeit eines Romanciers nicht sehr lustig ist. Man ist immer allein. Theatermachen zum Beispiel ist für mich wie eine Verschnaufpause von der Einsamkeit. Man trifft viele Leute, und das macht Spaß. Das Theaterstück, das ich geschrieben habe, sollte eigentlich Luc Bondy inszenieren, der in Paris ein Theater leitet und Intendant der Wiener Festwochen ist. Und ich schreibe Chansontexte, weil der Schweizer Stephan Eicher sie singt, mit dem ich befreundet bin.
Ich habe gelesen, Sie würden jede Art von Literatur lesen. Stimmt das?
Nein, ich lese keine Krimis, obwohl jeder denkt, ich würde mich gut mit Krimis auskennen. Ich lese auch keine Science Fiction. Ich lese vor allem Gegenwartsautoren, ab und zu moderne Klassiker, wie Faulkner. Und ich lese auch junge Autoren wie Houellebecq oder Beigbeder. Beigbeder ist gut, und auch nett, er nennt mich "Meister". Ich mag es, dass er sich nicht so ernst nimmt. In Frankreich geht es oft genug bierernst zu.
Glauben Sie, dass Ihr Experiment gelungen ist und Sie mit "Doggy Bag" in Frankreich wirklich Nichtleser zum Lesen gebracht haben?
Ich glaube nicht. Diese Bücher verkaufen sich ungefähr so gut wie meine Romane. Ich glaube, "Doggy Bag" wird als literarisches Experiment verstanden. Niemand denkt daran, "Doggy Bag" zu lesen statt sich eine Soap im Fernsehen anzugucken.
Hatten Sie schon Angebote für Verfilmungen von "Doggy Bag"?
Mehrere, aber keines, das mich interessiert. Beim französischen Fernsehen fehlt das Geld oder der Mut für solche Serien. Wenn ich Amerikaner wäre, hätte ich gleich ein Drehbuch geschrieben, in der Hoffnung, dass es ins Fernsehen kommt.
Ihre Frau ist Malerin. Inspirieren Sie ihre Gemälde?
Meine Frau produziert mittlerweile eine Mischung aus Malerei, Installation und Video. Natürlich inspiriert mich das, was sie macht, ich interessiere mich für alle Genres, zwinge mich sogar dazu, viele Filme zu sehen, verschiedene Musik zu hören, in Ausstellungen zu gehen. Außerdem arbeite ich häufig mit Filmemachern zusammen. Vor kurzem zum Beispiel hat André Téchiné die Rechte an "Impardonnables" gekauft, jenem Roman, den ich nach "Doggy Bag" geschrieben habe, und ich helfe ihm ein bisschen beim Schreiben des Drehbuchs. Jemand anderer hat die Filmrechte für "Die Frühreifen" gekauft, an diesem Drehbuch arbeite ich ebenfalls mit. Ein Theaterstück von mir wird demnächst aufgeführt.
Ich habe gelesen, Sie leben seit 2001 wieder in Paris. Haben Sie immer noch so viel Lust wie früher, Ihren Aufenthaltsort häufig zu wechseln?
Wir sind wegen der Kinder inzwischen ein bisschen ruhiger geworden. Unsere jüngste Tochter liebt Paris, sie wollte auf keinen Fall von hier weg. Jetzt ist sie neunzehn, macht ihr Abitur und will mit Freunden zusammenziehen. Das wird uns als Eltern in die Freiheit entlassen. Für meine Frau ist es aber aufgrund ihrer ganzen künstlerischen Ausstattung nicht so einfach, umzuziehen. Vielleicht werden wir ein paar Monate durch die USA touren, ich habe ein paar Einladungen für Gastvorlesungen. Ich würde auch gerne ein, zwei Jahre in Australien leben, aber richtig umzuziehen kommt im Moment nicht in Frage.
Sie sind heuer sechzig geworden. Wollen Sie bald in Pension gehen?
Zum 60. Geburtstag habe ich tatsächlich ein Schreiben bekommen, in dem es hieß, ich könnte ab nun meine Pension beziehen. Ich habe beim zuständigen Amt angerufen und gefragt, wie viel das denn wäre. Die Antwort lautete: 380 Euro. Kein Wunder, dass es in Frankreich Schriftsteller gibt, die auch mit achtzig und mehr immer noch schreiben. Am Schluss nerven sie jeden, treten aber einfach nicht ab ( lacht ). Nein, auch wenn es eitel klingt: Ich habe das Gefühl, dass ich mich noch immer verbessere, dass ich dem immer näher komme, was mich interessiert
Zur Person
Philippe Djian, 1949 in Paris geboren, wurde mit seinem dritten Roman, "Betty Blue. 37,2 Grad am Morgen", Mitte der achtziger Jahre zum Kultautor. Djian gilt als der amerikanischste französische Schriftsteller seiner Generation. Er bewundert Autoren wie Jack Kerouac und Raymond Carver, sein Werk ist von filmischen Einflüssen geprägt. Nicht erstaunlich also, dass er eine sechsteilige Romanserie nach dem Vorbild einer Soap Opera geschrieben hat: Djian spickt diese Serie rund um die Brüder Sollens mit Familienstreitigkeiten und -verwicklungen, Intrigen, Sex, protzigen Autos und Villen, Todesfällen und anderen Katastrophen. Würde "Doggy Bag" im Fernsehen laufen, erschiene es wie eine Mischung aus "Die Sopranos" und "Sex and the City", "Desperate Housewives" und "Der Denver Clan": Auf den ersten Blick schrecklich oberflächlich, voller Klischees und teils irrwitziger Übertreibungen, sprachlich stellenweise geradezu brutal, aber mit schnellen Szenewechseln, verblüffenden Wendungen und rasantem Witz erzählt. Trotz einiger Startschwierigkeiten und Längen ist "Doggy Bag" ein Lesespaß. Wie immer sind Djians Charaktere auch hier Gefangene ihrer Triebe und Träume.
Philippe Djian: Doggy Bag 1 - 6. Romanserie. Aus dem Französischen von Ulrich Wittmann. Diogenes Verlag, Zürich 2009. Jeder Band hat rund 300 Seiten und kostet 9,20 Euro.Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als Kultur- und Reisejournalistin in Hamburg.