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Plädoyer gegen die Unerbittlichkeit

Von Walter Hämmerle

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Beim Umgang mit rhetorischen Tabubrüchen regiert die Willkür. Das ist gleich aus mehreren Gründen schlecht.


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Wie umgehen mit rhetorischen Tabubrüche von politischen Funktionsträgern? Es gibt einfachere Gegenstände für eine öffentliche Debatte.

Das beginnt schon mit der Wertigkeit des Tabubruchs, schließlich gibt es - wer wollte es bestreiten? - auch hier Solche und Solche. Bei Antisemitismus und Nationalsozialismus fällt eine Antwort noch leicht: Diese stehen mittlerweile (das war ja nicht immer so) ganz oben auf jener Liste von "Never-never-to-dos". Aber dann wird es schon komplizierter, um nicht zu sagen: irgendwie willkürlich. Ist es von Bedeutung, wer den Tabubruch begeht - oder anders gefragt: Sind vor der öffentlichen Empörung alle gleich? Ist es ein Unterschied, ob ein älterer weißer Mann einen sexistischen oder rassistischen Witz macht oder eine jüngere Frau, und wie ist das bei Migrationshintergrund? Wie ist das bei Linken und Sexismus und Rechten und Rassismus?

Ist das geklärt, geht es um die Botschaft selbst: Ist eine sexistische Herabwürdigung weniger schlimm, gleich schlimm oder schlimmer als eine rassistische? Wo stehen andere einschlägige Zielgruppen wie Behinderte oder Schwule? Und was ist mit schweren, aber diffuseren Beleidigungen?

Die große Frage lautet: Ist jeder dieser Tabubrüche gleich schwerwiegend? Und wenn nicht: Wer sitzt in der Jury, die darüber entscheidet, wer von allen Ämtern und Funktionen zurücktreten muss und bei wem auch eine halbwegs glaubwürdige Entschuldigung ausreicht?

Objektivität ist hier ein schönes Ziel, aber unmöglich. Alles ist relativ, und nirgendwo wird das deutlicher als bei Ahndung von Tabubrüchen. Das ist unbefriedigend, weil es zum Gefühl beiträgt, dass es sich manche richten können und andere nicht. Das zeigt sich gerade beim Umgang mit einem Wiener SPÖ-Bezirksrat, der gegen die ÖVP-Generalsekretärin flegelte und der von der eigenen Partei erst kategorisch zum Rücktritt aufgefordert wurde und jetzt doch pardoniert wird.

Richtig oder falsch? Eher richtig, jedenfalls dann, wenn dieser Maßstab auch für ähnlich gelagerte künftige Fehltritte anderer gilt.

Warum? Der Versuch einer Erklärung: Die Unerbittlichkeit von öffentlichen Personen im Umgang mit öffentlichen Personen wirkt abschreckend für alle Außenstehenden. Weil es hier eben keine objektiven Maßstäbe gibt, wird diese nicht Ausweis des Bemühens um höhere Moral gewertet, sondern schlicht als Fortsetzung der politischen Auseinandersetzung mit den Mitteln der moralischen Empörung. Vielleicht nicht immer, aber ziemlich sicher sehr, sehr oft.

Und dann hat sich noch etwas Gravierendes verändert: die öffentliche Arena. Einst reichte es, wenn man seine Worte bei öffentlichen Auftritten und Reden mit Bedacht wählte, alles andere war im Off des Privaten. Das ist vorbei. Grundsätzlich muss sich jede öffentliche Person bewusst sein, dass alles, was sie tut und sagt, eine öffentliche - und damit politische - Wirkung entfalten kann. 50 Jahre nach der 68er-Bewegung ist ihre Forderung, wonach das Private auch politisch werden soll, tatsächlich Wirklichkeit geworden.

Das ist kein Sieg, worüber man sich freuen sollte.