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Politisches Erdbeben im zerrissenen Belgien

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Kaum lösbare Differenzen mit Wallonen. | Verhandlungen über Koalition werden schwierig. | Brüssel. Schon seit Jahren driftet Belgien politisch immer weiter auseinander. Doch die Parlamentswahlen am Wochenende gleichen einem Erdbeben in der Parteienlandschaft, das zu andauernder Lähmung und Unregierbarkeit führen könnte. Zumindest viele Monate dauernde und schwierige Koalitionsverhandlungen werden erwartet. Denn erstmals hat mit der Neuen Flämischen Allianz (N-VA) eine Liste gewonnen, die sich dezidiert für die Unabhängigkeit des größeren Landesteils Flandern einsetzt. Wer mit der Regierungsbildung beauftragt wird, liegt jetzt im Ermessen von König Albert II.


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So ließ N-VA-Chef Bart de Wever nach seinem Sieg zwar moderatere Töne hören als noch im Wahlkampf. Er wolle "den Frankophonen die Hand reichen", erklärte er. Niemandem sei geholfen, wenn das Land weiter blockiert werde. Erster Ansprechpartner, um "institutionelle und finanzielle Ordnung zu schaffen", seien die im Süden siegreichen Sozialisten (PS). Doch im französischsprachigen Wallonien überwog Skepsis an der neuen Kooperationsbereitschaft der Separatisten. PS-Vorsitzender Elio di Rupo räumte immerhin Dialogbereitschaft bezüglich einer grundlegenden Staatsreform ein - einer Hauptforderung der Flamen.

Er verwies allerdings auch darauf, dass die sozialistische Parteienfamilie - also die PS gemeinsam mit der flämischen sp.a - seit 20 Jahren wieder die stärkste politische Kraft Belgiens darstelle. Dass er "in diesem historischen Augenblick der Verantwortung gerecht werden" will, wird allgemein als Ambition Di Rupos auf den Posten des künftigen belgischen Premiers gewertet. Ihm das zu gewähren, könnte auch De Wevers erstes Zugeständnis sein. Er selbst hat bisher keinen Anspruch auf das Amt geäußert.

Ringen ums Geld

Doch dass das Schicksal Belgiens jetzt in den Händen dieser beiden Wahlsieger liegt, wie der flämische "Standaard" schreibt, klingt nicht ermutigend. Denn De Wever und Di Rupo sind politisch zwei einander abstoßende Magnete: Der Flame drängt auf eine rasche Aufspaltung des letzten gemischtsprachigen Wahlbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV). Daran war schon die bisherige Regierung des flämischen Christdemokraten Yves Leterme gescheitert. Dann verlangt De Wever eine Regionalisierung der Sozialversicherung, um die milliardenschweren Transferleistungen des Nordens in den ärmeren Süden einzudämmen. Auch ein strikter Sparkurs zur Begrenzung der enormen Staatsverschuldung Belgiens von fast 100 Prozent der Wirtschaftsleistung steht auf seiner Agenda.

Di Rupo beharrt im Gegensatz dazu auf Sonderrechten der frankophonen Bewohner von BHV, was einer raschen Aufteilung entgegensteht. Er lehnt die Trennung der Sozialversicherungen ab und pocht auf die Solidarität Flanderns mit Wallonien. Im Wahlkampf hat er statt Sparkurs die Ausweitung von Sozialleistungen versprochen.

Eine Einigung zwischen den Wahlgewinnern wäre daher ein politisches Wunder, hieß es mehrfach. Gelänge es, müssten immer noch drei bis vier weitere Parteien in die Koalition einbezogen werden - für einen Staatsreform ist eine Zweidrittelmehrheit nötig. Als eine Version kursierte eine Spiegelung der derzeitigen Regierungen in den Landesteilen auf Bundesebene. Das bedeutete die Regierungsbeteiligung der flämischen Sozialisten und Christdemokraten (CD&V) sowie der wallonischen Christdemokraten (CdH) und Grünen. Gelänge dieser Kunstgriff nicht, wäre Belgien wohl einen weiteren Schritt in Richtung seiner Auflösung innerhalb der nächsten 30 bis 40 Jahre gegangen.