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Pogromnacht in der Zeitkapsel

Von Eva Stanzl

Wissen
Hinter der Feuerleiter öffnet sich ein zugeschütteter Kellerraum in dem einige alte Gegenstände gefunden wurden.
© Klaus Pichler

In einer jüdischen Schule in Wien wurden Kellerräume entdeckt, die vom Novemberpogrom 1938 zeugen. Die Ausstellung "Nicht mehr verschüttet" im Haus der Geschichte Österreichs zeigt den historischen Fund.


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Es begann mit einem Loch. Arieh Bauer weist auf einen Plan, der den Grundriss der Schule zeigt. "Wir haben zu wenig Platz. Also machten wir uns auf die Suche nach Raum. Ich bohrte hier, wo ,Kellerraum zugeschüttet‘ steht, in die Wand", erklärt der Generalsekretär des Israelitischen Tempel- und Schulvereins Machsike Hadass in Wien. "Es gab keinerlei Aufzeichnungen, was man wie und wo zugeschüttet hatte, und auch keine statischen Angaben. Daher fotografierte ich mit einer Kamera in das Loch hinein, ähnlich wie die Sonde des Mars-Rovers Curiosity", führte er aus, als er dem Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten diese Woche seine Schätze in der Talmud-Thora-Schule in der Wiener Malzgasse zeigte.

Die Kamera sah ein Gewölbe, das nicht intakt war. "Wir haben geschaufelt und weitergegraben. Bald kam ein Schulkalender aus 1929 zum Vorschein, dann verbrannte Kohle und plötzlich ein Grabstein", schilderte Bauer. Zunächst wussten er und seine Kollegen gar nicht, was sie mit der Mischung anfangen sollten. Doch dann gruben sie weiter in die Vergangenheit und zu einem der dunkelsten Momente der österreichisch-jüdischen Geschichte.

Handbemalte Glasfenster.
© Klaus Pichler

"Scherben mit hebräischer Inschrift und Brandspuren an den Wänden verrieten uns, was los ist. Wir hatten eine Zeitkapsel geöffnet", sagte Bauer. Eine Zeitkapsel, in der die Überreste der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, als das nationalsozialistische Regime organisierte Gewaltmaßnahmen gegen Juden durchführte, gefangen waren. Die Räume wurden 1939 zugeschüttet. 2018 wurden sie erstmals geöffnet.

Hebräische Inschriften

In der Malzgasse 16 im zweiten Gemeindebezirk hat der jüdisch-orthodoxe Glaube Tradition. Um 1850 wurde auf freiem Bauland eine Vereinssynagoge für 100 Personen errichtet. Im Zuge eines Neubaus 1906 wurde die Synagoge nach hinten verlegt und eine Talmud-Thora-Schule dazu gebaut. Der Ort wurde auch für Vereinsveranstaltungen, Ausspeisungen und das erste jüdische Museum der Welt genutzt.

Eine Chanukka-Lampe.
© Klaus Pichler

1938 wurden Synagoge und Schule in Brand gesetzt. Die Wiener Feuerwehr vermerkte den Einsatzbeginn: Am 10. November 1938 um 12.20 Uhr "brannte die 4stöckige israelitische Volksschule in allen Stockwerken, sowie das anschließende Bethaus. Es bestand die Gefahr eines Übergreifens des Feuers auf nebenan gelegene Wirtschaftsgebäude. Die Sicherung wurde mit 3 Schlauchlinien gelöscht." Noch am 13. November 1938 stellte die Feuerwehr "glimmende Brandreste" fest. Nach Recherchen des Schriftstellers Doron Rabinovici diente die Ruine ab 1939 als Siechenheim, danach als jüdisches Spital und danach als Sammellager zur Deportation. Die ehemalige Synagoge wird seit der Rückstellung der Liegenschaft und der Wiedereröffnung der Schule als Turnsaal genutzt. Heute befinden sich in der Malzgasse ein Kindergarten für Mädchen und Buben sowie eine Volks- und Neue Mittelschule für Buben.

Über einen Schlauch pumpte die zuständige Baufirma in Zusammenarbeit mit dem Denkmalamt den Kellerschutt nach oben, und zwar bei laufendem Schulbetrieb. "Wir haben den Kindern die Situation erklärt, sie aber hauptsächlich von der Baustelle ferngehalten", sagte Bauer: "Es ging sachte vonstatten. Der Keller steht jetzt als Mahnmal unter Denkmalschutz."

Angesengte Bücher.
© Klaus Pichler

Statt Synagoge ein Turnsaal

Aus dem Sand kamen Gebetsbücher, gedruckte Thora-Bücher, Bruchstücke von Gedenktafeln, Ketten, eine Chanukka-Lampe, handbemalte Glasfenster und andere Utensilien der Synagoge. Auch jede Menge profaner Objekte, wie Tintenfässer, Emailgeschirr aus der Schul- und Ausspeiseküche, diverse Glasflaschen, Uhrenblätter, Hanteln aus Metall für den Turnunterricht und verbrannte oder angesengte Teile von Büchern und Kalendern wurden gefunden.

Genau genommen handelt es sich um zwei Funde: Ursprünglich trug das freigelegte Gewölbe ein Gebäude, welches beim Umbau 1906 abgerissen wurde. Danach stützte es die neue, nach hinten versetzte Synagoge, deren Außenfassade heute noch sichtbar ist. Um aber den Brandschutt aus dem Novemberpogrom zu entsorgen, wurde 1938 das Kellergewölbe aufgebrochen. Als der unterirdische Raum voll war mit Staub und Ruß, stampfte man den restlichen Schutt 1,5 Meter hoch fest und versiegelte ihn mit einem Fußboden, auf dem hernach Buben turnten. 1956 musste der Boden des Turnsaals verstärkt werden.

Emailgeschirr.
© Christoph Schleßmann

"Wir haben einige Funde gereinigt und restauriert, andere aber noch nicht erforscht", erklärte Birgit Johler, die Kuratorin der Ausstellung "Nicht mehr verschüttet: Jüdisch-österreichische Geschichte in der Wiener Malzgasse", in der die Objekte bis 19. April 2020 im Haus der Geschichte Österreich zu sehen sind. Die Sozialforscherin sieht die Sammlung, die im Besitz des Schulvereins bleibt, als "laufendes Forschungsprojekt, manche Objekte lassen sich im restaurierten Zustand besser studieren", sagte sie. Um aber das Gewölbe als Gedenkstätte zugänglich machen zu können, muss man auf öffentliche Gelder oder private Spenden hoffen. Denn zunächst muss die Schule ihr Platzproblem lösen.