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Plädoyer für eine Denkpause bei der Energiewende

Von Christian Lukner

Gastkommentare

Für die Verbraucher in Deutschland hat sich der Strompreis in den vergangenen zehn Jahren erhöht. | Schuld daran sind die Umlagen für Strom aus Solar- und Windkraftanlagen.


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Seit 1950 hat sich der Weltenergieverbrauch mehr als verdreifacht, jedoch unterschiedlich verteilt auf die Industrie- und Entwicklungsländer! Die Hälfte der Weltbevölkerung muss mit weniger als 2 Euro am Tag auskommen. Täglich sterben 26.000 Menschen an Hunger und Wassermangel. Die industrialisierten Länder verbrauchen täglich so viel Öl, Kohle und Gas wie die Natur in 500.000 Tagen (also fast 1370 Jahren) gebildet hat. Schon wegen der begrenzten Ressourcen muss die Menschheit auf alternative (erneuerbare) Energien umsteigen. Wegen des Temperaturanstiegs auf Grund des primär vom Menschen verursachten Treibhauseffektes sollte mit diesem Umstieg jedoch so schnell wie möglich begonnnen werden, ansonsten droht ein Anstieg der globalen Mitteltemperatur um bis zu 8 Grad Celsius, mit bedenklich-negativen Konsequenzen für das gesamte Ökosystem. Leider ist bis heute keine Trendwende erzielt worden oder auch nur in Sicht, im Gegenteil: Bevölkerung, Energieverbrauch und CO2-Emissionen steigen weiter an.

Energieprobleme in Deutschland

Vor diesem Hintergrund ist der von Deutschland beschrittene Pfad der Energiewende sicher zu begrüßen, auch wenn er weltweit nichts an der obigen Situation ändert, so hat er doch eine Art Vorbildfunktion für die zukünftigen Energiesysteme anderer Industrie- und Schwellenländer (siehe als Beispiel Guatemala). Wo stehen wir? Produzieren wir genug erneuerbare Energie um weitere Kohle- und Kernkraftwerke abschalten zu können? Dies soll an einigen Beispielen erläutert werden.

Zwar ist der Anteil an der Stromerzeugung aus Wind und Photovoltaik (direkte Nutzung der solaren Strahlung mit Hilfe von Solarzellen) in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, zuletzt auf 25 Prozent. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier zunächst eine gewisse Grenze erreicht zu sein scheint, die aus netztechnischen Gründen nicht überschritten werden kann. Aufgrund der hohen installierten Leistung von zirka 46 Gigawatt kam es in den vergangenen Jahren bereits zu der Situation, dass 60 Prozent der Stromerzeugung aus diesen beiden Quellen kamen. Insgesamt trugen die erneuerbaren Energien mit 30 Prozent zur installierten Leistung bei. Dies entspricht in etwa der installierten Leistung von immerhin fünf Kernkraftwerken!

Im Februar 2012 - während der Kältewelle - kam es jedoch zu einem bedenklichen Engpass im Netz, ein Zusammenbruch des Stromnetzes konnte jedoch nochmal durch Zukauf von Energie, die von ausländischen Kohlekraftwerken geliefert wurde, verhindert werden (Windflaute, bei minus 20 Grad und bewölktem Himmel arbeiten weder Solarzellen noch Wärmepumpen etc.). Ausreichend genug "Schattenkraftwerke", die bei solchen Situationen einspringen, standen nicht zur Verfügung. Man muss nicht gerade den großflächigen Black-Out im Jahr 2012 in Indien zitieren, von dem mehr als 600 Millionen Menschen (ohne Strom!) betroffen waren, oder das Beispiel Kalifornien, um sich ausmalen zu können, was bei uns passieren würde, wenn das Netz mangels ausreichender Energie zusammenbräche.

Hinzu kommt das Problem, dass durch die plötzliche Abschaltung der acht Kernkraftwerke nach der Katastrophe von Fukushima eine Lücke von zirka 8400 Megawatt an grundlastfähiger Leistung entstanden ist, die bisher trotz Zubaus regenerativer Anlagen bis heute nicht vollständig kompensiert werden konnte. Der Ersatz durch moderne Gas-Kraftwerke hat nicht funktioniert, statt dessen wird immer mehr Kohle verbrannt, mit den bekannten Folgen für Klima und Umwelt (in den Jahren 2012 und 2013 sind die Treibhausgasemissionen wieder angestiegen). Investoren, die solche Gas-Kraftwerke bauen wollten, haben sich allesamt aus Deutschland zurückgezogen. Von den 8400 Megawatt konnten (trotz des oben genannten relativ hohen installierten Leistungsanteils) rein rechnerisch bisher nur 8 bis 10 Prozent ersetzt werden, wenn man berücksichtigt, dass die erneuerbaren Energien ja nicht ganzjährig zur Verfügung stehen, sondern nur "vagabundierend". Es verbleibt also eine beachtliche Stromlücke von zirka 90 Prozent, da Angebot und Nachfrage stets zusammenpassen müssen. Diese Balance kann nur mit Hilfe von Importenergie zum Beispiel aus Kernkraftwerken in Frankreich und Tschechien beziehungsweise aus Öl- und Kohlekraftwerken in anderen Ländern ausgeglichen werden. Der Anteil erneuerbarer Energien im System stößt also bereits jetzt an seine Grenzen, eine weitere Erhöhung wäre wegen fehlender Hochspannungsleitungen und Speichermöglichkeiten sehr riskant, wenn man eine hohe Stabilität des Netzes und der Qualität des Stroms auf der Verbraucherseite verlangt. Hinzu kommt, dass es nicht genug sogenannter virtueller Kraftwerke ("Schattenkraftwerke") gibt, die im Notfall einspringen und die Regelung des Netzes übernehmen könnten.

Notwendige Maßnahmen und Korrekturen

Exakte Zahlen anzugeben, bis wann der Transformationsprozess abgeschlossen sein wird, ist pure Scharlatanerie. Klar ist: Technik, Wirtschaft und Verbraucher dürfen nicht überfordert werden, denn das hätte zur Folge dass Fehler gemacht und voreilig falsche Entscheidungen getroffen werden, die später nicht mehr korrigiert werden können (siehe Abschaltung von Kernkraftwerken). Gut gemeinte Absichten verkehren sich dann ins Gegenteil, der Verbraucher merkt das am ständig steigenden Strompreis, der sich unter anderem wegen der Umlagen für Wind, Sonne etc. in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt hat. Die Behebung dieser Engpässe erfordert Zeit (gut zehn Jahre) und lässt sich nicht von heute auf morgen bewerkstelligen. Nicht alles, was derzeit im Zusammenhang mit der Modewelle "Smart-Grid" diskutiert wird, lässt sich in der Praxis umsetzen. Ich persönlich möchte nicht, dass in der Wohnung über mir nachts um 3 Uhr die Waschmaschine anspringt (und jede Menge Lärm und Vibrationen verursacht), nur weil dann der Stromtarif günstig ist und uns sogenannte "intelligente" Systeme vorschreiben, wann wir was machen dürfen und wann nicht.

Es wäre daher mehr als vernünftig, bei der praktischen Umsetzung der Energiewende jetzt eine Denkpause einzulegen, um sich über die künftigen Ziele und Schritte klar zu werden. Es wäre für alle Beteiligten besser, wenn zur Zeit nichts passierte, als dass wir zu hohe Versorgungs- und Preisrisiken eingehen. Die Märkte sind schon heute aus den Fugen geraten. Wirtschaft und Bürger sind in einem Industrieland wie Deutschland auf eine sichere, umweltfreundliche und kostengünstige Energieversorgung angewiesen. Im Gegensatz zum Wärmemarkt, der starken jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen ist, muss Strom über das ganze Jahr konstant geliefert werden - unabhängig von den geschilderten physikalischen Restriktionen, an denen wir nichts ändern können.

Energie-Effizienz - unter diesem Stichwort verbirgt sich ein riesiger Technologiemarkt, der noch gar nicht richtig erschlossen worden ist. Erneuerbare Energien benötigen völlig andere Produktions-, Netz- und Regelstrukturen die noch gar nicht vorhanden sind. Strom kann man

nicht beliebig vorhalten, sondern er sollte auf intelligente Art und Weise angeboten und genutzt werden (verbrauchsarme Geräte, Smart-Grids, Smart-Meter). Das allesamt optimal aufzubauen ist noch weitgehend unklar, jedenfalls sehr komplex und erfordert gewaltige Investitionen, wobei man noch nicht weiß, ob sich das alles aus Kundensicht lohnt. Zwar tut sich hier für die Industrie ein Milliardenmarkt auf, dem Staat, den Kommunen und natürlich den Verbrauchern fehlt allerdings das Geld, die Folgen der Finanz- und Schuldenkrise machen sich hier indirekt bemerkbar. Dezentrale Energiesysteme wären sicher längerfristig wünschenswert, sind jedoch (heute noch) in vielerlei Hinsicht großen, zentralen Versorgungsanlagen in puncto Energieeffizienz (Wirkungsgrad) unterlegen. Moderne Großkraftwerke sollten daher länger betrieben und nicht ohne Not stillgelegt werden (höhere thermodynamische Effizienz, geringere spezifische Schadstoffemissionen, geringerer Investitionsaufwand etc.).

In jedem Land liegen andere natürliche Gegebenheiten vor, demgemäß wird der Transformationsprozess überall anders aussehen. Wir sollten uns hüten, anderen unser Energiewende-Konzept aufschwatzen zu wollen, aus welchen (ideologischen) Gründen auch immer. Es gibt Länder, die schon heute einen wesentlich höheren Anteil an erneuerbaren Quellen im Strombereich haben. Dazu gehören Länder wie Kanada oder Schweden (bis zu 80 Prozent). Selbst diese betreiben Kernreaktoren, sie werden es einfacher haben, die Klimaziele zu erreichen. Laut dem fünften Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC sind 50 bis 85 Prozent an CO2-Minderung nötig, um den globalen Temperaturanstieg auf 2 bis 2,4 Grad zu begrenzen (2-Grad Ziel). Das sollten wir bedenken, wenn wir wahl- und planlos weitere Kernreaktoren vom Netz nehmen, wie es von der Politik vorgegeben wird. Der Weg einer Energiewende bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Kernkraft ist doppelt schwierig, und es sind noch zahlreiche Aufgaben unerledigt.

Atomausstieg und Endlagerfrage

Die beiden größten Probleme, die der deutschen Energiewende im Weg stehen, sind:

1. Die praktische Umsetzung beim Atomausstieg, wo es an allen Ecken und Enden hakt. Man denke nur an die Suche nach einem neuen Endlager, wo überhaupt noch nicht klar ist, in welche Richtung es geht. Im Zwischenlager Brunnsbüttel rosten Fässer mit Atommüll munter vor sich hin.

2. Die Einspeisung größerer Anteile erneuerbarer Energie erfordert den Zubau leistungsfähiger Netze sowie moderner Regeleinrichtungen , die heute noch gar nicht zur Verfügung stehen (von den ehemals geplanten rund 4000 Kilometer Leitungen sind noch nicht einmal 10 Prozent realisiert worden); Bürger werden auch in Zukunft gegen derartige Großprojekte protestieren, zumal vor der eigenen Haustür; daran wird sich so schnell nichts ändern.

Zudem stellen die hohen CO2-Emissionen des Verkehrs ein ungelöstes Problem dar. Selbst wenn einmal wie geplant eine Million Elektroautos auf den Straßen rollen, wird das die Klima-Bilanz nur unwesentlich beeinflussen. Andere Technologien, mit deren Hilfe wir etwas für die Energie- und Klimaprobleme tun könnten, sind wiederum umstritten, weil sie als offenbar zu risikobehaftet eingestuft werden, auch von Teilen der Wissenschaft. Dazu gehören neue Technologien wie das Fracking (Schiefergasförderung) oder die CO2-Speicherung, die bisher über das Pilotstadium nicht hinausgekommen ist. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen . . .

Fazit: Alles in allem wird in Deutschland der Energiewende ein sehr komplizierter und teurer Weg beschritten. Wird er uns in die gewünschte Energiezukunft führen? Mit der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2000 wurde der Neubau regenerativer Stromerzeugungsanlagen massiv gefördert, Geld das für andere (zum Beispiel soziale) Zwecke nicht zur Verfügung stand. Überall wurden Windräder und Solaranlagen in die Landschaft gestellt, eine Koordinierung der Einzelmaßnahmen fehlte. Leider wurden dabei Fehler gemacht, die nun nicht mehr korrigiert werden können. Der Verbraucher hat im Wesentlichen die Last des Aufbaus getragen, indem er treu und brav seine Umlagen für Sonne, Wind etc. bezahlt hat, von denen er aber selbst nicht profitiert hat. Ob das neue EEG hier für die nötigen Korrekturen sorgen wird, bleibt abzuwarten (Abbau der Überförderung, marktkonformere Förderung etc.).

Jetzt ist daher die Zeit für eine Denkpause gekommen. Diese müsste auch dafür genutzt werden, einmal grundsätzlich darüber nachzudenken, wie wir in Zukunft überhaupt leben wollen. Denn von unserem heutigen geld- und konsumorientierten Lebensstil hängt der weitere Verlauf des Energie- und Klimaproblems entscheidend ab. Die junge Generation sollte sich darauf einstellen, das Thema gehört deshalb vor allem in den Schulunterricht wie Deutsch und Mathematik - Verantwortungskompetenz kann nur wahrgenommen werden, wenn man die grundlegenden technischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge dieses Zukunftsthemas wirklich versteht. Wo sonst als in der Schule soll das passieren?