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Polen weint den US-Raketen nach

Von Engelbert Washietl

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Der Autor ist Vorsitzender der "Initiative Qualität im Journalismus"; zuvor Wirtschaftsblatt, Presse, und Salzburger Nachrichten.

Der Verzicht des US-Präsidenten auf ein Hightech- Sicherheitssystem in Zentraleuropa gilt in Warschau als blanker Verrat. Die Europäische Union sieht das mehrheitlich anders.


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Die "europäische Vielfalt" verlangt nicht nur den Amerikanern regelmäßig mühsame Lernprozesse ab, auch europäische Völker haben alle Mühe, mit politischen Realitäten klar zu kommen, weil ihre recht unterschiedlichen Visionen nicht zur Deckung zu bringen sind.

Warum erwies sich die Europäische Union soeben unfähig, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten für den Posten des Unesco-Generaldirektors zu einigen? Warum fiel die Westlerin Benita Ferrero-Waldner in den Wahlgängen gegenüber der bulgarischen Kandidatin zurück? Weil es keine EU-Linie gab.

Ein ganz anderes Kapitel wird dieser Tage im Zusammenhang mit den amerikanischen Raketenabwehrplänen in Zentraleuropa geschrieben. Das offizielle Deutschland beglückwünscht den US-Präsidenten Barack Obama zu seiner Entscheidung, auf Anti-Raketenbasen zu verzichten.

Im benachbarten Polen herrscht darob fast Weltuntergangsstimmung: Der "Verrat" durch die USA wird in Beziehung zum Jahr 1939 gesetzt, als niemand den Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen verhinderte. Polens Staatspräsident Lech Kaczynski wählte die größte Boulevardzeitung "Fakt", um in einem Namensartikel vor einer "Grauzone der Sicherheit" zu warnen und an den September 1939 zu erinnern, an dem Polen einem schnöden Verrat durch Deutschland und die UdSSR zum Opfer gefallen sei.

Traumatische Erlebnisse von einst sind Realitäten von heute. Polen definiert sein Glück und Unglück noch immer und fast ausschließlich durch seine Angst vor den Russen, denen offenbar alles zugetraut wird. So wie die meisten osteuropäischen Staaten trat Polen nach der Öffnung 1989 geradezu fluchtartig den Marsch in die Nato an. In einer kompromisslosen Solidarisierung mit amerikanischen Ambitionen präsentierte sich jede Warschauer Regierung als Musterknabe. Während andere EU-Staaten der militärischen Intervention der USA im Irak fassungslos bis ablehnend gegenüber standen, applaudierte Polen.

Die Schwarzweiß-Malerei zwischen "pro-amerikanisch" und "anti-russisch" ist in Polen in der Ära des Kalten Krieges gestählt worden und dort hängen geblieben. Deshalb jetzt die große Ernüchterung, dass die Amerikaner die Pläne zum Bau von zehn Raketensilos im Nordwesten des Landes ad acta legen. An deren Sinn hatten zwar die meisten EU-Staaten einschließlich Österreichs gezweifelt, doch in den Augen der meisten Polen hatte der Raketenschild eine primäre Funktion: Schutz vor den Russen. "Die USA haben uns an Russland verkauft", titelte "Fakt" jetzt.

Rechnet man die alten Ressentiments Polens gegenüber Deutschland ein - größer könnte der Kontrast gar nicht sein. Denn Deutschland ist auch unter Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Kuschelkurs gegenüber Russland, und Merkels Vorgänger Gerhard Schröder hat es sogar zum Vorsitzenden des Aktionärsausschusses des russisch-deutschen Ostsee-Pipeline-Projektes Nord Stream gebracht, das in polnischen Augen ebenfalls einer Treulosigkeit gleichkommt. Schröder favorisierte zudem noch vor wenigen Tagen die Rettung des Autokonzerns Opel mit Hilfe russischer Investoren.

Mit Bemerkungen, dass das aktuelle polnische Verratstrauma auch damit zu tun haben könnte, dass die polnische Bauindustrie um profitable Aufträge kommt, lässt sich die geradezu weltanschauliche Sonderstellung Polens in der europäischen Außenpolitik nicht erklären. Wenn Polen an sich und Russland denkt, dann geht es sofort um Tod oder Leben.