Das Bundes-Verfassungsgesetz sieht zu Recht vor, dass das Primat über Gesetzesbeschlüsse beim Nationalrat liegt.
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In jeder Gemeinschaft müssen Entscheidungen getroffen werden; und Entscheidungen treffen heißt Macht ausüben. In einer kleinen Gruppe, im Freundeskreis ist es relativ leicht, Macht gerecht zu verteilen, weil man alle Betroffenen an Entscheidungen beteiligen kann. Je größer die Zahl der Betroffenen ist, umso schwieriger wird es, alle an allen Entscheidungen zu beteiligen. Es entsteht eine Machtpyramide mit einer Person (oder einigen wenigen Personen) an der Spitze, einigen weiteren Machthabern in der Nähe der Spitze und einem Sockel mit immer weniger oder gar keiner Macht, je weiter man sich der Grundfläche der Pyramide nähert.
Und je größer die Zahl der Betroffenen und je komplexer eine Gesellschaft ist, umso schwieriger ist es sicherzustellen, dass sich die Spitze der Machtpyramide von der Basis nicht allzu weit entfernt; dass also die Willensbildung auf Basis entsprechender Spielregeln und unter Bedachtnahme auf möglichst viele Betroffene und deren Interessen erfolgt. Gleichzeitig wird der Schutz von Minderheiten immer wichtiger.
Repräsentative Demokratie am Ende einer langen Entwicklung
Es hat sehr, sehr viele Modelle und Entwicklungsstadien in der menschlichen Gesellschaft gegeben, mit dem Ziel, diesen Anforderungen zu entsprechen. Das beste Modell, bei dem die Entwicklung der politischen Systeme angelangt ist, stellt zweifelslos die konstitutionelle parlamentarische Demokratie dar. Wir wissen, dass diese nicht eines Tages und plötzlich vom Himmel gefallen ist. Es war vielmehr ein jahrhundertelanger Prozess, in dem dieses System der parlamentarischen Demokratie in Konkurrenz mit anderen politischen Modellen und geleitet vom Gedanken der Gleichwertigkeit und der gleichen Menschenwürde aller Menschen in einer beträchtlichen Anzahl von Staaten - aber noch lange nicht in allen - entstanden ist.
In Österreich hat dieser Prozess real um das Jahr 1848, also vor fast 170 Jahren, begonnen (in Frankreich vor fast 230 Jahren und in England noch früher).
Kernpunkte der parlamentarischen Demokratie sind:
die Wahl eines parlamentarischen Vertretungskörpers aufgrund eines allgemeinen und gleichen Wahlrechtes (mit mehreren Varianten für die Ausgestaltung des Wahlrechtes);
eine Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung, Vollziehung und Gerichtsbarkeit;
das Rechtsstaatlichkeitsprinzip, wonach die Verwaltung an Gesetze gebunden ist;
die Geltung von Grund- und Freiheitsrechten;
die Rücksichtnahme auf Minderheiten;
der friedliche Machtwechsel.
Verfassung sieht plebiszitäre Elemente vor
Dieses Demokratiemodell ist - wie der britische Staatsmann Winston Churchill in Kenntnis des Phänomens der Demokratie- und Politikverdrossenheit einmal sarkastisch gemeint hat - das schlechteste Modell, mit Ausnahme aller anderen. Die Ersetzung des Systems der repräsentativen parlamentarischen Demokratie durch ein System der plebiszitären Demokratie würde - wie niemand ernsthaft bestreiten kann - nicht funktionieren und einen modernen Staat in die Unregierbarkeit stürzen.
Daher stellt sich die Frage, ob es zur Qualität eines parlamentarischen Systems beitragen kann, wenn es in wohlüberlegter Weise durch Elemente der direkten (plebiszitären) Demokratie ergänzt wird. Die österreichische Bundesverfassung bejaht diese Frage in vorsichtiger Weise. Zum Unterschied von der deutschen Verfassung oder auch der Verfassung der USA sind in Österreich plebiszitäre Ergänzungen der parlamentarischen Demokratie vorgesehen. Und zwar durch das Volksbegehren, die Volksbefragung und die Volksabstimmung.
Das Volksbegehren ist eine plebiszitäre Gesetzesinitiative, die zu einer parlamentarischen Beratung zwingt. Die Volksabstimmung schafft die - von einer Minderheit nicht erzwingbare - Möglichkeit, einen Gesetzesbeschluss des Nationalrats durch eine plebiszitäre Entscheidung zu bestätigen oder zu verwerfen. Und eine Volksbefragung zu einer Frage von grundsätzlicher oder gesamtösterreichischer Bedeutung aus dem Aufgabenbereich der Bundesgesetzgebung kann vom Nationalrat unter bestimmten Voraussetzungen beschlossen werden.
Ohne Beschluss im Nationalrat gibt es kein Gesetz
Alle diese Elemente der direkten Demokratie sind in Österreich bereits praktiziert worden und lassen die Grundpfeiler der parlamentarischen Demokratie österreichischer Prägung unberührt. Sie könnten noch in diese oder jene Richtung modifiziert werden, ändern aber nichts an der Tatsache, dass das Parlament der zentrale Ort der parlamentarischen Demokratie ist und kein Gesetz in Gültigkeit erwachsen kann, das nicht auch die Zustimmung einer ausreichenden parlamentarischen Mehrheit gefunden hat.
Diese rote Linie wird zweifellos überschritten, wenn in unser Bundes-Verfassungsgesetz, das 1920 einstimmig beschlossen wurde und 1945 einstimmig wieder in Kraft gesetzt wurde (und das mehrfach verfassungskonform novelliert wurde), folgendes System eingebaut wird: Eine Gruppe von Proponenten einigt sich im Sinne ihrer Interessen auf eine Gesetzesinitiative, die bei Erfüllung bestimmter Mindestvoraussetzungen zu einem Volksbegehren führt.
Wenn das Volksbegehren von etwa 10 Prozent der Wahlberechtigten - also einer deutlichen Minderheit der Bevölkerung - unterstützt wird, sind die Initiatoren dieses Volksbegehrens in einer stärkeren Position als die Mehrheit der gewählten Abgeordneten, denn bei der anschließenden parlamentarischen Beratung kann das Volksbegehren gegen den Willen der Initiatoren weder abgelehnt noch abgeändert werden, ohne dass eine Volksabstimmung über den von den Initiatoren verfassten Text durchgeführt wird. Auch wenn eine große Mehrheit im Nationalrat den Text für inakzeptabel hält; auch wenn wohlbegründete Abänderungsvorschläge eingebracht werden; auch wenn vernünftige Kompromissvorschläge am Tisch liegen, können die Initiatoren des Volksbegehrens Abänderungen ablehnen und eine Volksabstimmung erzwingen.
Die weitere Vorgangsweise ist eine Ja-Nein-Abstimmung über den Gesetzesantrag, ohne Rücksicht auf die Frage, ob es nicht bessere und gerechtere Lösungen zu bestimmten Themen gäbe. Natürlich kann man in dieses System noch gewisse "Entschärfungen" einbauen, indem man vorher prüfen lässt, ob solche Initiativen nicht verfassungswidrig sind oder das Gleichgewicht im Staatshaushalt gefährden, etc.
Soll die Minderheit gegen die Mehrheit bestimmen können?
Aber abgesehen davon, dass das Budgetrecht sozusagen zu den Urrechten des Parlaments zählt und es daher nicht unproblematisch wäre, eine Entscheidungsbefugnis über das Gleichgewicht im Staatshaushalt von einem außerparlamentarischen Gremium prüfen zu lassen, geht es hier um eine Grundsatzfrage.
Soll es einen Gesetzgebungsstrang geben, bei dem ein Weg von Initiatoren, die niemandem verantwortlich sind, bis ins Bundesgesetzblatt auch ohne Zustimmung der Mehrheit des Nationalrates gegangen werden kann, oder nicht? Die Bejahung dieser Frage würde nicht nur eine Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung bedeuten, sondern müsste von allen politisch relevanten Kräften getragen - oder eben nicht getragen - werden.
Als überzeugter Anhänger der parlamentarischen Demokratie wünsche ich mir, dass dieses Modell, das dem (ohnehin schon starken) Populismus, der Emotionalisierung der Politik und dem Einfluss der größten Schlagzeile Scheunentore öffnen würde, in Österreich nicht mehrheitsfähig ist.
Heinz Fischer wurde 1938 in Graz geboren. Von 2004 bis 2016 war er österreichischer Bundespräsident. Davor war er ab 1971 Abgeordneter der SPÖ zum Nationalrat (ab 1975 Klubobmann), von 1983 bis 1987 Wissenschaftsminister und von 1990 bis 2004 zunächst Erster und dann Zweiter Nationalratspräsident.