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Wenn die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am heutigen Dienstag Russlands Präsident Wladimir Putin trifft, wird Anna Politkowskaja nicht im Mittelpunkt stehen. Und wenn kommende Woche die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem informellen Gipfel in Finnland mit Wladimir Putin zu Abend speisen, wird sich das Gespräch ebenso wenig um die ermordete russische Journalistin drehen.
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Vielmehr geht es in Berlin und Lahti ums Geschäft. Mit seinen Öl- und Gasmilliarden will sich Russland in europäische Unternehmen einkaufen - und hat die besten Chancen dafür. Das Angebot an Deutschland lautet: Auto-, Chemie- oder Maschinenbaukonzerne dürfen sich künftig stärker auf dem russischen Markt engagieren. Dafür will sich Russland an deutschen Elektrizitätswerken, Autozulieferern oder Flugzeugbauern beteiligen.
Um mit Europa zu verhandeln, braucht Moskau nur auf den steigenden Energiebedarf zu verweisen. Schon jetzt bezieht die EU von Russland ein Viertel der Erdgaslieferungen, Österreich sogar 60 Prozent. Der weltgrößte Gaslieferant Gazprom hält eine Vielzahl von Beteiligungen in der EU, zuletzt hat er eine engere Kooperation mit dem italienischen Gaskonzern Enel vereinbart. Und Hauptsponsor des deutschen Fußballklubs Schalke 04 ist Gazprom auch gerade geworden.
Wo Milliardensummen fließen - und die Abhängigkeit von Importen stark ist - bleibt wenig Raum für die Auseinandersetzung mit Menschenrechten. So fassen auch die meisten Wirtschaftstreibenden - und Politiker - ihren Job auf.
Doch auch Anna Politkowskaja hat nur ihren Job gemacht. Wie die 63 Journalisten, die im Vorjahr weltweit ums Leben gekommen sind; wie die 100 Journalisten, die in den letzten drei Jahren im Irak getötet wurden. Politkowskaja ist aber nicht bei Kampfhandlungen umgekommen. Sie hat berichtet, was sie gesehen hat, in Tschetschenien. Sie hat über Korruption im Kreml geschrieben. Und sie hat klargemacht, dass sie Putin nicht als "lupenreinen Demokraten" sieht wie der deutsche Altkanzler Gerhard Schröder. Bezahlt hat sie ihre Arbeit mit einer Hinrichtung vor ihrer Wohnungstür in Moskau.
Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist Russland zu einem der gefährlichsten Plätze für Journalisten geworden. In den letzten sechs Jahren wurden dort mehr als ein Dutzend Medienleute umgebracht. Im Auftrag der Mafia, des Geheimdienstes? Aufgeklärt wurde bisher kein einziger Fall. Der Mord an der weit über die Grenzen ihres Landes bekannten Politkowskaja ist eine Warnung an andere mutige Journalisten in Russland: Kommt den Politikern und Wirtschaftsbossen nicht in die Quere.
"Sorge über den Stand der Meinungsfreiheit" in Russland äußern die Regierungschefs und Außenminister der EU-Staaten. Sie fordern Respekt vor Menschenrechten und demokratischen Grundwerten ein. Es bleibt bei Worten. Für Taten läuft das Geschäft mit Russland zu gut. Seite 8