Fritz Matzinger gilt als Vorläufer der Baugruppenbewegung und versteht Wohnbau mehr als soziale und ökologische, denn als gestalterische Aufgabe. Zum 75. Geburtstag des Linzer Architekten.
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Der oft gehörten Forderung von - angesichts ungewöhnlicher Bauten - kopfschüttelnden bis erbosten Bürgern, der Architekt solle doch selbst einmal in dem Haus wohnen, das er für andere geplant hat, wird Fritz Matzinger mehr als gerecht, noch dazu freiwillig.
"Es war mir wichtig, das, was ich baue, auch selber zu nutzen, um zu erfahren, was ich künftig korrigieren sollte", erklärt der in diesen Tagen 75-jährige Architekt. Seit vier Jahrzehnten lebt er mit seiner Frau im ersten seiner inzwischen 36 Atriumhäuser in der Linzer Nachbargemeinde Leonding. Dort löste die futuristisch wirkende Anlage mit ihren zwei- und dreigeschoßigen Wohnwürfeln, den Flachdächern und den nach außen gewölbten, bullaugenartigen Fenstern einiges an Befremden aus, als Matzinger sie Mitte der 70er Jahre neben zwei Bauernhäusern auf eine Obstwiese gestellt hat.
"Mein erstes Haus war noch ein Ausfluss meiner ursprünglichen Ideen, die ich nach dem Studium entwickelt hatte. Es lag damals im Trend, zu überlegen, wie man in großer Zahl preiswert Wohnungen produzieren kann. Ich kreierte ein System aus vorfabrizierten Raumzellen, die man zu unterschiedlichen Typen kombinieren konnte. Und dachte mir, man bestellt sich die Module aus dem Katalog, die werden dann angeliefert, nebeneinander oder übereinander gestellt und man kann einziehen."
Inspiration Afrika
Nach seinem Diplom 1965 hatte Matzinger für Architekturbüros in Wien und Linz gearbeitet, ehe er sich 1971 entschloss, selbstständig zu werden - nicht etwa aus Mangel an gut bezahlten Jobs, sondern "weil ich merkte, dass ich mit dem normalen Wohnbau nichts anfangen kann".
Für die Umsetzung seines ursprünglichen, rein technologischen Lösungsansatzes hatte der Linzer sogar schon eine Firma aus der Tschechoslowakei gefunden. Doch dann warf eine Reise nach Westafrika 1973 all seine bisherigen Überlegungen über den Haufen. "Ich habe in den Dörfern in Kamerun und der Elfenbeinküste eine Gesellschaft und eine Wohnform kennengelernt, in der es keine Kindergärten gibt und keine Seniorenheime, wo es keine Schlüsselkinder gibt, die den ganzen Tag allein sind, oder alte Menschen, die vereinsamen."
Unser Wohnbau dagegen offenbarte sich für Fritz Matzinger als reine Befriedigung physischer Bedürfnisse - "ein paar Wände, ein Dach über den Kopf und fertig. Aber das kann es nicht sein".
Zurück in Linz, ist dann innerhalb eines Monats ein Plan für einen Prototypen entstanden, den der Architekt zusammen mit anderen Familien nun auch realisieren wollte - als gemeinschaftliche Alternative zum Nebeneinander-her-Wohnen, ob im Wohnblock, ob im Einfamilienhaus.
Auf seine kleine Zeitungsannonce hin meldeten sich 150 Interessierte. Mit 15 von ihnen startete Matzinger nach Erwerb eines passenden Grundstücks 1975 die Bauarbeiten, wobei er ein enormes Risiko auf sich nahm: Um etwaige Zweifel seiner Mitstreiter an diesem Experiment zu zerstreuen, bot er ihnen eine Fixpreis-Garantie, für die der damals knapp 30-jährige Familienvater privat haftete. "Aus heutiger Sicht habe ich damals mein Hirn ausgeschaltet. Aber ich war besessen von meiner Vision und wollte sie unbedingt verwirklichen", blickt der Architekt zurück. Durch vorgefertigte Raumzellen aus Beton konnten die Häuser kostengünstig und schnell errichtet und "am 1. Dezember desselben Jahres von uns bezogen werden".
In Matzingers zweiteiliger Siedlung umschließen jeweils acht mehrgeschoßige Wohneinheiten einen rund 200 Quadratmeter großen Hof, oder wie der Architekt es nennt, ein Atrium, das bei Schlechtwetter durch ein Glasdach geschützt wird. Verbunden sind beide Atrien durch ein Schwimmbad samt Sauna, das ebenfalls Sommer wie Winter genutzt werden kann. Und rings herum erstreckt sich ein großer gemeinschaftlicher Grünraum. Das Herz der Siedlung sind aber die zwei Innenhöfe. Sie dienen den Bewohnern als Treffpunkt, Spielraum, Sporthalle, Festplatz und Veranstaltungsort - ja, als eine Art Wohnzimmer und Wintergarten der Hausgemeinschaft.
Begegnungszonen
Dass die Atrien so intensiv genutzt werden, liegt laut Matzinger daran, dass sie den Zugangsbereich zu den einzelnen Wohneinheiten bilden: Wann immer die Bewohner ihre eigenen vier Wände verlassen oder betreten, gehen sie über den Hof. So begegnet man sich automatisch, ein kurzes Gespräch drängt sich geradezu auf - und gemeinsame Aktivitäten ergeben sich wie von selbst. "Interessant ist, dass die Gemeinschaft unter gelegentlichem Bewohnerwechsel in keiner Weise leidet", weiß der Architekt, der hier mittlerweile auch mit seiner Tochter sein Büro führt. "Im Gegenteil. So ist aus dem Familiendomizil keine Seniorenresidenz geworden, sondern ein Mehrgenerationen-Wohnen aus allen Altersklassen."
Was heute als Vorläufer der heimischen Baugruppenbewegung gilt, wurde anfangs - von Außenstehenden - vielfach angefeindet: Die einen befürchteten in der ungewöhnlichen Reihenhaussiedlung eine Art Kommune, andere wiederum prophezeiten höhere Scheidungsraten angesichts der ständigen Versuchung durch das Wohnen Tür an Tür. Die Politik ortete hinter Matzingers Konzept gar kommunistische Tendenzen, was durch ein amtliches Gutachten entkräftet werden konnte.
Gleichwohl stieß der Architekt rasch auf das Interesse weiterer Wohnungssuchender. So konnte Matzinger bis heute an 21 Standorten drei Dutzend Atriumhäuser mit mehr als 500 Wohnungen verwirklichen: die meisten davon in Oberösterreich, aber auch welche in Wien, Niederösterreich, der Steiermark und Salzburg, sowie in Berlin, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen.
Die wohl ungewöhnlichste seiner Siedlungen ist das "Nachbarschaftliche Wohnen Guglmugl" am Stadtrand von Linz aus dem Jahr 2000. Hier bilden die Reihenhäuser nicht den üblichen Hof - sie erstrecken sich in zwei parallelen, langgezogenen Zeilen das steile Hanggrundstück hinauf. Dementsprechend ist auch das Atrium nicht quadratisch, sondern läuft wie ein Treppenweg durch ein Bergdorf zwischen den beiden Häuserreihen hindurch. Ungeachtet dessen ist aber auch in diesem Fall der 600 Quadratmeter große Erschließungsbereich gleichzeitig Spielplatz, Veranstaltungssaal - ja, Lebensraum, samt Wintergarten und Wasserfall.
Das Hallenbad und die Sauna inmitten der Anlage sind nicht nur ein von den Bewohnern der 32 Häuser geschätzter Luxus, sondern für Fritz Matzinger - so wie das Atrium - ein Kristallisationspunkt des Gemeinschaftslebens: "Im warmen Wasser oder in der Sauna plaudert man gern, und das möchte ich nach Möglichkeit unterstützen." Die Hanglage des Grundstücks nutzte der Architekt dazu, die mehrgeschoßigen Reihenhäuser terrassenartig abzustufen und das Flachdach jedes Hauses als großzügigen Garten für die oberhalb anschließende Wohneinheit zu verwenden.
Darüber hinaus weisen die Reihenhäuser auf der Ost- oder Westseite noch ein kleines Stück ebenerdigen Gartens beziehungsweise eine Terrasse sowie im Obergeschoß einen Balkon auf. Ein gemeinschaftlicher Gemüsegarten, ein Spielplatz und ein Sportplatz runden das Freiraumangebot ab. Auch in Guglmugl ist zu beobachten, wie die Kinder in Matzingers Häusern als Gemeinschaft aufwachsen, in der die Älteren unabhängig von der Familienzugehörigkeit auch Verantwortung für die Jüngeren übernehmen.
Die sozialen Aspekte sind ein Teil des Nachhaltigkeitsanspruchs, den Matzinger an den Wohnbau stellt. Daneben stehen sein ökologischer Anspruch, den er durch die Wahl von Standorten an öffentlichen Verkehrsmitteln sowie durch das boden-, baustoff- und heizenergiesparende Zusammenrücken seiner Häuser erfüllen will - sowie der Anspruch, auch wirtschaftlich nachhaltig zu bauen: für die Bewohner selbst durch verbilligende Gemeinschaftslösungen und für die Gesellschaft durch Einsparungen bei der Siedlungsinfrastruktur.
"Bei meiner Atriumhaus-Anlage in Thürnau bei Linz entfallen vier Prozent der Grundstücksfläche auf die Verkehrserschließung", erklärt der Architekt. "Bei der unmittelbar angrenzenden Einfamilienhaussiedlung sind es dagegen mehr als 20 Prozent."
Trotzdem scheinen weder Politik noch Wohnungswirtschaft an seinem Konzept interessiert. Erst bei seinem jüngsten eigeninitiierten Bau unterstützte ihn das Land Oberösterreich nach einem Sonderbeschluss der Landesregierung in vollem Umfang. "Bis dahin erhielten wir die ganze Wohnbauförderung nur dann, wenn wir am Projekt offiziell eine Wohnbaugesellschaft beteiligten, die aber erst wieder Geld von uns dafür verlangte und dadurch den Bau verteuerte", so der Architekt.
Selbstbestimmte Arbeit
Bloß eine einzige Anlage in Österreich entsprang dem Auftrag eines Bauträgers - und auch das nur, weil dieser darauf hoffte, dass Matzingers Haus im Unterschied zu einem herkömmlichen Wohnkomplex von den streitbaren Anrainern akzeptiert werden würde. Der Architekt wiederum machte bei diesem Projekt die Erfahrung, dass seine Qualitätsvorstellungen mit den Rentabilitätsvorstellungen der Wohnbaugesellschaften nicht in Einklang zu bringen sind. Auch an Wettbewerben nimmt er mittlerweile nicht mehr teil, "weil in den Jurien kaum Leute sitzen, die sich mit der Materie Wohnbau ernsthaft beschäftigen". Einzig sein Obdachlosenheim in Steyr, das er ebenfalls am Konzept seiner Atriumhäuser ausrichtete, entsprang einem geladenen Wettbewerb.
Aktuell arbeitet Matzinger an zwei Neubausiedlungen im Raum Steyr sowie an zwei Umbauten historischer Komplexe: In das Linzer Kapuzinerkloster integriert er ein SOS-Kinderdorf sowie ein Therapiezentrum - und ergänzt auf dem Vorplatz einen Wohnbau nach seinen Prinzipien. Und in Garsten bei Steyr baut er in die teilweise denkmalgeschützten Gemäuer eines großen, aufgelassenen Vierkanthofs aus dem 16. Jahrhundert 20 Wohnungen und insgesamt 1000 Quadratmeter Gemeinschaftsfläche ein. "Wir Architekten haben schon genug Landschaft vernichtet", spart Fritz Matzinger nicht mit Kritik. "Es ist höchste Zeit, dass wir uns um den Baubestand kümmern. Da ist viel Platz für innovative Konzepte."
Reinhard Seiß ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien. Das Werk von Fritz Matzinger porträtierte er 2013 in seinem auch als DVD
erschienenen Dokumentarfilm "Häuser für Menschen. Humaner Wohnbau in Österreich" (www.muerysalzmann.at).