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Laut Politologin Baumgarten muss Israel neue Realität in Nahost akzeptieren.
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"Wiener Zeitung":Wie stehen die Chancen, dass der aktuelle Waffenstillstand zwischen Israel und dem Gazastreifen hält?Helga Baumgarten: Ziemlich gut. Die Amerikaner haben sich massiv in dieses Abkommen reingehängt und die Israelis
gedrängt. Entscheidend war, dass (US-Außenministerin) Hillary Clinton in Kairo war und die Waffenruhe dort gemeinsam mit Präsident Mohammed Mursi verkündet wurde. Ägypten spielt eine wichtige Rolle für die Stabilität der Region, und das ist Amerika wichtig. Clinton dürfte Israel klargemacht haben, dass es Zugeständnisse an Kairo machen muss, wenn der Camp-David-Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten gültig bleiben soll. Dass es Zeit ist, einen Schritt nach vorne zu machen.
Wer ist als Sieger aus der Krise hervorgegangen?
Politisch gesehen profitiert mit Sicherheit die Hamas. Schon im Vorfeld wurde sie durch den Besuch und die Finanzspritze aus Katar politisch enorm aufgewertet. Dann kamen der ägyptische Premier und der Außenminister. Das gibt der Hamas Auftrieb - auch im Westjordanland, wo sich Palästinenser mittlerweile als glühende Hamas-Anhänger bekennen, die eigentlich nichts mit der Partei am Hut haben. Sie sagen, die Hamas wisse eben noch, was echter Widerstand ist. Bei Protesten in Ramallah waren jüngst erstmals wieder grüne Hamas-Fahnen zu sehen. Die Fatah sagt: Wir feiern mit. Alles bewegt sich in Richtung nationaler Einheit. Für die Palästinenser ist das gut.
Hat der Erfolg der Hamas nicht die Machtbasis der Rivalen im Westjordanland geschwächt?
Ja. (Palästinenserpräsident) Mahmoud Abbas und die Autonomiebehörde in Ramallah dürfen sich jetzt nicht an die Gebote und Verbote der USA und Israels halten. Abbas muss, wie geplant, in New York vor die UN-Generalversammlung treten und seinen Antrag um Mitgliedschaft militant vorbringen, sonst ist er weg vom Fenster. Die Fatah hat sich jedoch schon selbst irrelevant gemacht. Sie hat es seit 2006 nicht geschafft, sich als Organisation neu aufzubauen. Sie hat keine politischen Erfolge vorzuweisen, Flügelkämpfe finden immer noch statt und die Finanzkrise wird immer stärker. Und jetzt war da auch noch der Krieg in Gaza. Die einzige Rettung für die Fatah ist die nationale Einheit mit Hamas. Ich glaube, das hat sie erkannt.
Bedroht die aktuelle Lage Israels Sicherheit?
Nicht unbedingt, wenn man die Realität zur Kenntnis nimmt und entsprechend reagiert. 2012 haben wir eine ganz andere Situation, und das muss Israel einkalkulieren. Israel lebt noch in der Vergangenheit und denkt, dass es sich mit der militärischen Überlegenheit alles leisten kann. Unterm Strich braucht das Land auch keine Angst vor den Muslimbrüdern haben. Ein Modus vivendi mit ihnen ist möglich. Ägypten wird Israel aber auch klar darauf hinweisen, dass die seit 1967 bestehende Besatzung des Palästinensergebiets nicht mehr haltbar ist und der Zustand in Gaza inakzeptabel ist. Ägypten wird von Israel fordern, die Hamas als Gesprächspartner zu akzeptieren. Auch die Besuche etwa von Katar signalisieren: Wenn wir nach Gaza gehen, können das alle anderen auch. Die Signale sind auf Wandel gestellt.
Könnte der Wandel auch zu einer neuen Art von Friedensprozess führen?
Da kann man eigentlich nur ein Fragezeichen setzen. Wird Israel den Waffenstillstand halten können? Ministerpräsident Netanahu scheint in Israel unter großem Druck zu stehen. Manche sagen, die Gaza-Operation war nicht genug und man müsse die Hamas zerschlagen. Doch auch in Gaza muss die Situation unter Kontrolle bleiben. Dort wird man, denke ich, alles tun, um den Waffenstillstand einzuhalten. Die Hamas muss jetzt die entstandene Dynamik auszunutzen. Die Hamas sagt, wir brauchen eine Regierung der nationalen Einheit, Gaza und Westjordanland gehören zusammen. Das muss nun umgesetzt werden. Die Chancen dafür stehen heute vielleicht besser als zuvor, vorausgesetzt, dass sich Abbas in Ramallah nicht mehr von USA und Israel in eine Ecke stellen lässt.
Zur Person
HelgaBaumgarten
ist seit 1993 Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit in Ramallah (Westjordanland). Davor arbeitete die 1947 geborene Stuttgarterin am Deutschen Orient-Institut Hamburg.