EU-Kommission und -Parlament drängen Mitgliedstaaten zu einem Beschluss zur Flüchtlingsverteilung.
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Brüssel. Leicht dahingesagt war es sicher nicht. Zwar warnen Politiker oft vor dem Scheitern von Projekten, die sie für wichtig erachten und gegen die sich Widerstand regt. Doch Frans Timmermans ist nicht ein Mann der unbedachten Worte. Der Vizepräsident der EU-Kommission kann seinen Standpunkten äußerst eloquent Ausdruck verleihen - wenn es sein muss, mühelos in mehreren Sprachen. Die Botschaft, die der Niederländer bei einem Auftritt im EU-Parlament in Brüssel vermittelte, war denn auch klar: Falls sich die Mitgliedstaaten bei der Suche nach Lösungen für die Flüchtlingskrise nicht einigen, ist das Bestehen der Gemeinschaft in Gefahr. "Wir werden scheitern, wenn wir weiterhin gespalten bleiben", sagte Timmermans.
Wie in der Vorwoche Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wies sein Stellvertreter darauf hin, dass der Winter naht, was die Unterbringung von Schutzsuchenden zu einer noch dringlicheren Aufgabe macht. Deswegen müsse die EU handeln. Wenn sie dies nicht meistere, "wird das zu menschlichem Leid für die Flüchtlinge führen, zu politischen Unruhen in den Mitgliedstaaten, zu Spannungen zwischen den EU-Ländern". Und das könne sich Europa nicht leisten.
Dennoch bleibt die Kluft zwischen den Mitgliedern tief. Am Montag konnten sich die Innenminister bei einem Treffen in Brüssel nicht auf die Unterbringung von 120.000 Menschen in der EU einigen; sie verständigten sich lediglich darauf, innerhalb von zwei Jahren 40.000 Asylwerber von Griechenland und Italien aus umzusiedeln.
Doch die Fixierung eines Verteilungsschlüssels, nach dem im Notfall auch künftig Schutzsuchende unter den EU-Ländern aufgeteilt werden, bleibt derart umstritten, dass ein Konsens derzeit nicht in Sicht ist. Einige ost- und mitteleuropäische Staaten schließen eine Quotenregelung kategorisch aus.
So gab sich der slowakische Ministerpräsident Robert Fico im Abgeordnetenhaus in Bratislava einmal mehr kämpferisch. Sein Kabinett werde alle legalen Mittel ausschöpfen, um die Festlegung eines EU-weiten Schlüssels zur Flüchtlingsverteilung zu verhindern - selbst wenn dieser von den anderen Mitgliedern mit einer Mehrheit beschlossen würde. "Keiner kann uns vorschreiben, was wir zu tun haben", befand Fico.
Diesen Satz verwendet auch Ungarns Premier Viktor Orban gern. Das Quotensystem ist für ihn schlicht "dumm", weil es keine Lösungen bringe. Stattdessen müssen der Grenzschutz und die Abwehr unerwünschter Einwanderer Priorität genießen, findet die Regierung in Budapest.
Wie sein tschechischer Amtskollege warnt Orban vor "Terroristen", die sich unter die Flüchtenden mischen könnten. Drastisch formulierte es Fico: Die EU sei angesichts des "Ansturms hunderttausender Migranten kein sicherer Ort mehr".
Polen: "Gemeinschaft verpflichtet"
Ängste zerstreuen wollte hingegen die polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz. In Warschau, ebenfalls im Parlament, versicherte sie, dass die Sicherheit ihrer Landsleute nicht gefährdet sei und weiterhin im Vordergrund stehe. Daher halte sich ihr Kabinett das Recht vor, aufzunehmende Flüchtlinge zu überprüfen. Gleichzeitig betonte Kopacz aber, dass das Sein in einer Gemeinschaft auch Verpflichtungen mit sich bringe: "Wenn wir uns heute mit dem Rücken zu jenen wenden, die Hilfe brauchen, ist das eine Abkehr von der Gemeinschaft der EU."
Das könnte ein Signal an die EU-Partner sein, dass sich Warschau in der Debatte um die Flüchtlingsunterbringung einer gewissen Flexibilität nicht verschließt. Zwar lehnt auch dort die Regierung eine verpflichtende Quote ab, und das wird sich in der hitzigen Phase der Kampagne vor der Parlamentswahl Ende Oktober nicht ändern. Doch hat Polen schon deklariert, auf freiwilliger Basis einige tausend Flüchtlinge aufzunehmen.
So ist es unwahrscheinlich, dass die Einführung eines fixen Verteilungsschlüssels auf der Agenda des Treffens der Innenminister stehen wird, die am kommenden Dienstag erneut zu einer außerordentlichen Sitzung zusammenkommen. Vielmehr sollen sich die Politiker - ohne eine Festlegung auf eine verbindliche Quote - auf die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen, vor allem aus Syrien und dem Irak, einigen. Eine Mehrheit der Staaten stimme dem zu, stellte der luxemburgische Außen- und Immigrationsminister Jean Asselborn schon klar. Sein Land hat derzeit den EU-Vorsitz inne. Eine qualifizierte Mehrheit würde denn auch für eine Entscheidung ausreichen, Einstimmigkeit ist nicht nötig.
Ein Sondergipfel mithohem Risikofaktor
Allerdings schien schon vor dem Ministertreffen klar zu sein, dass die Sitzung eine Vorbereitung auf einen Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs sein wird. Zwar will EU-Ratspräsident Donald Tusk erst am heutigen Donnerstag offiziell seine Entscheidung bekannt geben, ob er Einladungen an die Spitzenpolitiker versenden wird. Doch der Druck, Lösungen für die Flüchtlingskrise auf höchster Ebene zu suchen, ist unter anderem durch den Appell Deutschlands und Österreichs verstärkt worden. Tusk ist sich allerdings bewusst, dass ein Gipfeltreffen auch ein Risiko in sich trägt: das des Scheiterns nämlich. Zu ihren Schlusserklärungen sollten die Staats- und Regierungschefs im Konsens gelangen - und von dem sind sie weit entfernt. Daher wird wohl zumindest das Quotenthema aus der Debatte ausgeschlossen werden müssen.
Daneben müht sich das EU-Parlament, die Mitgliedstaaten zu einer Einigung zu bewegen. Parteiübergreifend forderten Abgeordnete einen schnellen Beschluss zur geplanten Verteilung der 120.000 Asylwerber. Im Eilverfahren wird die Volksvertretung heute, Donnerstag, über die Notfall-Maßnahmen abstimmen - und diese wohl befürworten.