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PISA: Noch viele Fragen offen

Von Heiner Boberski

Politik

Stephan Berchtold von der Wiener Wirtschaftsuniversität verfolgt die Debatte über "Schnellschüsse" im Bildungssystem, die von der Gesamtschule oder der Ganztagsschule das Heil erwarten, mit Skepsis. Für ihn sind viele Ergebnisse der internationalen Bildungsvergleichsstudie PISA noch zu wenig analysiert.


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Ungeklärt ist für Stephan Berchtold, der sich mit Organisationsentwicklung und so auch mit Schulentwicklung befasst, zum Beispiel, warum bei PISA "die Dänen, die das gleiche System wie die Finnen haben, schlechter abgeschnitten haben". Genauer überprüft gehören seiner Meinung nach auch die Übersetzungen der Fragen ins Deutsche, denn Österreich sei bei zwei im Vergleich zum englischen Originaltext sehr unverständlich formulierten Aufgaben außergewöhnlich deutlich abgestürzt. Ein weiteres Problem: Da Mathematik das Schwerpunktfach war, wurden im Lesen auf der Basis von nur 50 Prozent der Resultate hochgerechnete Punktezahlen ermittelt, die weniger Aussagekraft haben.

Berchtold weist auf bemerkenswerte Unterschiede in den Leistungen von Burschen und Mädchen hin, die bisher kaum thematisiert wurden: "Warum spricht man nicht darüber?" Auffallend ist, dass Mädchen in allen Schulformen beim Lesen deutlich besser abgeschnitten haben, während sie in der Mathematik - ebenfalls in allen Schulformen und auch in allen internationalen Vergleichen - schlechtere Ergebnisse aufzuweisen hatten als die Burschen.

Was Naturwissenschaft und Problemlösen anlangt, gibt es ein paradoxes Ergebnis: Die Mädchen liegen zwar auch hier in jeder Schulform zurück, im Durchschnitt aber gleichauf, da sie beim höchsten Niveau - der AHS - in viel größerer Zahl vertreten sind als die Burschen. Die BHS-Schülerinnen fallen auf diesem Gebiet gegenüber den AHS-Mädchen deutlich ab.

Eine der vielen interessanten offenen Fragen ist für Stephan Berchtold, warum im PISA-Siegerland Finnland die Mädchen, die auch dort im Lesen voran sind, in der Naturwissenschaft gleichauf liegen und in der Mathematik und im Problemlösen viel weniger den Burschen nachhinken als in Österreich. Berchtold hält es für denkbar, wenn man sich an das Thema Koedukation wagt, eine stärker geschlechtsspezifisch angelegte Förderung zu versuchen: "Die gemeinsame Sozialisierung im Klassenverband macht Sinn. Man könnte ihn aber in bestimmten Altersstufen in einzelnen Fächern auflösen, um jene Gruppen zu fördern, die gerade gefördert werden können."

Während der etwa vier Jahre Pubertät, die bei Mädchen und Burschen Zeitverschiebung stattfindet, gehe im gemeinsamen Unterricht viel Lernzeit verloren, denn in dieser Phase "spinnt immer irgendwer". Unter sich würden sich Mädchen unter Umständen in der Mathematik oder Burschen beim Lesen von Deutschtexten leichter tun. Aber diese Diskussion, so Berchtold, wolle derzeit kaum jemand führen. Sie liefe wahrscheinlich auch auf etwas mehr Aufwand an Lehrpersonal und Mitteln hinaus und sei möglicherweise schon deshalb zum Scheitern verurteilt.

Die PISA-Studie habe deutliche Probleme in größeren Städten ausgewiesen. Besonders wichtig findet Berchtold daher die frühe "Sicherstellung der deutschen Sprachkompetenz". Es sei klar, dass heute zum Teil begabte Kinder vorwiegend deshalb keinen Zugang zu höherer Bildung finden, weil sie Sprachprobleme haben.

Von einem "Grabenkrieg" zwischen Anhängern eines differenzierten Schulsystems und der Gesamtschule hält der Organisationsentwickler nichts. Und eine verpflichtende Ganztagsschule erscheint ihm ungerecht. Ein dem Lernen förderliches Elternhaus sei sicher ein Vorteil für ein Kind. Wo ein solcher Hintergrund fehle, könne ein Kind natürlich von einer Ganztagsbetreuung in der Schule profitieren. Es gebe aber Eltern, die sich am Nachmittag um ihre Kinder kümmern können und wollen, und denen sollte man sie nicht wegnehmen.