"Es scheint fast, als hätten wir alle sechs Monate einen neuen Mars vor uns", kommentierte eine US-Wissenschaftlerin die Bilder und Daten, die ihr zur Zeit auf den Tisch flattern. Sie sorgen für widersprüchliche Interpretationen. Manche Marsforscher zeichnen damit das Porträt einer einst recht "idyllischen" Welt mit wärmeren Temperaturen, mit Regenfällen, Flüssen, Seen und Meeren. Andere leiten daraus Belege für einen stets eiskalten und trockenen Wüstenplaneten ab, der bestenfalls flüchtige Episoden mit Wasserreichtum kannte.
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Der rote Nachbar ist im Durchmesser halb so klein wie die Erde. Seine Fläche entspricht damit gerade jener der irdischen Kontinente zusammengenommen. Trotz der bescheidenen Dimension wartet er mit Superlativen auf: er nennt das größte Einschlagsbecken, den eindrucksvollsten Canon und die mächtigsten Vulkane im ganzen Sonnensystem sein Eigen. Das größte Manko: die Atmosphäre ist überaus dünn. Ihr Druck erreicht nicht einmal ein Hundertstel des irdischen Werts. Flüssiges Wasser kann sich an der Oberfläche deshalb höchstens kurz halten. Vor Jahrmilliarden scheint die "Lufthülle" allerdings dichter gewesen zu sein.
Gratisproben
Es ist Detektivarbeit, das Antlitz des frühen Mars aus den heute erkennbaren Spuren zu rekonstruieren. Als hilfreicher Assistent fungiert der Mars Global Surveyor, kurz "MGS". Seit dreieinhalb Jahren untersucht die NASA-Sonde nun die rotbraune Oberfläche vom Orbit aus, hat über 70.000 Detailaufnahmen zur Erde gefunkt. Auflösung: 1 bis 2 m. Mitgeschickt wurde noch eine halbe Milliarde ebenso exakter Höhenmessungen, mittels Laserstrahlabtastung gewonnen.
Die von MGS entdeckten, oft eigentümlichen Landschaftsformen werden immer wieder mit ähnlich aussehenden auf der Erde verglichen. So will man hinter deren Entstehung kommen. Außerdem erlaubt das MGS-Spektrometer Aussagen über die Zusammensetzung des Marsgesteins. Bestimmte Mineralien leuchten für die künstlichen Augen des Spähers in unterschiedlichen Farben.
Während man kostspielige Pläne ventiliert, wie man in paar Jahren Marsgestein zur Erde holen könnte, halten Wissenschaftler derartige Proben wahrscheinlich bereits in Händen. Katastrophale Einschläge von Asteroiden oder Kometen haben einst Material von der Oberfläche des Mars ins All geschleudert. Einer Schätzung zufolge gehen davon jährlich etwa tausend kg auf der Erde nieder. Man findet leider nur einen Bruchteil. Von den über 25.000 bekannten Meteoriten werden heute bloß zwei Dutzend der Nachbarwelt zugeordnet. Man nennt sie "SNCs". Die Häufigkeit der darin eingeschlossenen Gase entspricht jener, die die beiden Viking-Sonden vor genau 25 Jahren in der Marsatmosphäre ermittelten; ein guter, wenngleich nicht völlig unumstrittener "Vaterschaftstest".
Paradox
Alle bekannten SNCs sind Produkte vulkanischer Prozesse. Der Meteorit Nakhla landete 1911 nahe der ägyptischen Stadt Alexandria. Er entstand vor 1,2 Milliarden Jahren. SNC Shergotty, gefallen 1865 in Indien, ist erst 180 Mio. Jahre alt. Die Proben sind extrem "trocken", wasserarm. Doch zur Bildung des im Shergotty enthaltenen Minerals Pyroxen, so eine aktuelle Studie, muss das gesteinsbildende Magma einen Wasseranteil von rund 2 Prozent gehabt haben. Um dieses Paradox zu beseitigen, lässt man Magma beim Aufstieg aus dem Marsinneren zunächst eine Schicht mit wasserstoffhaltigen Mineralien passieren. Der Wasserstoff wird aufgelöst. Nahe der Oberfläche verschwindet das Wasser wieder - Dampfblasen steigen auf, als würde man eine Sodawasserflasche öffnen.
Kohlendioxid baut 95 Prozent der Marsatmosphäre auf. In irdischer Luft ist es mit einem Anteil von 0,3 Promille nur Spurengas. Wieso fallen die Gashüllen zweier Nachbarplaneten so unterschiedlich aus ? Ein Grund hierfür ist der günstigere Sonnenabstand unseres Planeten: Bei höheren Temperaturen kondensierte Wasserdampf in der Lufthülle; es regnete, eine Hydrosphäre entstand. Die Ozeane banden das zunächst reichlich vorhandene Kohlendioxid in Form von Karbonaten, die sich als Sediment am Meeresboden ablagerten.
Das nördliche Drittel des Marsglobus ist recht arm an Einschlagskratern, offenbar jünger als der höher gelegene Südteil des Planeten. Es ist überraschend flach, lädt geradezu ein, es als Heimat eines ehemaligen Marsmeeres zu betrachten. Wenn es dieses vor vielleicht 3,8 Milliarden Jahren gab, müssten sich dort eigentlich auch Karbonatablagerungen finden. MGS suchte sie vergebens. Vielleicht fehlt seinem Spektrometer bloß die nötige räumliche Auflösung. Die Sonde hätte, so wurde eingeworfen, wohl auch die Karbonatschichten im amerikanischen Grand Canyon übersehen.
Ein ehemaliger Ozean sollte natürlich auch Küstenlinien hinterlassen haben. Ende 1999 glaubten Experten, ihr Profil aus MGS-Höhenmessungen herauslesen zu können. Doch gerade die interessantesten Kandidaten, so widersprachen jüngst andere Forscher, dürften nur das Resultat von Stress in der Marskruste sein. Umgekehrt machte man im SNC Nakhla Salze aus, die jenen in irdischen Meeren ähneln. Sind sie der "letzte Gruß" eines alten, salzigen Marsozeans ?
Rostproblem
Zu Sommerbeginn 2001 dominiert Mars den Himmel. Gegen Mitternacht ist er dann hellster Lichtpunkt. Nicht allzu hoch über dem Südhorizont erkennen wir ihn an seinem charakteristischen, gelbroten Glanz. Dieser ließ Griechen und Römer einst an Feuer und Blut denken, machte den Planeten zum Sinnbild des Kriegsgottes Ares bzw. Mars. Die Farbe erinnert aber auch an Rost. Ist sie vielleicht schon Hinweis auf ehemaligen Wasserreichtum ?
Tatsächlich rostete Mars, ähnlich einem alten Nagel auf der Erde. Eisenhaltige Verbindungen im Marsgestein oxidierten. Der resultierende rote Staub ist allgegenwärtig. Er färbt den Marshimmel rosarot und verleiht den hellweißen Polkappen aus gefrorenem Kohlendioxid und Wassereis einen zart gelblichen bis rosafarbigen Stich. Doch zur Entstehung dieser Eisenoxide reicht womöglich bereits die Reaktion des Gesteins mit Spuren von Sauerstoff und Wasserdampf in der Marsatmosphäre.
Mehr Wasser ist nötig, um den grobkörnigen grauen Hämatit, ebenfalls ein Eisenoxid, zu bilden. Man findet ihn auf Erden unter anderem in heißen Quellen. Auf Mars erspähte ihn MGS in einer 500 km weiten Region nahe dem Äquator; durch diese dunkle Meridianbucht hatten Fernrohrbeobachter 1840 den Nullmeridian auf dem roten Planeten gezogen. Paradoxerweise stieß MGS auch auf Olivin-Vorkommen. Das grünliche Mineral verwittert leicht, spricht wiederum gegen eine feuchte Vergangenheit des Mars - es sei denn, der Olivin wäre relativ jung.
Stufenförmige Ablagerungen, die an die Böden ausgetrockneter Seen erinnern, sorgten im Vorjahr für Aufregung. Zuflüsse fehlen eigentümlicherweise. Doch MGS stöberte sie in Schluchten und in Kratern auf, also genau dort, wo sich Wasser sammeln würde. "Vom Winde verweht", winken Kritiker ab. Wind ist die heute prägendste Kraft auf Mars, peitscht mit bis zu 145 km/h über die Landschaft und hüllt manchmal sogar den ganzen Planeten in Staubschleier. Durch Klimaveränderungen zyklisch an- und abschwellend, könnte Sturm, nicht Wasser, das Material der vermeintlichen Seeböden abgelagert haben.
Ähnlich kontrovers ist die Erklärung der frisch anmutenden "Gullies", die MGS an Hängen in Schattenlage ausgemacht hat. Diese Rinnen beginnen jeweils etwa 100 m unter dem Gipfel und könnten glauben machen, jemand hätte dort den Inhalt von ein paar Dutzend großen Schwimmbecken ausgeleert. Möglicherweise hat sich Wasser im Marsuntergrund gesammelt, bis es nur noch von einer letzten Eisbarriere am Austritt gehindert wurde. Als das Eisschott am Hang brach, ergoss sich der Wasserschwall in die Tiefe.
Der Marsboden ist von zahlreichen Meteoriteneinschlägen zerrüttet worden, besitzt Klüfte und Hohlräume. Darin existieren wahrscheinlich ausgedehnte Wassereis-Reservoirs. Doch auch gefrorenes Kohlendioxid könnte im Boden gefangen sein. Unter bestimmten Bedingungen mag es der Druck des darüber liegenden Gesteins verflüssigen. Vielleicht trat flüssiges Kohlendioxid aus den Hängen aus, kühlte dabei wieder ab und donnerte wie eine Schneelawine zu Tal. Dann hätten selbst die "Gullies" nichts mit Wasser zu tun.
1.000 Mississippis
Mehr als 30 km betragen die Höhenunterschiede auf Mars. Er zeigt zwei Gesichter: Ausgedehnte Tiefebenen prägen den Norden, ältere basaltische Hochländer den Süden und die Äquatorregion. Die Hochländer entstanden vor gut 4 Milliarden Jahren. Der gewaltigste Vulkankomplex ist die Tharsis-Aufwölbung. Durch eine Schwächezone in der Marskruste stiegen unvorstellbare Magmamengen auf. Sie formten eine Beule mit 5000 km Durchmesser und 10 km Höhe.
Am Scheitel thronen drei riesige Schildvulkane, die ihresgleichen im Planetensystem suchen: Arsia Mons, Pavonis Mons und Ascraeus Mons, 15 bis 19 km hoch. Lavaströme, jeder einzelne mächtig wie ein Hochhaus, bauten diese Gebilde nach und nach auf. Im Gipfelkrater des Arsia Mons könnte man beinahe ganz Oberösterreich unterbringen. Etwas abseits des Trios ragt Olympus Mons sogar 22 km in den Himmel empor. Sein Schild hat die dreifache Fläche Österreichs.
Irdische Vulkane würden auf Mars lächerlich wirken. Und auch der Grand Canyon verlöre seinen Zauber. Das monumentalste aller Schluchtsysteme heißt Valles Marineris. Es ist 4000 km lang, 240 km breit, 7 km tief und auffallend geradlinig. Im Gegensatz zum irdischen "Brüderchen" fräste es kein Fluss, keine Marsversion des Colorado River ins Gestein; vielmehr provozierte wahrscheinlich die Aufwölbung der angrenzenden Tharsis-Region den Rekordriss in der Kruste.
Hingegen dürften andere Täler in den Hochebenen tatsächlich von Wasser geformt worden sein. Diese beginnen recht unvermittelt, erreichen rasch die volle Breite - manchmal über 100 km - und münden schließlich in ein nördlich gelegenes Becken. Die darin beobachteten Erosionsformen erzählen von schier unglaublichen Kräften. Salopp gesagt, müssen jeweils "mehrere tausend Mississippis" hindurch geströmt sein; mit Geschwindigkeiten bis zu 360 km/h. Man stelle sich einmal jenes Wasservolumen vor, das die Donau innerhalb von drei Tagen durch Wien schleust - die gleiche Menge schaffte ein Marsstrom offenbar in jeder Sekunde.
Konventionelle Flüsse wirken angesichts solcher Dimensionen wenig plausibel. Die meisten Forscher denken eher an gigantische Sturzfluten, die immer nur ein paar Monate lang tobten. Vulkanische Aktivität hat offenbar wiederholt Unmengen Eis im Boden geschmolzen und als Wasser ausgetrieben. Die Fluten folgten dem Gefälle, rissen Felsen und Geröll mit sich, stemmten sich geradezu brutal durch die Landschaft.
Passagier
Die Kombination von Wasser und Wärme, wie sie in der Nähe von Vulkanen existierte, könnte Nieschen für die Entwicklung von Leben geschaffen haben. Dort wäre die Suche nach Spuren ehemaliger Organismen besonders spannend. Die mutmaßlichen Fossilien im Marsmeteoriten ALH84001 sind ja auch 5 Jahre nach ihrer Entdeckung höchst umstritten. Mikrobiologen fanden sie unmöglich klein und die Universität Greenwich behauptete im Vorjahr sogar, man könne ähnliche Strukturen in jedem Chemielabor herstellen.
Andererseits stieß ein Wissenschaftlerteam im selben SNC jüngst auf Ketten winzigster Magnetit-Kristalle. Ganz ähnliche Kristalle werden auch von bestimmten irdischen Bakterien produziert; sie verwenden das Eisenoxid als Kompass. Einen nichtbiologischen Prozess, der exakt Gleiches hinterlässt, kennt man bisher nicht - was freilich nicht ausschließt, dass ein solcher doch existiert. Als zwingender Beweis für einstige Marsbakterien gehen somit auch die Magnetit-Ketten nicht durch.
ALH84001 war 16 Millionen Jahre vom Mars zur Erde unterwegs. Die interplanetare Reise kann aber auch sehr viel rascher absolviert werden. Da die beiden Nachbarplaneten offensichtlich Materie in Form von Meteoriten austauschen, mag Leben einst sogar als "blinder Passagier" gekommen sein; von der Erde zum Mars oder vom Mars zur Erde.
Oasen
Auf den ersten Blick scheinen alle Marsvulkane erloschen. Doch kaum jemand wird das beschwören. Wenn zwischen Eruptionen Jahrzehnte liegen, wäre uns die Aktivität schlicht entgangen. In diesem Fall könnte es noch immer warme Nischen für Organismen geben - geheime Oasen auf dem Wüstenplaneten.
Die NASA hat Mars jedenfalls Priorität eingeräumt. Am 7. April startete sie einen neuen Späher. Mars Odyssey wird im Oktober in die Umlaufbahn um den rätselhaften Nachbarn einschwenken. Mit bisher unerreichter Auflösung soll er zweieinhalb Jahre lang die Zusammensetzung der Oberfläche analysieren, Wasserstoff - und damit Eis - bis in eine Tiefe von einem Meter nachweisen. Wenn es noch heiße Quellen auf Mars gibt, könnte er sie finden.
30 Sonden haben sich seit 1960 auf den Weg gemacht. Fast zwei Drittel davon scheiterten - auch die letzten beiden NASA-Roboter. Schon deshalb darf man der 4,5 Milliarden Schilling teuren Odyssey-Mission Glück wünschen. Vielleicht wird sie einige Widersprüche in unserem Bild vom Mars auflösen.