Zum Hauptinhalt springen

Politische Kultur am Tiefpunkt - und Wege wieder heraus

Von Max Haller

Gastkommentare
Max Haller war von 1985 bis 2015 Professor für Soziologie an der Universität Graz und forscht jetzt an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.
© privat

Zumindest drei Maßnahmen könnten eine Verbesserung mit sich bringen: eine Stärkung der Persönlichkeitswahl, eine Wahlpflicht und mehr direkte Demokratie.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der Begriff der politischen Kultur ist etwas umstritten, aber dennoch unentbehrlich. Gemeint ist damit, wie politische Akteurinnen und Akteure sowie Bürgerinnen und Bürger agieren. Es geht darum, ob sie dabei nicht nur die gesetzlichen Vorschriften einhalten, sondern auch um die Beachtung ungeschriebener Regeln von Fairness, Anstand, Ehrlichkeit, Kompromissbereitschaft und Ähnlichem. Dass auch diese Elemente zentral sind, wenn es darum geht, ob eine politische Gemeinschaft gut oder schlecht funktioniert, hat schon Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, der Klassiker der Demokratietheorie, festgestellt.

In Österreich liegt in dieser Hinsicht seit einiger Zeit vieles im Argen. Als Tiefpunkt muss man wohl die Angelobung der neuen ÖVP-FPÖ-Regierung in Niederösterreich bezeichnen. Hier geht es nicht um die bereits von vielen kritisierte Tatsache, dass die FPÖ Niederösterreich am rechten Rand der ohnehin rechtslastigen FPÖ steht. Schon die Abschlusspräsentationen zeigten das schlechte Gewissen bei dieser neuen Koalition. Dass eine neue Landeshauptfrau von ihrem neuen Koalitionspartner nicht einmal gewählt wird, wird aber Wasser auf die Mühlen all jener gewesen sein, die der Meinung sind, die Regierenden würden ohnehin immer nur im Interesse des Machterhalts miteinander packeln.

Es gab weitere fragwürdige Verhaltensweisen: etwa, dass ein Nationalratspräsident eine parlamentarische Untersuchungskommission leitet, bei der er selbst als Mitbeschuldigter betroffen ist; dass ein Parteichef den Bundespräsidenten als "senil" und als "Mumie" bezeichnet; dass die beiden Führungspersönlichkeiten einer (ehedem) großen Partei einander öffentlich beschuldigen. Aber nicht nur bei den politischen Eliten ist ein Mangel an politischer Kultur zu konstatieren, sondern auch bei vielen Bürgerinnen und Bürgern.

So stünden neben den in die vorgenannten Praktiken involvierten Parteien mit den Grünen und den Neos noch zwei weitere Parteien zur Verfügung, die von keinen Skandalen gekennzeichnet sind. Deren Anklang kommt laut Umfragen nicht vom Fleck, dagegen steht eine Partei, deren Vorsitzender fast jeden politischen Anstand vermissen lässt, in der Wählergunst in Führung. Darüber hinaus gehen gut ein Viertel der Wahlberechtigten überhaupt nicht zur Wahl (es ist zu befürchten, dass es bei der nächsten noch mehr sein werden).

Zu viel Macht bei Parteien

Man kann über diesen Verfall der politischen Kultur jammern, aber sich auch überlegen, was möglich wäre, um die Situation zu verbessern. Zumindest drei Maßnahmen könnten eine Verbesserung mit sich bringen. Sie wären nicht leicht umzusetzen, aber es wäre auch nicht unmöglich, denn sie sind in anderen Ländern bereits realisiert.

Die erste wäre eine Stärkung des Einflusses der Bürgerinnen und Bürger auf der Aufstellung politischer Kandidatinnen und Kandidaten sowie des Persönlichkeitswahlrechts. Hier liegt die Macht noch viel zu stark bei den vom Staat üppig geförderten Parteien. Diese bestimmen, wer auf die Wahllisten kommt, und das Wahlvolk kann dann nur noch ankreuzen.

In beiderlei Hinsicht wäre eine viel stärkere Mitbestimmung der Parteimitglieder und der gesamten Bevölkerung denkbar. Bei der Wahl selbst könnte man die Vorzugsstimmenvergabe an eine Person von der Wahl einer Partei abkoppeln (wie in Deutschland). Geschwächt und reduziert würden durch diese Maßnahme Parteinetzwerke und innerparteiliche Machtkämpfe.

Eine zweite Maßnahme wäre eine Wahlpflicht. Eine solche gab und gibt es in vielen Ländern (etwa Australien, Bolivien, Brasilien, Belgien, Italien). In Österreich bestand sie kurzzeitig bei Bundespräsidentenwahlen, wurde jedoch wie in anderen Ländern wieder abgeschafft. Analysen zeigen, dass die Wahlbeteiligung bei einer Wahlpflicht signifikant höher ist (auch wenn kaum Strafen verhängt werden).

Eine Wahlpflicht erscheint besonders angebracht aufgrund der Tatsache, dass die Wahlbeteiligung bei jungen Menschen deutlich niedriger ist. Das Argument, eine Wahlpflicht bedeute eine unhaltbare Einschränkung der persönlichen Freiheit, ist nicht stichhaltig. Wählen zu gehen oder per Briefwahl zu wählen, bedeutet nur einen minimalen Aufwand. Es gibt viele andere Lebensbereiche, in denen die Teilnahme verpflichtend und viel gravierender ist (etwa Schulpflicht, Wehr- oder Ersatzdienstpflicht, Verpflichtung zu bestimmten Gesundheitsuntersuchungen und Ähnliches).

Klare Regelungen

Eine dritte, ebenfalls international schon viel stärker durchgesetzte politische Reform wäre die Stärkung der direkten Demokratie. Viele grundlegende Fragen, bei denen viele verschiedene Aspekte relevant sind und eine Ja/Nein-Entscheidung möglich ist, würden sich dafür eignen. Man denke an die Frage der Neutralität beziehungsweise der militärischen Verteidigung, effiziente Maßnahmen zur Bekämpfung von Erderwärmung und Treibhausgasausstoß, Föderalismus- und Demokratiereform und vieles mehr.

Die Erfahrung der Schweiz zeigt, dass in einer starken direkten Demokratie die öffentliche politische Diskussion und die Beteiligung der politisch interessierten Bürger stärker und die Zufriedenheit mit dem politischen System höher sind. Demagogischer Missbrauch der direkten Demokratie kann ausgeschaltet werden, wenn klare Regelungen für die Initiierung und Durchführung von Volksabstimmungen bestehen und eine objektive Information durch die Regierung erfolgt.