Dass die EU ein neues Grundgesetz braucht, steht außer Streit. Ob die Verfassungsdebatte beim EU-Gipfel ab Freitag in Brüssel erfolgreich abgeschlossen werden kann, ist aber völlig offen. Irland bereitet sich indes darauf vor, die Verhandlungen als neues EU-Vorsitzland im Jänner fortzusetzen.
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Die Verfassung müsse am Wochenende vorliegen, "aber nicht um jeden Preis", sagte EU-Kommissionssprecher Reijo Kemppinen gestern in Brüssel. Bei den Verhandlungen dürften keine Fragen offen bleiben. Ein Abschluss beim Gipfel sei deshalb so wichtig, um die Ratifizierungsverfahren in den Mitgliedstaaten auf den Weg zu bringen.
Das mächtige deutsch-französische Tandem versucht in den letzten Tagen vor der entscheidenden Verhandlungsrunde, die EU-Partner mit Drohungen zu beeindrucken. "Wir wollen nicht um jeden Preis abschließen", heißt es da. Oder: "Besser keine Verfassung als eine schlechte." Gelassener gab sich gestern Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Es werde zwar bei manchen Fragen schwierig werden, er sei aber "recht zuversichtlich", dass man beim Streben nach einer EU-Verfassung zu einem Ergebnis kommen werden, meinte Schüssel (siehe auch Seite 7).
Eine harte Position nehmen weiterhin Spanien und Polen - unterstützt von Großbritannien - in Bezug auf den Abstimmungsmodus im EU-Rat ein. Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder wird heute noch Polens Präsident Alexander Kwasniewski in Berlin treffen. Dieser hält eine Verschiebung der Entscheidung über die Stimmrechte um einige Jahre für einen akzeptablen Vorschlag.
Die neuen Stimmgewichte könnten etwa erst ab 2014 gelten, regte Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker an. Das wäre fünf Jahre später als im Verfassungsentwurf vorgesehen. Darin ist eine neue Entscheidungsfindung mit "doppelter Mehrheit" - also der Mitgliedsländer und sofern diese mindestens 60 Prozent der Bevölkerung umfassen - vorgesehen. Wie berichtet, lehnen Spanien und Polen dies ab und wollen stattdessen das Stimmsystem laut Nizza-Vertrag behalten, das ihnen größeren Einfluss sichert, als es ihrer Bevölkerungszahl entspricht.
Im schlimmsten Fall könnten am spanisch-polnischen Streitfall die Verfassungsverhandlungen unter dem italienischen Vorsitz scheitern. Die Gespräche würden dann ergebnislos in Brüssel abgebrochen werden. Wahrscheinlicher ist jedoch folgendes Szenario: Die Staats- und Regierungschefs und die Außenminister verlängern die an und für sich bis Samstag anberaumten Verhandlungen, bis Sonntag oder über das Wochenende hinaus; jene Punkte aus dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents werden gebilligt, über die Einigkeit herrscht; über die umstrittenen Abstimmungsregeln wird später entschieden.
Denkbar ist auch, dass die Regierungskonferenz auf die irische EU-Präsidentschaft verschoben wird. Es ist allerdings fraglich, ob sich dann neue Kompromisse ergeben würden. Dublin hat bereits signalisiert, sich im Falle eines Scheiterns nicht auf das Management der EU-Krise zu beschränken. Man werde weiter versuchen, einen Konsens zu finden.