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Politische Doppelzüngigkeit

Von Zoltán Kovács

Gastkommentare
Zoltán Kovács (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Regierungssprecher) ist Schriftsteller, Publizist und seit 1993 Chefredakteur von "Élet és Irodalom", einer der noch existierenden liberalen Wochenzeitungen in Ungarn. Er ist Pro-Literatura- und Joseph-Pulitzer-Erinnerungspreisträger.
© privat

Wladimir Putins Krieg hat auch Viktor Orbán auf dem falschen Fuß erwischt.


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In Europa rumort es, Millionen fliehen aus der Ukraine. Verheerende russische Luftschläge auf ukrainische Großstädte wecken bei vielen die Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Zu Präsident Wladimir Putin und zum Krieg gegen die Ukraine versucht Ungarns Premier Viktor Orbán angesichts der nahenden Wahlen am 3. April keine konkrete Stellung zu beziehen. Stattdessen empfiehlt er die Politik der "strategischen Ruhe", die sich vor jedem unbedachten Schritt hütet.

Sein eigenes Land hat der Regierungschef in zwölf Jahren mit seiner Doppelzüngigkeit zwischen Ungarn und der EU unter den europäischen Staaten in eine unmöglichste Situation hineinmanövriert. Putin hat einen Krieg in Ungarns Nachbarschaft vom Zaun gebrochen, unterließ es aber, seinen Freund Orbán in seine Pläne einzuweihen. Mehr noch, fünf Tage vor Kriegsbeginn empfing er Ungarns Premier und sicherte ihm vermeintlich günstige Energielieferungen zu, was die regierungsnahen Medien stolz herausposaunten. Doch dann geschah Unerwartetes: Der Krieg brach aus. Orbáns "stets verlässlicher Partner" Putin erwies sich ihm gegenüber genauso redlich und korrekt, wie es der ungarische Premier zur EU ist.

Orbán hätte eigentlich bei seinem fünfstündigen Empfang in Moskau merken müssen, dass nicht alles so war, wie es den Anschein hatte. Vielleicht glaubte er, es werde schon keinen Krieg geben und er könne sein doppelzüngiges Spiel ewig fortführen. Was aber dachte er über die Armada von 150.000 russischen Soldaten mit Panzern an der Grenze zur Ukraine? Glaubte er wirklich, sie würden sich nach einer Weile wieder in ihre Kasernen zurückziehen? Trotz unzähliger Treffen in der Vergangenheit konnte Orbán Putin offenbar nicht richtig einschätzen.

Ein Land mit der geopolitischen Lage Ungarns zwischen Ost und West kann politisch jederzeit in eine heikle Situation geraten, denn die Welt ist immer für Überraschungen gut. Das größte Problem entsteht vermutlich, wenn man zu komplexen und heiklen Situationen keine eindeutige Stellung beziehen will. Orbán konnte sich nicht einmal an einer früheren Aussage orientieren, denn eine solche gab es nicht.

Wie die meisten janusköpfigen Politiker erwischte auch ihn der Kriegsausbruch auf dem falschen Fuß, er hatte plötzlich keinen Orientierungspunkt mehr. Und er hielt an der politischen Doppelzüngigkeit fest, als es nicht mehr möglich war, und flüchtete sich in Plattitüden wie: "Ungarn sollte sich aus diesem Krieg heraushalten." Er hätte sich aber auch anders verhalten und die EU klar unterstützen können, statt sie zu schwächen. So wurde Orbán zur Randfigur, sobald das Kriegsgeschehen in der Ukraine eine bestimmte Intensität erreicht hatte. Nun schlüpfte er schnell in eine andere Rolle: Plötzlich gab er sich objektiv, besonnen und wechselte zu weiteren Plattitüden wie: "Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin sind zwei große Jungs, sie wissen, was sie tun."

Für die Ungarn ist es peinlich zu sehen, wie wenig ihr Regierungschef in dieser düsteren Lage zu sagen hat. Und wenn er dann doch etwas sagt, ist das kaum nachzuvollziehen. So erklärte Orbán, die russische Internationale Investment Bank mit Sitz in Budapest könne "ungestört weiterarbeiten" - kurz darauf stellte sich heraus, dass auch Ungarn den EU-Sanktionen gegen diese Bank zugestimmt hatte. Inzwischen sind alle EU-Staaten außer Ungarn aus der Bank ausgestiegen, die ein internationales Spionagenetzwerk aufgebaut haben soll, während - höchst ungewöhnlich - ihre Topmanager und deren Gäste bei allen Tätigkeiten und Reisen in Ungarn und der EU diplomatische Immunität genießen. Orbán erklärte auch, dass "Nato-Flugzeuge Ungarn nicht überfliegen dürfen" - keine 24 Stunden später überflogen Nato-Jets Ungarn.

Schenken wir also reinen Wein ein. Russlands kriegerisches Vorhaben kann nur die Aufkündigung des Exports seiner Energieträger stoppen. Dazu wären die USA und mehrere europäische Nato-Staaten bereit - Ungarn legt sich quer. Der frühere US-Finanzminister Larry Summers forderte zu Recht, der Westen müsse seine Prioritäten richtig setzen: Der Schutz von Menschenleben und die Verhinderung von Krieg sind weit wichtiger als alle wirtschaftlichen Interessen.