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Pilgerströme am Bosporus

Von Arthur Fürnhammer

Reflexionen

Einst Bollwerk des Christentums, war die Stadt Ziel von Wallfahrern und Kreuzrittern. Heute zieht es Europas Reisende primär zu den Kulturdenkmälern.


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Touristenströme vor der berühmten Hagia Sophia.
© Fürnhammer

Istanbul ist aufgrund seiner fast 3000-jährigen Siedlungsgeschichte im Besitz hochkarätiger Kulturdenkmäler. Das macht die Bosporusmetropole zu einer Tourismusdestination ersten Ranges. Besonders konzentriert sind Denkmäler und Touristen im Sultanahmet-Viertel, dem historischen Zentrum: Hagia Sophia, Topkapi-Palast, kaiserliche Zisterne, Blaue Moschee, altes Hippodrom, Großer Basar ziehen Heerscharen von Besuchern an.

Das überbordende Auftreten von Fremden an diesem Flecken Erde ist jedoch kein neuzeitliches Phänomen. Massentourismus gab es nämlich auch schon im alten Byzanz. Der Reichtum Ostroms, einst blühendes Handelszentrum am Schnittpunkt wichtiger Handelsrouten und über Jahrhunderte Nabel der Welt, war legendär. Berichte von russischen, armenischen und westeuropäischen Pilgern sowie von chinesischen und arabischen Besuchern vermitteln das Bild einer prunkvollen Großstadt, die mit ihren Platzanlagen, Säulenmonumenten und Prachtbauten allseits Staunen und Bewunderung hervorrief.

Christliche Reliquien

Angezogen wurden die Besucher jedoch, anders als heute, weniger von Kulturdenkmälern als von der enormen Fülle an Reliquien, die in der Stadt vorhanden waren. Konstantinopel war ja nicht nur Hauptstadt und Handelsmetropole, sie galt auch als Bollwerk des Christentums, als Residenz von Kaisern, die sich selbst als legitime Stellvertreter Christi sahen.

Kaiser Konstantin, der den Christen erstmals freie Religionsausübung gewährte und damit den Aufstieg des Christentums zur Weltreligion ermöglichte, verlegte das Zentrum des Reiches nach Byzanz. Was die Heilsgeschichte anbelangt, hatte Kon-stantinopel jedoch im Gegensatz zu anderen, biblisch relevanten Orten im Byzantinischen Reich (wie Ephesos, wo der Apostel Paulus gewirkt hatte, oder Myra, wo der Heilige Nikolaus das Bischofsamt bekleidet hatte) wenig bis gar nichts vorzuweisen. Um den Mangel an lokaler Heiligkeit zu kompensieren, begann Konstantin mit dem konsequenten Erwerb von Reliquien, die er überall in seiner neuen Stadt anbringen ließ.

Einige davon - die Axt, mit der Noah die Arche gebaut haben soll, das Nardenöl, mit dem Maria Magdalena die Füße Christi salbte, Körbe und Überreste der Brote, mit denen Jesus die Menge speiste - ließ er am Fuße einer mächtigen Säule einmauern, die in der Mitte eines prächtigen, mit Marmor gepflasterten und von Kolonnaden umgebenen Forums stand - dem Konstantinsforum. Die Säule ist als einziger Überrest des Forums heute noch zu sehen.

Konstantin legte nicht nur den Grundstein zum Bau der Hagia Sophia, er ließ auch die Apostelkirche erbauen, die als Grabstätte der Apostel, sowie - symbolträchtig in deren Mitte platziert - als Aufstellungsort von Konstantins Sarkophag dienen sollte.

Aufgrund der Anschaffung weiterer Attraktionen, wie der Dornenkrone, Reliquien der Gottesmutter und Blutreliquien, avancierte Konstantinopel rasch zu einem Pilgerziel, das Rom und Jerusalem bezüglich Reliquien-Dichte bei Weitem übertraf. Für Pilger aus West- und Osteuropa wurde es bald üblich, auf ihrer Reise ins Heilige Land oder auf dem Rückweg einen Halt in Konstantinopel einzulegen, um die zahlreichen wundertätigen Ikonen, Christus- und Marienreliquien zu verehren und die Hagia Sophia und die Apostelkirche zu besuchen.

Der Pilgertourismus wuchs rasant, die Stadt sah sich zwecks logistischer Bewältigung der Pilgerströme zu einer straffen Organisation gezwungen. Bekannt ist, dass sich Pilger meist sieben bis zehn Tage in Konstantinopel aufhielten und gleich nach Ankunft ortskundige Begleiter an die Seite gestellt bekamen, die während der Pilgertour auch als Übersetzer und Reiseführer tätig waren. Die Unterbringung der Pilger erfolgte in Herbergen, die von Klöstern der Hauptstadt geführt wurden.

Pilger und Kreuzfahrer

Eine klassische Pilgerroute hatte ihren Ausgangspunkt an der Hagia Sophia, der größten Kirche der damaligen christlichen Welt. Dort konnte man das von Konstantins Mutter Helena in Jerusalem aufgefundene Heilige Kreuz, die "Windeln" des Jesuskindes und den Tisch des letzten Abendmahls besichtigen. Danach wurden alle imperialen Klöster mit Passionsreliquien besucht, darunter das Pantokratorkloster, wo seit dem 12. Jahrhundert der Fels vom Grab Christi als wichtigste Reliquie verehrt wurde. Die allerheiligsten Reliquien der Stadt bargen jedoch die drei Kirchen innerhalb des Palastareals, die nur privilegierten Besuchern zugänglich waren: Kleid und Gürtel der Maria, der Stab Moses, das Haupt Johannes des Täufers sowie etliche Passionsreliquien.

Die Pilger kamen aus ganz Europa und für viele führte die Pilgerroute entlang der Donau und damit durch das junge Österreich in Richtung Byzanz und Heiliges Land. In der Grenzmark "Ostarrichi" begegneten man den Fremden oft mit Misstrauen, was heute noch in einer Ableitung des vom lateinischen peregrinus ("fremd, ausländisch") stammenden Wortes "Pilger", nämlich im österreichischen Dialektwort "Pülcher" (zwielichtige Figur, Gauner) zum Ausdruck kommt.

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Kaiser Konstantin mit dem Stadtmodell Konstantinopels (Mosaik, Hagia Sophia/Detail).
© Wikimedia

Im 12. Jahrhundert bekam Byzanz neben klassischen Pilgern auch Besuch von Christen, die sich in Scharen dazu aufmachten, Jerusalem gewaltsam aus den Fängen der Heiden zu befreien. Teilnehmer des 2. Kreuzzugs 1147 waren Heinrich II. Jasomirgott, später österreichischer Herzog, und der spätere deutsche König und Kaiser Friedrich I. Barbarossa. Der Kreuzzug endete in einer schmachvollen Niederlage, auf dem Rückweg kam es jedoch in Byzanz zur politisch motivierten Vermählung zwischen Heinrich II. und Theodora Komnene, der erst 15-jährigen Nichte des byzantinischen Kaisers.

Die Verbindung wurde in Byzanz großteils negativ kommentiert. Angeblich sollen die Byzantiner in Tränen darüber ausgebrochen sein, dass die liebreizende Prinzessin einem so barbarischen Schicksal ausgeliefert und "dem Ungeheuer aus dem Westen als Opfer dargebracht" wurde, wie ein Hofdichter schrieb. Für das "internationale" Ansehen der österreichischen Herzoge wie für ihre Außenpolitik war die Eheschließung aber von großer Bedeutung. In der kleinen Mark an der Donau sonnte man sich im Glanze Ostroms. Und in einer Urkunde wurde Wien - in Anlehnung an die in Byzanz gelebte griechische Kultur - gar als Vindopolis bezeichnet.

Um Theodora eine standesgemäße Bleibe zu bieten, entschied sich Heinrich II. gegen seine bisherige Residenz Regensburg, wo er als bayrischer Herzog residiert hatte, und auch gegen Klosterneuburg, die Residenz seines Vaters; er beschloss, Wien zur Hauptstadt zu machen und großzügig auszubauen. Ein Akt, mit dem die Zukunft Wiens als dauerhafter Hauptstadt Österreichs besiegelt wurde. Unter Heinrich II. kam es zur Fertigstellung der Pfarrkirche St. Stephan und zur Gründung des ersten Kloster Wiens, des Schottenstifts, in dem der Herzog und Theodora bestattet wurden.

Ein markanter Einschnitt in die Geschichte Konstantinopels stellt der 4. Kreuzzug dar. Ägypten, das ursprüngliche Ziel, sollte mit Hilfe der Flotte Venedigs erreicht werden. Aus einer Reihe von Gründen entschloss sich das Kreuzzugheer jedoch, die Unternehmung umzuleiten und anstatt Ägypten Konstantinopel zu erobern. Was folgte, war - so beschrieben es Zeitgenossen - die größte und gründlichste je erlebte Plünderung auf Gottes Erden. Die sagenhaften Schätze von Byzanz wurden auf die gesamte christliche Welt verstreut und sind zum Teil heute noch in den Kirchenschätzen und Museen Deutschlands, Frankreichs, vor allem aber Venedigs zu bestaunen. Zyniker behaupten, dass es in der Markuskirche in Venedig - architektonisch ein Abbild der Apostelkirche von Byzanz - keinen Stein gebe, der nicht aus Konstantinopel gestohlen wurde.

Über Umwege beeinflusste dieser 4. Kreuzzug samt seinen Folgen auch die heimische Kunstgeschichte. Als Gustav Klimt 1903 Venedig bereiste, sah er dort die vielfach mit Gold ausgeschmückten Kirchenmosaike und begann in der Folge, inspiriert von den Heiligen- und Herrscherbildern, die byzantinische Bildsprache in zeitgemäße Formen zu übertragen. Viele seiner Meisterwerke, wie das Bildnis der Adele Bloch-Bauer, stammen aus dieser "goldener Phase".

Ein weiterer Kulturimport mit Ursprung Byzanz ist das charakteristischste Teil des westlichen Essbestecks - die Gabel. Auch sie kam über Venedig nach Europa und wurde von einer byzantinischen Prinzessin in die venezianische Gesellschaft eingeführt. Verbreitung fand sie allerdings nur zögerlich, galt sie doch im christlichen Mitteleuropa als Werkzeug des Teufels, als "sündhafte Verweichlichung" und als "Gottesverhöhnung" (Hildegard von Bingen).

Am sonntäglichen Mittagstisch, nicht weit von der Gabel entfernt, liefert auch das Schnitzel einen Beleg für den regen Kulturaustausch zwischen Ost und West. Zwar mögen wissenschaftliche Beweise dafür fehlen, dennoch dürfte das beliebte Fleischgericht letztlich von Byzanz über Venedig nach Mitteleuropa gekommen sein.

Reger Kulturaustausch

Tatsache ist, dass an der Tafel der oströmischen Kaiser besonders wertvolle Nahrungsmittel, darunter auch Fleischstücke, mit Blattgold überzogen wurden, womit dem Kaiser zur Ehrerbietung "goldenes Fleisch" gereicht wurde. Eine Sitte, die wie üblich schnell von Adeligen und Reichen kopiert wurde, weshalb man aufgrund der großen Mengen an verbrauchtem Blattgold bald dazu überging, das Fleisch durch das Panieren mit Mehl, Ei und Semmelbröseln zu "vergolden".

Auch Reliquien fanden ihren Weg vom Orient in heimische Gefilde: Ein rund 23 cm langer Kreuzpartikel wurde namensgebend für das Kloster Heiligenkreuz, wo die Reliquie noch heute verehrt wird.

In Byzanz waren nach Vertreibung der Kreuzfahrer und Wiederherstellung des byzantinischen Kaiserreichs im Jahr 1261, naturgemäß kaum noch Reliquien vorhanden. Umso bemerkenswerter erscheint es, dass die Tradition der Anschaffung von Reliquien schnell wieder aufgenommen wurde, sodass der Pilgertourismus auch in spätbyzantinischer Zeit bald wieder florierte.

Stephan von Nowgorod, ein Pilger des 14. Jahrhunderts, fasste seine österliche Pilgerreise mit den folgenden Worten zusammen: "Konstantinopel ist wie ein großer, undurchsichtiger Wald: Ohne guten Führer ist es schier unmöglich herumzukommen, und wenn du glaubst, dich billig und geizig durchschlagen zu können, wirst du nicht einen einzigen Heiligen sehen oder küssen können."


Arthur Fürnhammer, geboren 1972, lebt als freier Autor und Journalist in Wien. 2013 wird im Verlag G&G sein Donaubuch für Kinder erscheinen.

Im Museum für angewandte Kunst (MAK) ist noch bis 21. April die Ausstellung "Zeichen, gefangen im Wunder - Auf der Suche nach Instanbul heute"zu sehen. Stubenring 5, 1010 Wien.