Der Politikwissenschaftler Anton Pelinka argumentiert für die Einführung eines Fachs "Politische Bildung".
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"Wiener Zeitung": Herr Professor Pelinka, politische Themen sind ja Bestandteil anderer Unterrichtsfächer. Braucht man dann noch ein eigenes Fach "Politische Bildung"?
Anton Pelinka: Politische Bildung ist derzeit als Unterrichtsprinzip mit anderen Fächern verbunden. Das heißt, dass es in der Schulwirklichkeit keine Personen gibt, die sich speziell dafür zuständig fühlen müssen. Es bleibt dem Zufall überlassen, ob ein Lehrer oder eine Lehrerin besonders engagiert ist, ob und auf welche Weise Politik im Unterricht vorkommt. Wenn die Schule Politik als Thema ignoriert, ist das auch eine Botschaft, die ich in einer Demokratie für schlecht halte. Es ist die Schule als Teil des Sozialisationsprozesses, auf den die Politik direkt Einfluss nimmt.
Und wenn die Politik sagt, ihr müsst alles lernen, nur nichts über Politik, ist das auch eine vielsagende Botschaft. Ein eigenes Fach hätte außerdem Verbindlichkeit und würde die lehrenden Personen mit Verantwortung ausstatten, sie auch mit entsprechender Ausbildung und Fortbildung unterstützen. Der gegenwärtige Zustand hilft denen, die sich für Politische Bildung in der Schule sowieso engagieren, aber er hilft nicht, Lücken zu schließen.
Welche Lücken sind das, welche Auswirkungen hat der Mangel an politischer Bildung?
Sicherlich, dass Schüler und Schülerinnen nicht unbedingt mitbekommen, dass Parteien wichtig für Demokratien sind, nicht mitbekommen, was Pluralismus heißt, etwa auch was die Hinnahme von Niederlagen in der Demokratie bedeutet; dass Schülerinnen und Schüler bei einem sehr naiven Politikverständnis stecken bleiben können.
Die Schule ist nun nicht als Alternative zur Primärsozialisation zu sehen, sondern als ein partielles Korrektiv zur Primärsozialisation in der Familie. Sie soll verhindern, dass die Werte der Demokratie, aber auch Wissen über die politischen Prozesse zu kurz kommen. Wenn es kein Verständnis von und kein Wissen über Demokratie gibt, dann hat man eine naive Vorstellung von Politik und Demokratie, die sich in allgemeiner Politiker- und Parteienbeschimpfung äußert, aber nicht in entsprechend konstruktiv-kritischem Handeln.
Konflikte und Kritik sind nun nicht gerade gut angeschrieben.
Demokratie ist Konflikt. Es ist das einzige politische System, das eingesteht, dass Perfektion nicht möglich ist, dass es immer anders werden kann und auch anders werden muss, besser oder schlechter. Deshalb brauchen wir Parteien und den Wettbewerb von Ideen und Interessen. Dass das mit Konflikt zu tun hat, und dass Konflikt nichts Negatives ist, das wäre der harte Kern der Politischen Bildung als Unterrichtsfach.
Die Politikverdrossenheit ist gerade unter den jüngeren Menschen groß, die Wahlbeteiligung sinkt. Ist das eine Folge eines allgemeinen politischen Bildungsdefizits oder nicht vielmehr ein berechtigter Ausdruck des Misstrauens gegenüber Parteien und politischen Institutionen?
Wahlbeteiligung ist kein Indikator. Österreich hatte in den ersten Jahrzehnten in der Zweiten Republik eine europaweit einmalig hohe Wahlbeteiligung. Können wir deshalb sagen, dass Österreich damals die beste Demokratie Europas war? Sicher nicht. Was wir erleben, ist die Verdrossenheit mit einer bestimmten Politik, was sich auch im dramatischen Einbruch bei den Parteimitgliedschaften äußert. Das wiederum ist ein Zeichen der Normalisierung Österreichs, von der die jüngere Generation stärker erfasst ist. Die Jüngeren sind Wechselwähler und wählen überproportional Parteien, die derzeit nicht in der Regierung sind – Grüne, FPÖ und Neos. Der Trend geht also nicht gegen Parteien schlechthin, sondern gegen bestimmte Parteien, was wiederum anderen Parteien nützt.
Wenn sich aber immer weniger an Wahlen beteiligen, wie kann man dann noch sagen, dass das Parlament demokratisch legitimiert ist?
Wir müssen akzeptieren, dass Nichtwählen eine legitime Äußerung einer Bürgerin oder eines Bürger ist. Nichtwählen heißt, dass keine der Parteien aus dem breiten Angebot reizvoll genug ist, um ihr die Stimme zu geben. Derzeit sitzen im Parlament sechs Parteien, so viele wie noch nie. Wer trotzdem nicht wählt, tut das trotz dieser breiten Wahlmöglichkeit. Das ist zu respektieren.
Bald sind EU-Wahlen. Was könnte ein Fach Politische Bildung für die EU als politisches Projekt tun?
Politische Bildung soll keine Tugendlehre sein. Das kann man dem Ethik- oder Religionsunterricht überlassen. Politische Bildung muss mit der Wirklichkeit konfrontieren und dazu gehört die EU. Man muss vermitteln, was EU-Parlament und EU-Kommission sind und welche Parteienfamilien es in Europa gibt. Jede und jeder 18-Jährige in Österreich sollte wissen, was die Visegrád-Gruppe ist. (Eine 1991 gegründete Kooperation von Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien – Anmerk.). All das sollte vermittelt werden, weil die Union ein zentraler Bestandteil der politischen Wirklichkeit ist.
Politische Bildung ist heute bevorzugt das Metier von Geschichtslehrern. Brauchen Lehrer für Politische Bildung eine eigene Ausbildung?
Wir müssen das Rad in Österreich nicht neu erfinden, denn in vielen Demokratien gibt es dieses Fach. Es müsste ein Lehramtsstudium geben, das grundsätzlich interdisziplinär ist, aber mit einem wesentlichen Anteil der Politikwissenschaft. Geschichte müsste natürlich weiter für Politische Bildung wichtig sein.