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Plötzlich Held und Heldin sein

Von Simon Rosner

Wirtschaft

Die Corona-Krise definiert die Leistungsdebatte neu. Auf einmal erhalten Arbeitnehmerinnen Wertschätzung, die sie sonst kaum bekommen. Und im Namen der Gerechtigkeit ertönt der Ruf, diese Jobs aufzuwerten. Aber wie?


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Die Straßen: weitgehend leer. Geschäfte: fast alle dicht. Die Restaurants, Bars, Cafés: geschlossen. Österreich ist seit Wochen im Minimalbetrieb, umso mehr fällt das Licht dann auf jene Bereiche, die diesen Betrieb noch aufrechterhalten. Es sind Bereiche der Wirtschaft, die in die Daseinsvorsorge fallen, wie etwa Müllabfuhr, Post, Pflege und öffentlicher Verkehr. Oder sie befriedigen die Grundbedürfnisse der Menschen, also die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, wie Lebensmittel, Drogerieprodukte und Medikamente. Den Beschäftigten in diesen Bereichen wird in diesen Tagen große Aufmerksamkeit zuteil.

Auch das zeigt, wie ungewöhnlich diese Zeiten sind. Denn es sind vor allem Berufe, die sonst auf wenig öffentliche Wertschätzung stoßen, sondern eher als Synonym für schlechte Jobs herhalten müssen: Erntearbeit, Schlachthöfe, Supermarktverkäuferinnen, Lieferdienste. Es sind Branchen, in denen viele gering qualifizierte Personen arbeiten, viele Frauen, viele atypisch Beschäftigte, viele Ausländer. Viele Menschen, die sich in der Gehaltspyramide im Erdgeschoß wiederfinden. Ihnen wird nun von Fenstern aus kollektiv applaudiert. Und zwar europaweit.

Auf einmal sind diese Arbeitskräfte, über die sich oftmals Beschwerden ergießen ("Was ist mit dem Bus, bitte!? "Warum liegt das Paket beim Nachbarn?", "Zweite Kassa!!!") zu "Heldinnen des Alltags" geworden. So wurden sie mehrfach von der Regierungsspitze abwärts bezeichnet. Die Verkäuferinnen im Supermarkt werden von ihren Arbeitgebern Boni erhalten, und die Regierung hat diese auch steuerfrei gestellt. Der Dank wird zumindest bei einem Teil dieser Beschäftigten auch monetarisiert. "Das muss sich aber nachhaltig auswirken und sollte nicht vergessen werden", sagt Barbara Teiber, Chefin der Gewerkschaft der Privatangestellten. "Es braucht einen Niederschlag in den Löhnen."

Gedanken wie diese werden auch anderswo aufgeworfen. Der Fokus mag derzeit auf der Bekämpfung der Virusverbreitung liegen, doch in etlichen Ländern hat sich auch schon eine Diskussion über die "Zeit danach" entsponnen, darüber, ob es denn gerecht sei, dass ausgerechnet in den Branchen, die für die basale Versorgung so essenziell sind, relativ niedrige Löhne gezahlt werden und die Arbeitsbedingungen unattraktiv sind. Die Arbeiterkammer hat diese Arbeitskräfte bereits als "wahre Leistungsträger" tituliert und zudem die Forderung von "kräftigen Lohn- und Gehaltserhöhungen" erhoben.

Wer Leistungsträger sind, ist politisch umstritten

Diese grundsätzliche Debatte ist nicht neu. In der Politik wird der Begriff der Leistung seit vielen Jahren bemüht und interpretiert. Er war stets umstritten und ist es heute noch. Aus Parteiprogrammen der SPÖ lässt sich bis in die späten 1980er-Jahre die innere Distanz der Sozialdemokratie zu diesem Begriff herauslesen, wenn darin die "individualistische Ideologie der Konsum- und Leistungsgesellschaft" als Bedrohung ausgemacht wird. Ende der 90er war das Befremden verschwunden und die Idee der "solidarischen Leistungsgesellschaft" programmatisch festgeschrieben.

In der österreichischen Innenpolitik spielte dieser Begriff zuletzt im Nationalratswahlkampf 2017 eine größere Rolle, als sich das Land am Ende einer Phase der zähen Wirtschaftsentwicklung mit hoher Arbeitslosigkeit befand. "Wir arbeiten für leistungsgerechte Steuern" und ein "System, in dem sich Leistung lohnt", hieß es damals. Und zwar von der SPÖ unter dem damaligen Kanzler Christian Kern.

Die Forderungen der ÖVP unter Sebastian Kurz klangen nicht viel anders: "Wer arbeitet und Leistung erbringt, darf nicht der Dumme sein" sowie "Wer Leistungen beziehen will, muss zuerst Leistungen erbringen". Der Unterschied lag weniger an den Slogans, als an den Gruppen, die angesprochen werden sollten. Denn wer diese Leistungsträger sind, und wer deren Interessen vertritt, ist eine Definitionsfrage. Es geht dabei um die steuerliche Last und den gesellschaftlichen Beitrag, den die sogenannten "Leistungsträger" schultern würden.

Die Steuerungsmöglichkeiten des Staates

Diese Frage wird nun unter anderen Gesichtspunkten diskutiert, nämlich einer vermutlich doch tiefgreifenden Erfahrung der Gesellschaft, wer in Zeiten der Krise und eines "Minimalbetriebs" die Versorgung aufrechterhält. Es wird offensichtlich von vielen als ungerecht empfunden, dass ausgerechnet die schlecht bezahlten Arbeitskräfte ihre Gesundheit riskieren müssen, während zum Beispiel auch diese Zeilen im Homeoffice getippt werden.

Ob dies nur eine momentane Regung ist oder diese Diskussion tatsächlich auch nachhaltig geführt werden wird, ist noch nicht absehbar. Interessant ist, dass sich die Debatten in vielen Ländern (wie auch der Applaus aus den Fenstern) ähneln. Was jedoch sicher ist: Es wäre gar nicht so leicht, diese (gefühlte) Ungerechtigkeit zu beseitigen. Und das, obwohl die Politik viele Instrumente dafür in der Hand hätte.

Ein gar nicht so geringer Teil dieser "Heldinnen des Alltags" sind öffentlich Bedienstete, sie arbeiten im Gesundheitsbereich, in der Sozialwirtschaft, bei der Feuerwehr und der Polizei. "Wo der Staat eine zentrale Rolle hat, ist es stärker eine politische Frage", sagt der Ökonom Thomas Leoni vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Der öffentliche Sektor könnte die Gehälter grundsätzlich recht einfach erhöhen, allerdings müsste das auch von jenen akzeptiert werden, die dem Staat das Geld dafür geben - den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern. Höhere Ausgaben für Pfleger, Müllabfuhr und Polizistinnen verlangen auch höhere Steuereinnahmen oder führen zu einem größeren Budgetdefizit.

Höhere Löhne verteuert auch die Dienstleistung

"In anderen Bereichen ist es eine rein privatwirtschaftliche Angelegenheit", sagt Leoni. "Und es gibt einen starken Marktmechanismus." Das bedingt, dass einfache Arbeit, die viele Menschen leisten können, schlechter bezahlt ist, als es hochqualifizierte Tätigkeiten sind. Auch wenn die einfache Arbeit oft härter, gefährlicher und unangenehmer ist. Um diesem Marktmechanismus Grenzen zu setzen, gibt es diverse Werkzeuge für die Politik, etwa Arbeitszeitgesetze oder Mindestlöhne. In Österreich werden diese kollektivvertraglich zwischen Wirtschaftskammer und Gewerkschaft verhandelt. In diese Richtung geht auch die Forderung der Arbeiterkammer.

Das Problem dabei: Wenn die Arbeitskosten in diesen Branchen steigen, muss das auch mitgetragen werden. "Oder es werden eben weniger Leistungen nachgefragt", sagt Leoni. Konkret heißt das: Würden die Reinigungskräfte deutlich höhere Gehälter erhalten, könnten sich weniger Menschen und Unternehmen diese Dienstleistung leisten. Es gibt weniger Arbeitsplätze. Ähnlich ist es in der Lebensmittelproduktion. Eine bessere Bezahlung im Schlachthof würde zwar die Arbeitsbedingungen verbessern, aber auch die Kosten der Fleischproduktion erhöhen. Entweder wird das von den Kunden akzeptiert oder sie kaufen weniger Fleisch.

Dass bei Preiserhöhungen von Lebensmitteln, von Pflege oder Lieferdiensten vor allem jene, die weniger verdienen, stärker betroffen wären, ist auch klar. Die Höhe von Gehältern und Löhnen ist eben das eine, die Kaufkraft das andere. So profitieren hierzulande natürlich viele davon, dass Lebensmittel vergleichsweise günstig sind. Oder, umgekehrt formuliert: "Billige Importe haben die Kaufkraft für viele erhöht", sagt Franz Schellhorn vom wirtschaftsnahen Thinktank Agenda Austria. Das gilt für Güter wie auch für Arbeitskraft.

In der Vergangenheit war auch die Migrationspolitik ein Steuerungsinstrument der Politik für den Arbeitsmarkt, durch den europäischen Binnenmarkt hat dieses aber kaum noch Relevanz, da die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern fast nicht reguliert werden kann. Nie war das Arbeitskräfteangebot größer als in den vergangenen Jahren. "Die Ausweitung der Integration der Arbeitsmärkte hat auf der Arbeitnehmerseite den Druck sicher gesteigert", sagt aber auch Leoni. Überzahlungen des kollektivvertraglichen Mindestlohns kommen in sehr nachgefragten Jobs kaum noch vor. Es gab genügend Arbeitskräfte. Bis jetzt. Durch Grenzschließungen und Quarantänemaßnahmen brechen in einigen Branchen auf einmal diese Arbeitnehmer weg. Auch das wirft ein helles Licht auf eher düstere Arbeitsbedingungen und Bezahlungen in einigen Branchen.

Sehr wohl ordnungspolitische Optionen bieten Steuer- und Sozialabgaben. Auch hier könnte der Staat ansetzen. Die Bruttolöhne müssten in dem Fall gar nicht steigen, es bliebe aber netto mehr übrig. "Da sind die Spielräume jetzt aber nicht so wahnsinnig groß", sagt Schellhorn. Die Corona-Krise wird ein gigantisches Loch ins Budget reißen, das durch Steuersenkungen nicht kleiner wird. Im Gegenteil.

Hohe Differenz zwischen brutto und netto

Es gibt ein weiteres Problem mit der Steuerpolitik. Geringverdiener zahlen bereits heute relativ wenig Lohnsteuer, und zudem profitieren höhere Einkommen auch automatisch mit. Das war auch der große Streitpunkt beim Familienbonus unter Türkis-Blau, der auf mittlere Einkommensegmente ausgerichtet war. "Steuerpolitik ist meistens nicht sehr treffsicher", sagt Christoph Klein, Direktor der Arbeiterkammer.

Ähnlich Ökonom Leoni: "Wenn man die niedrigen Einkommen erwischen will, dann kann das eher nur über die Sozialversicherungsbeiträge gehen", sagt er. Es sei aber eine "wohlbekannte Debatte", inwieweit man hier die Beiträge differenzieren kann, um nicht das Versicherungsprinzip zu unterlaufen. Vermutlich müsste man in diesem Fall das System auf Steuerfinanzierung umstellen, um stärker umverteilen zu können.

Die große Differenz zwischen Arbeitskosten und Nettolöhnen sei dennoch ein grundsätzliches Problem, sagt Schellhorn, das minimiert werden sollte. Das sieht die Arbeiterkammer gar nicht so anders, ebenso die Gewerkschaft. Steuern auf Arbeit sind auch besonders wachstumsschädlich. Die Frage ist dann aber, ob und inwieweit dieser Entfall der Einnahmen für den Staat durch andere Einnahmen kompensiert wird. Sprich: durch andere Steuern.

Und damit kehrt auch ein alter Bekannter in die Debatte zurück: die Vermögensbesteuerung. "Ich bin offen, wie die Dinge heißen", sagte ÖGB-Chef Wolfgang Katzian in der ORF-"Pressestunde" am Sonntag. "Am Ende des Tages müssen große Vermögen Entsprechendes leisten."