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Am Abend des 12. Dezember 1941 fand in der Metropolitan Opera in New York eine Aufführung von Mozarts "Zauberflöte" statt. Sie wurde geleitet von Bruno Walter, einem jener prominenten europäischen Emigranten, die das Kulturleben der USA immens bereichert haben. Auch im Publikum saß an diesem Abend (mindestens) ein Emigrant, nämlich der Romancier und politische Publizist Klaus Mann.
Magie und Vernunft
Er kannte Bruno Walter schon aus seinen Münchener Kindertagen, weil der Dirigent ein enger Freund seines Vaters, Thomas Mann, gewesen ist. Und so schrieb der begeisterte Schriftsteller dem Musiker nach der Aufführung einen Glückwunsch-Brief, in dem er unter anderem darauf hinwies, dass sich der Opernabend an einem geschichtlich bedeutsamen Zeitpunkt ereignet hatte.
Am 11. Dezember, also einen Tag früher, hatte Hitler-Deutschland den USA den Krieg erklärt und damit - wie Klaus Mann als sicher voraussetzte - sein Ende eingeleitet. Dieser kommende Sieg über den Unrechtsstaat kündigte sich für Klaus Mann in Mozarts Musik an: "Es war schön und sinnreich, diese meisterhafte Aufführung gerade an dem Tag mitzuerleben, der den Untergang des Schandbuben besiegelte. Es ist der Geist der Zauberflöte, kombiniert aus Magie und Vernunft, in dessen Zeichen wir das Scheußliche besiegen müssen."
Diese Beschwörung des "Zauberflöten"-Ethos gegen Hitler, den "Schandbuben", sollte man nicht als wohlfeile Phrase missverstehen. Klaus Mann deutet das Zusammentreffen des Kriegseintritts der USA mit der Opernaufführung als bedeutsames Symbol. Mittlerweile ist Mozarts Freimaurerspiel, "kombiniert aus Magie und Vernunft", ja bei manchen kulturkritisch gestimmten Geistern als frauenfeindliches Männerbund-Machwerk in Verruf geraten, weil der pseudo-edle Herrenmensch Sarastro die matriarchale Königin der Nacht entmachtet und auf den Resten ihres Reiches seine Priesterherrschaft errichtet.
Was auch immer diese Lesart für sich haben mag - einen Enthusiasten wie Klaus Mann hätte sie nicht interessiert. Er bezog aus Mozarts Oper keine Informationen übers Mutterrecht, sondern Ermutigung für sein schwieriges Leben. Nicht zuletzt, weil es eine große Kunst gab, die es zu verteidigen galt, haben ästhetisch empfindsame Intellektuelle wie Klaus Mann die Kraft gefunden, den Kampf gegen ein verbrecherisches Regime aufzunehmen. Das braucht auch im heutigen Rückblick nicht durch kulturwissenschaftliche Bedenklichkeiten relativiert zu werden.
Schön und sinnreich
Selbstverständlich war der älteste Sohn Thomas Manns "gebildet" im traditionellen Sinne des Wortes, d.h. sein Denken war durch Lektüren, Theaterbesuche und andere vielfältige Erfahrungen mit der Kunst geprägt. Deshalb lag es ihm nahe, weltpolitische Ereignisse mit ästhetischen Eindrücken "schön und sinnreich" zu verknüpfen. Und weil er tatsächlich sehr stark im Gelesenen lebte, schickte er dem Dirigenten Bruno Walter "aus Dankbarkeit" noch ein kleines Gedicht mit, das er auswendig konnte. Es stammt von dem deutschen Romantiker Friedrich Freiherr von Hardenberg, genannt Novalis, und lautet:
"Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller Kreaturen / Wenn die, so singen oder küssen, / Mehr als die Tiefgelehrten wissen, / Wenn sich die Welt ins freie Leben / Und in die Welt wird zurückbegeben; / Wenn dann sich wieder Licht und Schatten / Zu echter Klarheit werden gatten, / Und man in Märchen und Gedichten / Erkennt die wahren Weltgeschichten, / Dann fliegt vor einem geheimen Wort / Das ganze verkehrte Wesen fort."
Es ist keine Kunst, diese Verse als anti-aufklärerische Programmschrift zu denunzieren: Das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken in "Zahlen und Figuren" wird abgelehnt, das Wissen der Gelehrten relativiert. Der Vorgang, in dessen Verlauf sich die Welt "in die Welt zurückbegeben" soll, dürfte mit wissenschaftlichen Methoden kaum zu begreifen sein. Und die "echte Klarheit", die in Aussicht gestellt wird, ist - nach Regeln der rationalen Diskursgesellschaft betrachtet - ausgesprochen unklar. Das ist alles unbestreitbar richtig. Aber ist es nicht dennoch einleuchtend, dass ein feinfühliger Mensch in bestimmten Stimmungen seine Freude an einem Gedicht haben kann, das erklärtermaßen auf der Seite derer steht, die singen oder küssen?
Klaus Mann ließ es übrigens mit Opernbesuchen und romantischen Gedicht-Zitaten nicht bewenden. 1942 wurde er amerikanischer Staatsbürger, meldete sich freiwillig in die US-Army, und nahm als Soldat an der amerikanischen Invasion in Italien teil.
Lateinschüler unter sich
Und damit zu einer anderen Episode, die sich ebenfalls während des Zweiten Weltkriegs ereignete. Der britische Reiseschriftsteller Sir Patrick Leigh Fermor berichtet sie in seinem Memoirenband "Die Zeit der Gaben": Fermor war als Major der britischen Armee auf Kreta eingesetzt, und einmal ist es ihm gelungen, zusammen mit kretischen "Guerillas" einen deutschen General gefangen zu nehmen und ins Gebirge zu entführen. Fermor berichtet nicht, wie dieses Heldenstück ausging, denn ihn interessiert daran nur ein einziger Moment, in dem alle Soldaten wie gebannt "einen wunderbaren Sonnenaufgang über dem Kamm des Berges Ida" anschauten.
Was angesichts dieses Naturereignisses in mythologisch bedeutsamer Landschaft weiter geschah, berichtet der Autor mit den Worten: "Der General blickte hinaus auf die blitzende Berglandschaft und murmelte leise: Vides ut alta stet nive candidum Soracte . . . Das war ein Vers, den ich kannte! Ich nahm den Satz auf, wo er ihn abgebrochen hatte: . . . nec iam sustineant onus / Livae laborantes, geluque / Flumina constiterint acuto . . . und so weiter, alle fünf Strophen bis zum Schluss. Die blauen Augen des Generals wandten sich vom Gipfel ab und sahen mich an - und als ich zu Ende gesprochen hatte, nach einer langen Pause, sagte er: Ach so, Herr Major! Das war ausgesprochen seltsam. Als hätte für einen kurzen Augenblick der Krieg aufgehört. Einst hatten wir am gleichen Quell getrunken; und von da an war unser Verhältnis in der Zeit, die wir noch zusammen verbrachten, ein anderes."
Sir Patrick war ein glanzvoller Stilist, aber auch ein Mythologe seiner selbst. Und so nennt er hier weder den Namen des deutschen Generals, noch erklärt er, wie es zu dessen spektakulärer Gefangennahme kommen konnte. Er begnügt sich mit der Beschwörung dieser einen Übereinkunft im Geiste der lateinischen Poesie.
Wer die Wahrheit hinter dieser schönen Geschichte erfahren will, braucht nur beim großen Bruder Wikipedia anzuklopfen, dort steht alles in sachdienlicher Nüchternheit beschrieben: Fermor war natürlich nicht nur ein humanistischer Schöngeist, sondern auch ein Agent des britischen Geheimdienstes, und als solcher entführte er zusammen mit kretischen Partisanen den deutschen General Heinrich Kreipe, der wohl auch nicht nur ein Schöngeist gewesen ist (allerdings galt er als - wenn auch passiver - Gegner der Nationalsozialisten). Als Vergeltung für diese Entführung wurden 176 Kreter ermordet; bis heute erinnert in Kreta ein Gedenktag an diese Repressalie.
Und was bleibt in Fermors Buch "Zeit der Gaben" von dieser Geschichte? Nur "Vides ut alta stet . . .", die winterliche Ode des Horaz, die zunächst den schneeweißen Berg Soracte und die frierenden Wälder und Flüsse besingt, um danach das stille Leben am warmen Herdfeuer zu loben. Sie gehörte über Generationen hinweg zum Pflichtpensum aller Lateinschüler. Zumindest die erste Strophe wurde europaweit auswendig gelernt - weshalb es dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus zu einem Zusammentreffen kommen konnte, wie es Leigh Fermor beschreibt.
"Am gleichen Quell"
Das ist gewiss eine nicht ganz geheure "Begegnung der dritten Art", denn die beiden Offiziere, die sich auf dem gleichsam neu-tralen Gelände der europäischen humanistischen Bildung kurz näher kommen, bleiben ja trotzdem Feinde. Am Fortgang des Krieges ändert ihr lyrisches Einverständnis gar nichts. Wer diese Episode als leicht ranzigen "Officer-and-Gentleman"-Kitsch abtun möchte, kann also nicht mit allzu guten Gründen daran gehindert werden.
Zugunsten des Textes lässt sich aber doch sagen, dass hier zwei verfeindete Männer, ein Deutscher und ein Brite, einen Augenblick lang das Gefühl hatten, "am gleichen Quell getrunken" zu haben. Dieser Quell war nichts anderes als die allen europäischen Kulturen gemeinsame Erinnerung an die antike Tradition. Und wer weiß, ob nicht auch derartige Gefühle zur Versöhnungsbereitschaft der Nachkriegszeit beigetragen haben?
Es wird in unseren Zeiten der entfalteten EU und des nach innen offenen Schengenraumes leicht vergessen, dass das neue (West-)Europa der 1950er Jahre von Menschen erbaut worden ist, die nur wenige Jahre davor noch aufeinander geschossen hatten. Und da konnte die Besinnung auf "gemeinsame Quellen" sehr wohl von Nutzen sein.
Klaus Mann hört die "Zauberflöte", Leigh Fermor zitiert eine lateinische Ode - die beiden Geschichten aus der finstersten Zeit des 20. Jahrhunderts haben bei allen Unterschieden eines gemeinsam: Sie sind geprägt von einem unerschütterlichen Glauben an die Unzerstörbarkeit der großen Kunsttradition, die mit Namen wie Mozart oder Horaz angesprochen ist. Mögen die bösen, schlechten, destruktiven Mächte auch die Welt beherrschen oder gar ruinieren, so vermögen sie doch nichts gegen die ewigen Wahrheiten dieser Kunst!
Dieser Gedanke, der wohl die säkularisierte Version einer religiösen Glaubensgewissheit ist, hat sich mittlerweile eine Reihe von Relativierungen gefallen lassen müssen: Leicht fiel der Nachweis, dass die angeblich "ewigen Wahrheiten" nicht nur zeit-, sondern auch oberschichtspezifisch kodiert sind; und nicht minder geläufig stellte sich der "Eurozentrismus"-Vorwurf ein, der besagt, dass die angeblich so "große" europäische Tradition auf den Ruinen und Gräbern der ausgebeuteten und ausgerotteten indigenen Kulturen der Welt beruht.
Rückzug ins Tagebuch
Alle diese Kritiken tragen einen Kern von Wahrheit in sich, sollten sich aber doch nicht allzu schematisch einstellen, wenn von europäischer Kultur die Rede ist. Denn in Zeiten der Bedrohung und der Bedrängnis hat eben diese Kultur immer wieder ein gewaltiges Ermutigungs- und Tröstungspotential bewiesen. Und diese Kräfte brauchen sich die Liebhaber dieser Kultur auch dann nicht wegnehmen zu lassen, wenn die Bedrohung glücklicherweise gerade nicht in Sicht ist.
Noch ein Beispiel zum Schluss: Der ungarische Romancier und Journalist Sándor Márai zog sich während des Krieges radikal auf sein privates Schreiben zurück. Obwohl er in seiner Heimat ein viel gelesener Autor war, veröffentlichte er von 1943 an nur noch wenig, weil ihm "die melodiöse Márai-Stimme"- sein literarisches Markenzeichen bis heute - angesichts der Zeitverhältnisse einen "Brechreiz" verursachte.
Nach dem Einmarsch der Deutschen im März 1944 stellte der Autor das Publizieren vollends ein: "Aber jetzt muss ich verstummen, mich in dieses Tagebuch, in meinen Roman, ins Schreiben zurückziehen, so wie es mir das Schicksal, das Gewissen, die erzieherische Funktion des Buchstabens gebieten. Es bleibt mir nichts anderes übrig."
Dies schrieb Márai in sein Tagebuch, das er in genau jener Zeit des Rückzugs zu führen begann. In diesen strikt persönlichen Aufzeichnungen umkreist Márai ausdauernd seine prekäre Existenz als Relikt der aussterbenden Bürgerzeit und als vereinsamter Dichter, dessen Leben und Schreiben anderen Maßstäben gehorcht als denen, die bei seinen Zeitgenossen gerade gültig sind.
Dabei berichtet er auch von alten Büchern, die er liest und liebt - und es ist nicht zu verkennen, dass ihm die Botschaften aus früheren Epochen mehr zu sagen haben als die schlechte Gegenwart. Eines dieser Lektüreprotokolle, zwar undatiert, aber offenbar im Jahr 1944 entstanden, bekennt zum Beispiel in aller Knappheit: "Nachts lese ich Shakespeares Sonette. Wie viel mehr ist das doch als ein Weltkrieg! Und diese Sonette haben auch schon einige Weltkriege überstanden."
Zugegeben: Wer der Meinung ist, Sonette - und seien sie auch von Shakespeare - dürften doch nicht ganz so wichtig genommen werden wie ein Krieg, hat das Realitätsprinzip auf seiner Seite. Darüber braucht man nach 200 Jahren Aufklärung nicht zu streiten.
Und dennoch versteht man die viel beschworene "Kraft der Kunst" nur, wenn man es zumindest für möglich - und übrigens auch für statthaft - hält, dass sich die Maßgaben der Wirklichkeit zuweilen ein wenig ins Imaginäre verschieben lassen. Dies zumindest in Gedanken und Texten, und zwar einzig und allein aus subjektiver Neigung.
Hermann Schlösser, geboren 1953, ist "extra"-Redak- teur und Literaturwissenschafter. Zuletzt ist von ihm der Band "Die Wiener in Berlin. Ein Künstlermilieu der 20er Jahre" erschienen (Edition Steinbauer, Wien 2011).
Literatur:Klaus Mann: Briefe und Antworten. Hrsg. von Martin Gregor-Dellin, Spangenberg Verlag, München 1976.Patrick Leigh Fermor: Die Zeit der Gaben. Zu Fuß nach Konstantinopel: Von Hoek van Holland an die mittlere Donau. Der Reise erster Teil. Aus dem Englischen von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2007.Sandor Márai: Literat und Europäer. Tagebücher 1. Aus dem Ungarischen von Akos Doma. Piper Verlag, München 2009.