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Pillencocktail boomt als Allheilmittel

Von Petra Tempfer

Wissen

Knapp 15 Prozent nehmen bis zu 43 Pillen monatlich. | Mehr als tausend Menschen sterben jährlich daran. | Elektronische Gesundheitsakte soll bald Abhilfe schaffen. | Wien. Ein Aufputschmittel zum Frühstück, ein Schlafpulver als Betthupferl. Dazwischen vielleicht noch Antidepressiva, um dem Alltagsstress gewachsen zu sein. "Die Österreicher greifen immer häufiger zu Tabletten", warnt Herbert Feichter, Abteilungsleiter der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse (NÖGKK). Mittlerweile würden schon die kleinsten Wehwehchen mit Pillen jeder Art bekämpft, anstatt andere Heilmethoden in Erwägung zu ziehen. | Doping unter Bürohengsten | Gefahr durch Online-Fälscher


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Knapp 15 Prozent der Österreicher nehmen monatlich sechs bis 43 Wirkstoffe ein. "Laut Weltgesundheitsorganisation muss man ab fünf mit Wechselwirkungen rechnen", sagt Feichter. "Schon Aspirin kann mit anderen Präparaten reagieren", ergänzt Martin Stickler von der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK). Besondere Gefahren lauern laut Apothekerkammer-Sprecherin Gudrun Reisinger in jenen Medikamenten, die anders heißen, aber das Gleiche bewirken. "Ein Patient etwa nahm zwei Kreislaufpulver gleichzeitig ein, wodurch es ihm noch schlechter ging."

Tatsächlich werde bereits jedes fünfte Medikament in Österreich doppelt oder falsch genommen. "Schätzungen der Apothekerkammer zufolge sterben jährlich mehr als tausend Menschen an den Folgen falscher Arzneimitteleinnahmen", sagt Reisinger. Eine wachsende Gefahr stellen dabei die Internet-Apotheken dar. "Hier gelangt man an Medikamente, die aus gutem Grund verschreibungspflichtig sind", warnt Stickler, "oder an Fälschungen."

Hauptkonsument Senior

Der Irrglaube "Je mehr Pillen man nimmt, desto gesünder ist man" sei das Grundproblem bei der überdosierten Medikation. Und krank fühlen sich viele: Ob am stressigen Arbeitsplatz oder im hektischen Alltag - zahlreiche Menschen glauben, diesem nur noch unter Einnahme von Tabletten gewachsen zu sein.

Als Arzneien-Hauptkonsumenten gelten allerdings die älteren Semester, die oft an mehreren chronischen Krankheiten leiden: Über-70-Jährige im Schnitt an drei bis neun. Zur Degeneration des Bewegungsapparates kommen Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Tumore hinzu. "Wenn dann der eine Arzt nicht weiß, was der andere verschrieben hat, kann ein gefährlicher Pillencocktail daraus resultieren", warnt Feichter.

Damit es erst gar nicht so weit kommt, wurde in Zusammenarbeit unter anderem des Gesundheitsministeriums und der Apothekerkammer der "Arzneimittel-Sicherheitsgurt" - die E-Medikation - entwickelt. Im Zuge eines Pilotprojektes kam dieser vor kurzem in Salzburg zur Anwendung.

"Dabei legen vernetzte Apotheken eine Medikamenten-Datei über ihre Patienten an", erklärt Reisinger - auf freiwilliger Basis. Zum Einstieg wird die E-Card benötigt. Die Daten werden in der Pharmazeutischen Gehaltskasse in Wien, dem Verrechnungszentrum der österreichischen Apotheken, gespeichert. Wird anhand dieser die Gefahr einer Wechselwirkung erkannt, wird der Patient informiert - und notfalls zum Arzt geschickt.

Das von der Datenschutzkommission genehmigte Projekt ergab zwar, dass pro Patient etwa drei arzneimittelbezogene Probleme auftauchten. Und dass 15 Prozent vor gefährlichen Wechselwirkungen gewarnt werden mussten.

E-Card als Schlüssel

Dennoch sieht die ÖÄK keine Zukunft für diese Art der E-Medikation. "Apotheker können niemals beurteilen, wie die Medikation zu erfolgen hat", kritisiert Stickler das Projekt, "allein der Arzt weiß es." Daher solle die Kontrolle den Ärzten vorbehalten sein - und die E-Medikation unter der Ägide der ÖÄK laufen. Dass die E-Card der Schlüssel dazu ist, meint auch Stickler.

Die Apothekerkammer pocht wiederum darauf, bereits drei Millionen Euro in das Projekt investiert zu haben. "Ärzte und Apotheker werden sich finden müssen", drängt der Sprecher des Gesundheitsministeriums, Thomas Geiblinger. Ist doch geplant, die E-Medikation spätestens 2012 in ganz Österreich einzuführen. "Im Rahmen dieser elektronischen Gesundheitsakte sollen alle vom Arzt verschriebenen und rezeptfreien, in der Apotheke gekauften Medikamente eines Patienten abrufbar sein", präzisiert Geiblinger. Im Herbst würden drei weitere Pilotversuche unter anderem in Wien-Donaustadt - unter Beteiligung des Donauspitals - starten. Ob bei diesen die Daten bei den Apothekern oder Ärzten gespeichert werden, ist laut Geiblinger noch nicht geklärt.

Die Gebietskrankenkasse sieht in der E-Medikation jedenfalls eine Chance der Kosteneinsparung. "Im Vorjahr wandte die NÖGKK 419 Millionen Euro für Arzneien auf", rechnet Feichter vor, "heuer werden es 449 Millionen sein." Falls Medikamente richtig angewandt und vermehrt Generika verschrieben werden, könnten 25 Millionen Euro eingespart werden. Außerdem würden sich die Patienten Rezeptgebühren ersparen. "Hilfreich wäre auch, wenn sie Tabletten nicht zu Hause horten", sagt Feichter - 15 Prozent aller verschriebenen Medikamente würden gar nicht konsumiert, "sondern landen im Müll." Woraufhin viele gleich wieder nach anderen bunten Pillen Ausschau halten.