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Plötzlich war der Islam das Problem

Von Stefan Beig

Politik
Stürzte mit dem World Trade Center auch die religiöse Toleranz in den USA ein? Foto: abc news /ho

Die Islamisierung der Integrationsdebatte. | Rechtspopulisten und der politische Islam sind die bisherigen Gewinner. | Wien. Neun Jahre nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center sorgt ein geplanter Moscheebau in der Nähe von "Ground Zero" für heftigen Widerspruch in den USA.


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Weder die Ankündigung des New Yorker Imams Feisal Abdul Rauf, der hinter dem Projekt steht, dass es auch Gebetsräume für Juden und Christen und einen Gedenkraum für die Opfer des 11. September im Zentrum geben wird, noch die Verteidigung der Moschee durch US-Präsident Barack Obama und New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg konnten die Gemüter beruhigen. Dafür treibt ein fanatischer christlicher Prediger mit seinem Plan, am Jahrestag der Anschläge an diesem Samstag den Koran zu verbrennen, ein übles Spiel mit der Öffentlichkeit.

"Im Hinblick auf den Umgang mit religiösem Pluralismus muss man sagen, dass sich die Hoffnung, 9/11 würde uns toleranter machen, nicht erfüllt hat", meint Ivan Krastev vom "Zentrum für Liberale Strategien" in Sofia. Krastev, der zurzeit wissenschaftliches Mitglied des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) ist, sieht seither starke Veränderungen in der Wahrnehmung von Religion. So zeige die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei: "Es gibt Ängste vor den Türken, weil sie Muslime sind." Und in Frankreich "gelten Einwanderer aus dem Maghreb heute als Muslime, und nicht mehr als Menschen von Maghreb".

http://www.wienerzeitung.at/Images/2010/9/11/948_008_256411_110903nomos.jpg Ins gleiche Horn bläst der Oxford-Historiker Faisal Devji: Der Experte für Moderne Geschichte Südasiens und globale Trends des islamischen Fundamentalismus sieht ebenfalls starke Veränderungen in der Wahrnehmung politischer Konflikte: "Auf einmal wird die religiöse Zugehörigkeit zum Moment der Unterscheidung. Das ist charakteristisch für die Zeit nach dem Kalten Krieg. Der Islam hat davor so gut wie keine Rolle gespielt. Sogar der Nahostkonflikt wurde im Zeichen des Kalten Kriegs gesehen. Seit 1989 herrscht ein Vakuum, das der Islam gefüllt hat." Devji, bis vor kurzem ebenfalls Visiting Fellow am IWM, hält die veränderte Wahrnehmung auf westlicher wie islamischer Seite für problematisch: "Weder gibt es den Islam als ein einheitliches globales Phänomen, noch gibt es den Westen als monolithisches Gebilde."

"9/11 ist viel europäischer, als wir zunächst dachten"

Krastev glaubt, dass die Auswirkungen von 9/11 für Europa tiefgehender sind als für die USA: "Aus US-Sicht ist der Aufstieg des radikalen Islam primär eine externe Bedrohung, für die es eine militärische Lösung braucht. In Europa leben hingegen große islamische Minderheiten. Die Entwicklung führte dazu, in diesen Sicherheitsprobleme zu sehen." Der radikale Islam werde zu einer internen Bedrohung. "9/11 ist ein viel europäischeres Ereignis, als wir dachten."

Damit tue sich der säkulare Kontinent heute schwer: "In Europa gibt es zum ersten Mal eine dritte Generation von säkularen Menschen, die nicht mehr in religiösen Familien geboren wurden. Jetzt wird Religion durch den Islam wieder sichtbar. Dafür fehlt die Erfahrung. Ohne Verständnis für Religion wird es sehr schwer, sie zu akzeptieren." Das habe vor allem politische Konsequenzen. "In Frankreich war es früher progressiv, gegen die katholische Kirche zu sein. Beim Islam ist das anders: Es ist ein Unterschied, ob sich die Säkularität gegen andere richtet oder gegen einen selbst."

Es gebe zwei Extreme, "die beide nicht zu mögen sind", so Krastev: "Einerseits gibt es jene, die überall und in allem eine Gefahr des radikalen Islam sehen. Andere wiederum meinen: Die Vielfältigkeit von Kulturen in unseren Gesellschaften ist doch eh so nett. Doch selbst wenn vieles nett ist: Wenn Menschen Angst haben, hat das Konsequenzen, die auch das Wahlverhalten beeinflussen. Und in der Politik zählen Gefühle mehr als Fakten."

Diese Entwicklung belaste vor allem die politische Linke: "Ihre Hauptschwierigkeiten sind, dass die Arbeiterklasse teils zur extremen Rechten abgleitet und die multikulturelle Linke, die jede Kritik an Migranten als Rassismus bezeichnete, vorbei ist." Von mehreren Faktoren profitierten hingegen Rechtspopulisten. "Einige Menschen beginnen sich wie eine verfolgte Minderheit zu fühlen", beobachtet Ivan Krastev. "Wegen des demographischen Trends verhalten sich heutige Mehrheiten, als wären sie künftige Minderheiten." Folge der politischen Korrektheit sei wiederum, dass Personen mit dem Brechen von Tabus Karriere machen. "Das ist die Quelle der Legitimität populistischer Parteien."

Neu ist für Krastev auch die Angst vor dem Kompromiss. "Früher war das eine Konstante der EU-Politik. Nun - aus Angst, die eigene europäische Identität zu zerstören - wechselt man zu einer martialischen Sprache." Das Problem dabei: "Für unsere Wirtschaft brauchen wir mehr Migranten, als wir politisch verkraften können." Krastev hält fest: "Europa sollte die Angst fürchten. Das Leben mit Alpträumen ist nicht die beste Art zu leben."

Faisal Devji kritisiert die scharf geführte Integrationsdebatte: "Es ist ein Fehler, anders aussehenden Menschen Radikalisierung vorzuwerfen. Man sollte nicht nur auf Dinge achten, die fremd aussehen, wie Burka oder Minarette." Die Vermischung von Terror-Angst mit Islam-Kritik helfe auch beim Kampf gegen Terror nicht.

Auch die Einführung von Staatsbürgerschaft-Tests könnte sich laut Devji als kontraproduktiv herausstellen: "In Großbritannien genügte früher die Loyalität zur Königin. Nun wird das Konzept der Staatsbürgerschaft zunehmend diffuser." Es entstünden vermeidbare Hürden für Zuwanderer, die auch nicht im Interesse des Landes sind. Die Beherrschung der jeweiligen Sprache sei zweifellos wichtig, doch nicht für die Sicherheit. "Ohne die Fähigkeit, Englisch zu sprechen, hätte 9/11 gar nicht stattgefunden."

"Politik kontaktiert lieber Imame statt Pädagogen"

"Die Islam-Debatte seit dem 11. September hat der Integration mehr geschadet als genützt", ist der deutsche Islamwissenschafter Michael Kiefer überzeugt. "Als Folge von 9/11 gibt es heute in Deutschland Islambeauftragte bei der Polizei. Dabei ist die russische Mafia gewaltbereiter, und dennoch haben wir keine orthodoxen Beauftragten." Kiefer, der in Düsseldorf bei Integrationsprojekten mitwirkt, kritisiert den Trend, Imame für soziale Probleme heranzuziehen. "Die Moscheen sollen sich um die Religion kümmern. Für Probleme der Jugend gibt es Sozialpädagogen und Familientherapeuten. Wenn wir auf einmal Imame heranziehen, islamisieren wir das Problem."

Der deutsch-türkische Kölner Journalist Ahmet Senyurt sieht deshalb Vertreter des organisierten politischen Islams als Gewinner. "Sie sind jetzt in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und in Deutschland etwa in den Institutionen der Bundesrepublik vertreten. Ihnen hat der 11. September nicht geschadet." Darüber hinaus sei es Islamisten gelungen, über eigene Medien eine Gegen-Kultur aufzubauen, die Kritiker als islamophob darstelle. Ähnlich wie Kiefer meint er, dass die Politik die Probleme verschärfe, wenn sie sich nur den Ansprechpartnern der Islam-Verbände widmet. "Mindestens 75 Prozent der Muslime sind überhaupt nicht in den Verbänden organisiert. Die meisten Muslime gehen auch bei schulischen Problemen nicht zum Imam, sondern wenden sich an die bereits bestehenden Behörden. Auf die bereits bestehenden staatlichen Institutionen sollte man in Wahrheit achten."

Islamische Jugend nicht so religiös, wie Studien besagen

Kiefer zweifelt zudem Studienergebnisse an, die jungen Muslimen in Europa starke Religiosität zuschreiben. "Solche Umfragen bewirken ein Reiz-Reaktionsschema. Auf die Frage, ob sie sehr religiös sind, antworten viele Jugendliche mit ja. Doch nur wenige halten die Gebete und das Fasten ein. Ihre Religiosität ist nicht alltagsrelevant. Der Großteil der türkischstämmigen Jugendlichen ist nach meiner Erfahrung religionsfern."

Und wie reagierten die Muslime selbst auf die Islamdebatte seit 9/11? "Schichtspezifisch", meint Kiefer. "Einige Zuwanderer konsumieren vorwiegend die Medien ihrer Herkunftsländer und verfolgen die Diskussion gar nicht. Es gibt gut integrierte Muslime, für die ihre religiöse Zugehörigkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Sie werden durch ihre Zuschreibung zu den Muslimen genervt. Und dann sind da noch jene, die seit dem 11. September beleidigt sind und im Gegenzug eine feindliche Gesellschaft konstruieren, die gegen den Islam ist. Gerade einige Jugendliche - ich denke auch an meine Studenten - fühlen sich heute angegriffen."

In der Selbstisolation einiger Muslime sieht Senyurt eine Hauptgefahr. Ansonsten ähnle aber die Integrationsdiskussion mitunter einer "Phantom-Debatte", denn der Großteil der Muslime sei gut integriert. Senyurt betont: "Die Politiker sollten in Zuwanderern weder ein Sicherheitsrisiko noch potenzielle Wählerstimmen, weder ein Integrationsproblem, noch einen ökonomischen Faktor sehen. Sie sollten sie einfach als Bürger betrachten."

Wissen: Der 11. September 2001

(wh) "America is under attack" - "Amerika wird angegriffen": Mit diesen Worten informierte ein Berater US-Präsident George W. Bush am Morgen des 11. September 2001, kurz nachdem ein zweites Flugzeug in das World Trade Center in New York gesteuert wurde. Als 17 Minuten zuvor bereits ein Flugzeug dort einschlug, glaubte man noch an einen Unfall.

Islamistische Terroristen Al-Kaidas hatten insgesamt vier Flugzeuge in ihre Gewalt genommen, um die USA auf ihrem eigenen Territorium anzugreifen. Das dritte raste in das Pentagon, das vierte explodierte bei Pittsburgh am Boden - die Geiseln hatten den Kampf mit ihren Entführern aufgenommen. Bei den Anschlägen starben fast 3000 Zivilisten und alle 19 Attentäter.

Am 12. September verurteilte die UNO einstimmig die Anschläge, am selben Tag rief die Nato erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus: Die Terroranschläge seien ein Angriff auf das Staatsgebiet eines Mitglieds. Bush kündigte am 20. September einen "Krieg gegen den Terror" an, am 7. Oktober begann der Kampf gegen das Taliban-Regime in Afghanistan.