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"Placebo-Pillen mit enormen Nebenwirkungen"

Von Petra Tempfer

Politik
Die Vernetzung von Videoüberwachung würde die Sicherheit nur scheinbar erhöhen, so der Vorwurf.
© Adobe

Neuwahlen kämen dem Österreichischen Rechtsanwaltskammertag nicht unbedingt ungelegen, weil sicherheitspolitische Pläne, die die Grund- und Freiheitsrechte gefährden könnten, damit auf Eis gelegt wären.


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Wien. Angenommen, die ÖVP will nach dem angekündigten Rücktritt von Parteichef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner nicht weiter mit der SPÖ koalieren. Und angenommen, es gibt Neuwahlen - dann würden diese dem Österreichischen Rechtsanwaltskammertag (Örak) nicht unbedingt ungelegen kommen, sagte Präsident Rupert Wolff am Donnerstag. Zumindest, was sicherheitspolitische Pläne wie die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung, die elektronische Fußfessel für potenziell Terrorverdächtige, sogenannte Gefährder, die Vernetzung privater Videoüberwachungsanlagen oder Kennzeichenerfassungssysteme betrifft.

Diese würden zwar das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung heben, seien aber nur "Placebo-Pillen mit enormen Nebenwirkungen", sagte Wolff. Denn in Wahrheit schränkten sie die Grund- und Freiheitsrechte ein. Durch Neuwahlen wäre die geplante "Ausweitung von Überwachungsmaßnahmen und Polizeibefugnissen" auf Eis gelegt.

Grundrechtsprüfung bei Gesetzesvorhaben gefordert

Diese Ausweitung der Überwachung sei mitunter zu wenig überdacht, anlassbezogen und besorgniserregend. Dadurch drohe der Rechtsstaat, sich zurückzuentwickeln. "Fast schon wöchentlich werden neue Vorhaben präsentiert", so Wolff - und zwar im Windschatten terroristischer Anschläge, um die scheinbare Sicherheit zu erhöhen.

Österreich habe jedoch "einen weiten Weg beschritten", um Grund- und Freiheitsrechte zu erlangen. Die zunehmende Angst in der Bevölkerung dürfe nicht dazu genutzt werden, Behörden Eingriffsmöglichkeiten einzuräumen, "die unverhältnismäßig, verfassungswidrig und nachweislich nicht dazu geeignet sind, derartige Verbrechen zu verhindern". Wolff fordert vielmehr eine gezielte Bekämpfung des Terrorismus im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgebots. So sollten Gesetzesvorhaben zur Terrorbekämpfung immer im Vorfeld einer Grundrechtsprüfung unterzogen, und der bereits bestehende Gesetzesrahmen sollte unter Beiziehung von Experten unabhängig evaluiert werden. Dabei sollten sowohl die Übereinstimmung mit den Grundrechten als auch die Effektivität der Maßnahmen überprüft werden, heißt es auf Nachfrage vom Örak. In Deutschland sei dies etwa im Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung durch eine Studie des Max Planck Instituts geschehen, die zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die Aufklärungsquote dadurch nicht signifikant verbessert worden sei.

Doch zurück zu Österreich. Angenommen also, es gibt Neuwahlen, dann wären allerdings auch für den Örak wichtige Gesetzesvorlagen auf Eis gelegt - was diesem freilich schon ungelegen käme. So würde es zum Beispiel laut Wolff bei Entscheidungsprozessen beim Miet- oder Insolvenzrecht, die bereits in der Pipeline sind, zu unerwünschten Verzögerungen kommen.

Teils "gravierende Missstände" ortet der Örak aktuell bei Asylverfahren. Die Qualität der Fallprüfungen variiere je nach Herkunftsland stark. Die Erfahrungen mit den Außenstellen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl seien sehr unterschiedlich, besonders negativ sei die Außenstelle in Wiener Neustadt aufgefallen, sagte Wolff: Für eine Stellungnahme zu einem 200-seitigen Länderinformationsblatt habe es dort eine Frist von nur sieben Tagen gegeben. Wolff fordert, den Kollegen eine ausreichende Frist einzuräumen.

Protokolle von Asylverfahren im Volltext weitergegeben

Außerdem seien Verhandlungsprotokolle von Asylverfahren im Volltext an Dritte, Verfahrensfremde, weitergegeben worden, also ohne vorher die Namen der Betroffenen unkenntlich gemacht zu haben. "Wer ein solches Protokoll weitergibt, riskiert, Leib und Leben der genannten Personen zu gefährden", sagte dazu Wolff.

In der Justiz kritisierte Wolff vor allem die hohen Gerichtsgebühren. Laut einer Europarats-Studie liege der Deckungsgrad in Österreich (im Vergleich zu den Ausgaben) bei 111,25 Prozent. Zum Vergleich: Im EU-Durchschnitt beträgt dieser gerade einmal 23,16 Prozent. Und trotz dieser "Rekordeinnahmen" hätten die Gerichte und Staatsanwaltschaften mit Personalmangel zu kämpfen, so Wolff. In Österreich kommen auf 100.000 Einwohner vier Staatsanwälte - im EU-Schnitt liegt dieses Verhältnis bei 100.000 zu 11,3. Auch bei den Richtern und Gerichtsbediensteten liegt Österreich klar unter EU-Schnitt. Der Örak fordert daher eine "Gebührenbremse" sowie mehr Personal.