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Politiker erzählen Märchen

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Weihnachtszeit ist Märchenzeit. | Draußen ist es zu kalt, dunkel wird es zu früh, um müde zu sein. Was liegt näher, als die Kinder mit einer Erzählung zu beschäftigen?


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Schneewittchen, Rotkäppchen und Aschenputtel sind freilich schnell abgegriffen. Und kennen die jungen Mütter, Väter oder Kindergarten-Tanten die oft jahrhundertealten Märchen überhaupt noch? Hand aufs Herz: Wüssten Sie noch die drei Fragen zu nennen, die das Mütterchen dem Teufel mit den drei goldenen Haaren gestellt hat?

Es wäre nicht Deutschland, gäbe es dort nicht auch dafür ein "Zentrum", das dem Vergessen unseres reichen Märchenschatzes entgegenwirken will: Im Jahr 2004 haben eine Theaterwissenschafterin und eine Germanistin, Silke Fischer und Monika Panse, in Berlin ein "Deutsches Zentrum für Märchenkultur" unter dem Namen Märchenland gegründet, "um das Kulturgut Märchen in das Bewusstsein unserer Gesellschaft einzuprägen".

Es ist das einzige Zentrum seiner Art in Deutschland und versteht sich als eine Institution für das traditionsgebundene und literarische Genre der Märchen, Sagen und Geschichten. Märchenland organisiert jedes Jahr europaweit mehr als 1500 Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene. "Wir versuchen", so die Gründerinnen, "das Märchen als Weltkulturerbe zu bewahren, aber auch universelle Märchenbotschaften in aktuelle Diskussionen einzubringen."

Berlin als Wohn- und Schaffensort der bedeutendsten Märchensammler der Welt, der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, ist in besonderer Weise mit dem Thema Märchen verknüpft.

Selbst das Domizil des Zentrums ist fast schon ein Märchen für sich: Um 1753 ist an dieser Stelle direkt am Ufer der Spree der Gasthof "Zu den drei Lilien" belegt, zu dessen Gästen der berühmte Casanova gehörte. Daneben befand sich ein prächtiger Renaissancebau, in welchen ein Jahrhundert vor dem Frauenheld der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund geflüchtet war, weil er auf seinem Schloss eine "Weiße Frau" gesehen hatte. Das Haus gehörte seinem Kammerdiener Anton Freytag, in dessen Armen der todkranke Fürst sein Leben aushauchte. Seither heißt der Bau "Kurfürstenhaus". 1867 abgerissen, entstand an der Stelle ein dreigeschoßiges Geschäftshaus, das sich an die ursprünglich barock veränderte Renaissancefassade anlehnt.

Hier sind nun der Herzog Blaubart, die Zwei Königskinder, König Drosselbart, Kalif Storch, die Prinzessin auf der Erbse und der ganze Hofstaat aus Phantasia samt des Kaisers neuen Kleidern eingezogen.

Wer wüsste besser, dass Märchenerzählen auch Spaß machen kann, als ein Politiker? Märchenland machts möglich: Wirtschafts-, Finanz- und Justizminister/in haben schon eine Stunde ihrer Zeit dem Vorlesen von Märchen und dem anschließenden Plaudern darüber den Kindern gewidmet. Aber auch erfolgreiche Wirtschaftsbosse wie der Babynahrung-Hersteller Hipp erzählen dem jungen Publikum, was ihr unternehmerisches Handeln prägt. Nach einer Märchenlesung diskutieren sie darüber, welche Werte Gesellschaft und Wirtschaft bestimmen sollten und geben Tipps, wie man ein Unternehmen gründet und erfolgreich führt. Titel der Reihe: "Märwertstunde".

Zahlreiche Schauspieler und Medienleute haben sich an diversen "Märchenreisen" beteiligt, so etwa Hellmuth Karasek, Lea Rosh, Senta Berger und Iris Berben. Und im Sommer gibt es sogar ein Märchenschiff.

"Prinzipiell ist jedes Märchen und jeder Traum so alt wie die Menschheit", sagt Eugen Drewermann, "und eben diese zeitlose Gültigkeit versetzt sie in den Stand, gültige Wahrheiten zu formulieren, die den Einsichten des Verstandes unendlich überlegen sind."