Wollen die Staaten Europas den Kampf gegen den Dschihadismus gewinnen, müssen sie mit den gemäßigten arabischen Staaten eng zusammenarbeiten.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Mit dem gerade zu Ende gegangenen Wiener Terrorprozess ist erneut der Gesamtkomplex der Frage nach dem religiös motivierten islamistischen Terrorismus in den Fokus des Interesses gerückt. Nun werden alle relevanten Expertinnen und Experten, darunter auch namhafte Partnerinnen und Partner des interreligiösen Dialogs auf Seite der katholischen Kirche, darauf hinweisen, dass bereits im Jahr 2004, in der "Botschaft aus Amman" 522 hochrangige islamische Gelehrte und Persönlichkeiten auf Einladung des jordanischen Königs Abdullah II. eine Erklärung unterzeichneten, die Toleranz und Einheit in der muslimischen Welt forderte und den Extremismus zurückwies. Der bis heute lesenswerte und relevante Text (nachzulesen unter https://ammanmessage.com) sollte in gewisser Weise für die ja leider in Österreich so oft uninformierte Debatte als Orientierungspunkt gelten.
Beim Versuch, den jüngst oft zitierten sogenannten politischen Islam und den religiös motivierten politischen Extremismus zu analysieren, ist es angezeigt, mit offenen, international zugänglichen Daten des "Arab Barometer" und des "World Values Survey" diese beiden Phänomene einer wissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen. Abseits der Konfrontationen, die zum politischen Islam in den Medien bestehen, gibt es einen sehr breiten Konsens in der Forschung in den führenden Peer-reviewed-Journalen der Sozialwissenschaften und bei den Publikationen der führenden Buchverlage der Welt darüber, wie mit diesem Konzept zu arbeiten wäre, wobei dieser analytisch-begriffliche Konsens auch jene einschließt, die, wie der frühere US-Präsident Barack Obama in seiner "Presidential Study Directive Nr. 11", im politischen Islam, der den Terrorismus ablehnt, sogar eine Chance der Zusammenarbeit sehen. Der französische Soziologe François Burgat plädiert offensiv und explizit für eine Allianz des politischen Islams mit der politischen Linken des Westens.
Die oft zitierten Studien, die sich explizit auf den politischen Islam beziehen, sowie auch Pressestimmen aus solchen Informationskanälen wie der arabischen Fernsehstation Al-Jazeera in ihren englischsprachigen Programmen sahen - und jede und jeder kann’s im Internet nachlesen - den politischen Islam explizit und sehr differenziert und kritisch. Sie zeigen, dass die Skepsis bis hin zur Diskussionsverweigerung, über den politischen Islam überhaupt zu sprechen, insbesondere im deutschsprachigen Europa, einfach unbegründet ist.
Alle Studien und auch Pressestimmen aus der arabischen Welt stimmen darin überein, dass Organisationen wie die Muslimbruderschaft, die Hamas, die tunesische Ennahda, das abgelöste Militärregime im Sudan oder die politischen Kräfte in der Türkei, die sich auf den früheren Premier Necmettin Erbakan (1926 bis 2011) berufen, mit Fug und Recht als politischer Islam bezeichnet werden. Die restriktiven Gendernormen, die laut dem "Human Development Report 2019" des UN-Entwicklungsprogramms UNDP ein wesentliches Entwicklungshindernis darstellen und mit dem politischen Islam interagieren, dürfen dabei nicht übersehen werden.
Die Terroristinnen und Terroristen der dschihadistischen Strömungen sowie der politische Islam der Muslimbruderschaft und der Hamas divergieren in vieler Hinsicht, aber sie teilen mit ihnen die Forderung nach der Wiedererrichtung des Kalifats sowie den virulenten Antisemitismus und den Hass auf den Staat Israel, den sie von Sayyid Qutb (1906 bis 1966), dem Theoretiker der ägyptischen Muslimbruderschaft und einem der bedeutendsten islamistischen Ideologen des 20. Jahrhunderts, übernommen haben.
Das arabische Wertesystem
Der politische Islam wäre künftig strikt nach jenen Kriterien zu analysieren, wie sie explizit im "Arab Barometer", dem wichtigsten arabischen Meinungsforschungsprojekt in der Welt von heute, genannt werden. Wie stark ist nun die Unterstützung für den politischen Islam in der arabischen Welt, und welche Evidenz bietet uns dazu der "Arab Barometer", der nota bene unter anderem von der Universität Katar unterstützt wird, der man ja beileibe nicht Islamophobie vorwerfen kann? Hätte das Volk der gesamten arabischen Welt bei einem Referendum eine freie Stimme, so erhielten die folgenden Regeln, Meinungen und Vorschriften jeweils eine absolute Mehrheit:
Eine Frau darf nicht mit einem Mann verheiratet sein, der nicht betet.
Terrorismus gegen die USA ist eine logische Folge der Einmischung der USA in die Region.
Männer sind bessere politische Führer.
Die USA, Großbritannien und Israel stellen die größte Bedrohung für die Stabilität und das Wohlergehen der Region dar.
Immerhin mehr als ein Drittel der arabischen Weltbevölkerung stimmen laut "Arab Barometer" den folgenden Behauptungen zu:
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist (sehr) gut.
Das Land wäre besser dran, wenn religiöse Führer im Amt wären.
Für eine Scharia, die körperliche Strafen anwendet.
Religiöse Praxis ist keine Privatsache.
Eine Frau kann keine Premierministerin oder Präsidentin sein.
In der Gesellschaft sollten die Rechte von Nicht-Muslimen minderwertiger sein.
Religionsführer sollten Regierungsentscheidungen beeinflussen.
Menschen mit einer anderen Religion sind als Nachbarn abzulehnen.
Die Scharia sollte die Rolle der Frau einschränken.
Religiöse Führer sind nicht so korrupt wie nicht-religiöse Führer.
Nur die folgenden Positionen sind echte Minderheitenmeinungen, die von weniger als einem Drittel der gesamten befragten arabischen Bevölkerung unterstützt werden:
Religiöse Führer sollten sich in Wahlen einmischen.
Die Universitätsausbildung ist für Männer wichtiger als für Frauen.
Frauen haben nicht die gleichen Rechte, um die Entscheidung zur Scheidung zu treffen.
Stärkere wirtschaftliche Beziehungen zum Iran werden präferiert.
Wollen die Staaten Europas den Kampf gegen den Dschihadismus gewinnen, müssen sie mit den gemäßigten arabischen Staaten wie Ägypten, Jordanien, Marokko, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und anderen arabischen Golfstaaten eng zusammenarbeiten - und sich dessen bewusst sein, dass bevölkerungsgewichtet 41 Prozent aller Araberinnen und Araber die Muslimbruderschaft, die die stärkste und kohärenteste Kraft des politischen Islam darstellt, negativ oder sehr negativ beurteilen.
Arno Tausch lehrt Politikwissenschaften an der Corvinus Universität in Budapest und an der Universität Innsbruck. Er war unter anderem an der österreichischen Botschaft in Warschau tätig. Demnächst erscheint sein neues Buch "The Future of the Gulf Region" im Verlag Springer.